Batumis verblasster Glanz

Reportage
zuerst erschienen im Juni 2009 in NZZ Folio

Mit einer Muschel, die eigentlich eine Schnecke war, begann in Georgiens Hafenstadt der moderne Ölhandel. Auch was die Zukunft angeht, liegen die Dinge hier etwas im Unklaren.

Batumi ist eine der kleinsten Städte am Schwarzen Meer, eine Hafenstadt in Georgien, einem der kleinsten der Anrainerstaaten. Die Küstenlinie biegt sich wie ein Angelhaken um eine flache Halbinsel voller Dattelpalmen. Im Norden liegen Hafen, Markt und Bahnhof, Busfahrer hupen, Hausfrauen verkaufen Schmalznudeln, die Kanalisation wird aufgerissen. Im Süden, in der historischen Altstadt, geht es ruhiger zu, in den klassizistischen Häusern sitzt die Verwaltung, Theater und Museen strahlen auch werktags Sonntagsruhe aus. Noch weiter südlich liegen die Strände aus Sand mit mittelgrossen, dunkelgrauen Kieseln. Die neu­erbauten Hotels und Restaurants stehen noch etwas einsam in der Gegend herum, die frisch gepflanzten Palmen müssen noch etwas wachsen.

„Wir setzen auf Tourismus“, sagt Irakli Goradze, Direktor des Departements für Internationale Angelegenheiten der Regierung der Autonomen Republik Adscharien. An diesem umständlichen Titel ist die verwirrende jüngere Geschichte Georgiens schuld. Es gibt drei autonome Republiken in Georgien: ­Abchasien, Südossetien und eben Adscharien, in dem sich Batumi befindet. Die beiden ersten haben sich nach von Russland unterstützten Bürgerkriegen 1993 beziehungsweise 2008 für unabhängig erklärt und führen heute ein fragiles selbständiges Leben als De-facto-Staaten, die nur von Russland, Nicaragua, Transnistrien und der Hamas-Regierung im Gazastreifen anerkannt werden.

Adscharien hatte sich aus dem bürgerkriegsähnlichen Chaos in Georgien Anfang der 1990er Jahre herausgehalten; ungestört hielt sich ein gewisser Aslan Abashidze an der Macht, seine selbstherrliche, korrupte Regierung wurde nach Massenprotesten und dem Druck der sogenannten Rosenrevolution gestürzt. Abashidze wurde ins Exil nach Moskau vertrieben und in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft wegen Veruntreuung verurteilt. Dem damaligen Helden der Rosenrevolution und heutigen umstrittenen Präsidenten Micheil Saakaschwili gelang es, die Provinz Adscharien zurück nach Georgien zu locken, zum Preis einer gewissen Autonomie, der die Region ein eigenes Parlament und Irakli Goradze seinen imposanten Titel verdankt.

„Wir haben über eine Million Besucher im Jahr. Die meisten sind Einheimische, aber auch viele Armenier und Türken“, sagt Goradze. 2008 war ein schlechtes Jahr. Der Krieg mit Russland um Südossetien hat viele Reisende abgeschreckt.

Wenn man vom Strand landeinwärts blickt, sieht man die mit Schnee bedeckten Gipfel des Niederen Kaukasus, geologisch den Alpen ähnlich, also ein im Tertiär aufgeworfenes Faltengebirge, jedoch ohne Gletscher. An den Flanken des Küstengebirges leben Bären, Wölfe, Gemsen, Adler und Steinböcke im Regenwald, der von den vom Meer aufsteigenden Nebeln befeuchtet wird. Es ist der grösste gemässigte Regenwald Europas – wenn man Georgien zu Europa zählt.

Präsident Saakaschwili lässt daran keinen Zweifel: „Wir waren Teil der griechischen Zivilisation, wir waren Teil von Byzanz, wir sind christlich seit dem vierten Jahrhundert. Jeder Georgier sagt, dass er Europäer sei. Es gibt keine Alternative zur EU-Mitgliedschaft.“ Noch ziert sich aber die EU. Georgien ist wie alle Schwarz- und Mittelmeerländer dem Programm Europäische Nachbarschaft angeschlossen, das einen „Ring stabiler, befreundeter Staaten” um die EU bilden soll. Das Europäische Parlament schickte Experten zur Rechtsangleichung, überwies 500 Millionen Euro Hilfsgelder für den Wiederaufbau nach dem russisch-georgischen Krieg im letzten Jahr. Doch noch ist Georgien trotz allen Beschwörungen Saakaschwilis kein EU-Beitrittskandidat. Da hilft es auch nicht, dass in Dmanisi im Süden Georgiens 1,8 Millionen Jahre alte Knochen des Homo habilis gefunden wurden, die ersten Knochen dieser Spezies ausserhalb Afrikas. Damit wäre der älteste Europäer ein Georgier.

„Wir hatten ein Expertenteam aus Österreich im Niederen Kaukasus“, fährt Goradze fort. „Die Berge würden sich ausgezeichnet für den Wintersport eignen – wenn Wege, Hütten und Verpflegungsmöglichkeiten ausgebaut würden”, sagt er. Einst war die gesamte Schwarzmeerküste von Sotschi bis Batumi ein ungeteiltes Ferienziel und Georgien eine der reichsten Republiken der UdSSR. Nach deren Zerfall geriet Georgien in die schwerste Krise aller Nachfolgestaaten: Hyperinflation um tausend Prozent, Bürgerkrieg, Verlust zweier Provinzen, hunderttausend Tote.

Georgien liegt zwischen zwei Gebirgszügen, dem Hohen Kaukasus und dem Niederen Kaukasus – es ist wie ein dialektisches Einerseits-Andererseits. Einerseits: Die Weltbank verlieh Georgien 2007 nach radikalen Marktreformen und anhaltendem Wirtschaftswachstum von knapp zehn Prozent den Titel „Reformer des Jahres 2007“. In den letzten drei Jahren kletterte Georgien von einem sehr schlechten 130. Platz in der Korruptionsliste von Transparency International auf den 60. Rang und befindet sich nun im Mittelfeld. Inzwischen werden, bisher war das eher unüblich, Steuern bezahlt. 2005 verdoppelten sich die Einnahmen des Staates aus dieser Quelle.

Andererseits: Georgien hat die höchste Arbeitslosenquote aller postsowjetischen Länder, in der Hauptstadt ­Tiflis liegt sie angeblich bei 40 Prozent – angeblich, weil Arbeitslosenstatistiken davon abhängig sind, wie man ­Arbeitslose definiert. Bauern – über die Hälfte der Georgier arbeiten in der Landwirtschaft – gelten in der georgischen Statistik als eigenständige Unternehmer und können gar nicht arbeitslos sein. Die Minimalrente beträgt 38 Lari, das sind 26 Franken. Das ist selbst in Georgien so wenig, dass es fast nichts ausmacht, dass sie nur unregelmässig ausgezahlt wird.

Und nun auch noch die Wirtschaftskrise. Auch hier ist sie wohl angekommen, aber man weiss nicht genau, wo. „Ich habe noch nichts bemerkt von der Krise“, sagt Irakli Goradze. „Im Hafen warten wie eh und je Schiffe darauf, gelöscht zu werden. Ich habe auch nicht festgestellt, dass die Arbeitslosenzahlen in Batumi gestiegen sind.“ Bei 26 Prozent Arbeitslosigkeit im Landesdurchschnitt fällt das vielleicht auch nicht so auf.

Einst war Georgien das Sonnenkind unter den Sowjetrepubliken. Bauern flogen mit Körben voll praller Pfirsiche nach Moskau und kehrten reich zurück. Im subtropischen Klima gedeihen ausserdem Zitrusfrüchte, Orchideen, Tee. Doch 1992 brach ein lange schwelender ethnischer Konflikt in Abchasien auf, georgische Truppen kämpften gegen die von Russland unterstützten Separatisten. 20 000 Tote, eine Viertelmillion vertriebener Georgier. Der Krieg flammte 1998 und 2001 erneut auf.

Im Frühjahr 2006 verhängte Georgiens wichtigster Handelspartner Russland einen Importstop für Wein und landwirtschaftliche Produkte aus Georgien, 2008 wurde nach dem Krieg um Südossetien die Grenze entlang dem Hohen Kaukasus zum mächtigen Nachbarn geschlossen und wurden die diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Das Bruttosozialprodukt Georgiens sank daraufhin um vier Prozent. In keinem Land der Welt wuchs der Verteidigungshaushalt 2007 so stark wie in Georgien.

Einfach zu durchschauen sind die Beziehungen nicht: Für eine russische Pipeline nach Armenien erhält Georgien als Transitland zehn Prozent des Gases. Die Tankstellennetze sind in russischem Besitz, dafür liefert Georgien neuerdings Strom nach Russland; bisher war es andersherum. Georgische Gastarbeiter in Russland überweisen Millionen von Dollars nach Hause – laut russischer Zentralbank 142 Millionen Dollar im ersten Quartal 2008. War Russland 2005 noch der grösste Handelspartner, fiel es 2008 auf den fünften Rang, hinter die Türkei, Aserbeidschan, die Ukraine und Deutschland.

Russisch wird überall häufig und gern gesprochen, die alten russischen Filme und Videos russischer Popstars werden weiterhin gesehen. 2008 lag ein Georgier in einer Abstimmung des russischen Staatssenders Rossija TV lange Zeit auf dem ersten Platz bei der Wahl zum grössten Russen aller Zeiten – nach Protesten wurde der Diktator Josef Stalin schliesslich knapp Dritter.

Stalin ist in Batumi ein skurriles Museum gewidmet. Eine rührige Dame leitet das Dreizimmermuseum an der Puschkinstrasse, es gibt ein paar Ölbilder im heroischen Stil, ein bisschen Geschirr aus seiner Zeit, drei nachgebaute Betten und als einziges originales Relikt ein zerschlissenes Handtuch, es sieht aus wie gehäkelt, so zahlreich sind die Löcher. Es ist also kein richtiges Stalin-Museum, wie in ­dessen Geburtsstadt Gori, 200 Kilometer landeinwärts, sondern eigentlich ein Stalins-Handtuch-Museum. Jahrhundertelang war das Land nach Norden, nach Russland ausgerichtet. Das hat sich komplett geändert. Die Zukunft Georgiens liegt nun auf der anderen Seite, in der Türkei.

Es ist eine lockere Grenze, die Zöllner sind freundlich, die Abfertigungszeiten kurz. Stündlich passieren Busse auf der Strecke Istanbul–Baku den kleinen Grenzort Sarpi. Die Türken kommen gern nach Batumi, um zu spielen. In der Stadt gibt es sicher mehr als hundert Pokerclubs, Wettbüros und glamourfreie Spielsalons: Leuchtstoffröhren an der Decke, schmutzige Fussböden, herbe Kellnerinnen, keine Musik, keine Toiletten. In Batumi ist Glücksspiel erlaubt, um den Tourismus anzukurbeln.

Batumi ist die östlichste Stadt am Schwarzen Meer und nach der Hauptstadt Tiflis die reichste Georgiens. Dennoch ist das Gefälle zum ewigen EU-Kandidaten Türkei deutlich. „Ich fahre oft nach Trabzon“, erzählt ein Amerikaner, den es nach Batumi verschlagen hat, seinen Geschäftsfreunden im „Marseillaise”, einem guten Fischrestaurant am Hafen. „Da gibt es ein Kino, das Hollywoodfilme in der Originalfassung bringt, und einen ‚Burger King’. Mein Sohn lacht mich aus: Was? Du fährst drei Stunden für einen Hamburger?” In Batumi begnügt man sich mit Chinkali, das sind grosse Ravioli, und Chatschapuri, einem ruderbootförmigen Hefefladen mit Käse und Ei. Dazu trinkt man „Limonad“. Georgien scheint das einzige Land der Welt zu sein, in dem Coca-Cola und Pepsi nicht gegen die einheimische Brause ankommen. „Cola schmeckt immer gleich“, versucht Irakli den georgischen Eigensinn zu erklären. „Unsere Limonade gibt es in vielen Geschmacksrichtungen.” Eine weitere georgische Sonderheit sind die Öffnungszeiten einiger Gaststätten. Sie schliessen abends um sechs. Denn dann geht man schliesslich nach Hause zum Nachtessen.

Das Nobel Technical Museum am Stadtrand bewahrt die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit Batumis. Vor hundert Jahren wurde hier ein Fünftel des Erdöls weltweit umgeschlagen, 20 Länder waren in der Stadt mit Konsulaten vertreten. Batumi war ein mondäner, luxuriöser Ort. Um 1880, in der Zeit des ersten Ölbooms – es ging dabei um Lampenöl, Benzinmotoren waren noch sehr selten –, wurde Erdöl per Bahn vom Kaspischen Meer nach Batumi transportiert und von dort weiter nach Europa.

1892 verliess die „Murex“, der erste moderne Öltanker der Welt, den Hafen Batumi. Das nach einer Purpurschnecke benannte Schiff hatte vom Versicherer Lloyd’s die höchste Sicherheitsstufe bekommen und durfte deshalb den Suezkanal durchqueren, um den asiatischen Markt zu erobern. Es war der Beginn der heute zweitgrössten Handelsgesellschaft der Welt mit einem Jahresgewinn von 26,3 Milliarden Dollar und 112 000 Angestellten in 140 Ländern: Shell. Im Nobel Technical Museum am Stadtrand Batumis steht einer der alten Kanister mit dem ursprünglichen Shell-Logo. Bis heute werden alle Shell-Tanker nach Muscheln benannt, wie einst die „Murex“, die eigentlich eine Schnecke ist und mit der alles begann.

Die Ölbarone, die Nobels, Rothschilds und Samuels, sind längst aus Batumi verschwunden. In den Ausläufern des Niederen Kaukasus, zwischen Feigenbäumen, verwilderten Teeplantagen und gelbgrün schimmerndem Bambus, stehen noch ein paar ihrer Jugendstilvillen. Heute fliesst das kaspische Öl, an normalen Tagen eine Million Barrel, mit zwei Metern pro Sekunde durch die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline. Die mit 1768 Kilometern zweitlängste Ölleitung der Welt biegt weit vor Batumi im georgischen Inland nach Süden und endet am türkischen Mittelmeer.

Die 3,9 Milliarden Franken teure Pipeline sollte die Ölversorgung Europas, auf Wunsch der USA, unabhängiger von Russland, Iran und den Golfstaaten machen und gleichzeitig Aserbeidschan und Georgien enger an die Nato und die Europäische Union binden. Bill Clinton hatte 1999 mit den Präsidenten Georgiens, Aserbeidschans und der Türkei eine entsprechende Absichtserklärung unterschrieben. Im geopolitischen Machtkampf um die wichtigen Verbindungen siegte die Türkei. In Samsun, der grössten türkischen Stadt am Schwarzen Meer, endet Blue Stream, die tiefste Pipeline der Welt. Sie liefert quer durch das Schwarze Meer, unter Umgehung Georgiens, russisches Gas nach Europa.

Aus dem Süden hat das Schwarze Meer seinen Namen erhalten. Früher war auf dem Kompass der Seefahrer der Norden schwarz gekennzeichnet, und da die Mittelmeeranrainer südlich lagen, galt es als Nordmeer. Auch die geringe Sichtweite unter Wasser, nur 5 Meter statt der 35 Meter wie im Mittelmeer, verursacht durch bestimmte Algen, könnte zur Namensgebung beigetragen haben. Vielleicht ist es aber auch ganz einfach: Wer vom azurnen Mittelmeer kommt, sieht hier in ein Wasser, das blickdicht ist wie ein blinder Spiegel. Ganz genau weiss man nicht, wie alt der Name ist. Aber er ist sehr alt; der griechische Dichter Pindar verwendete ihn bereits vor 2500 Jahren.

Bei meiner Abfahrt aus Batumi wurde der Bus gekapert. Kräftige Männer ohne Gepäck stiegen zu, sie telefonierten mit ihren Handys. Nach hundert Kilometern Fahrt musste der Busfahrer anhalten. Der Ford Transit – fast der gesamte Personenverkehr Georgiens wird mit diesem Modell abgewickelt – wurde mit den Fahnen der Opposition beflaggt, ein Mann in Anzug und in einer weissen Limousine erteilte den Befehl dazu, Bodyguards in schwarzen Hemden, mit Goldketten und Sonnenbrillen, standen herum.

Unser Bus musste sich einem Konvoi aus mehreren hundert Fahrzeugen anschliessen. Die Menschen am Strassenrand winkten uns aufmunternd zu. Am nächsten Tag traf ich die Fahrgäste wieder, sie campierten in Käfigen vor dem Präsidentenpalast, um Staatschef Micheil Saakaschwili zum Rücktritt zu zwingen. Schon seit Wochen waren Proteste gegen den einstigen Helden der Rosenrevolution im Gange. Saakaschwili hatte 2003 Eduard Schewardnadse gestürzt und war darauf in den ersten freien Wahlen des Landes mit 94 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden.

Inzwischen wirft die Opposition um Nino Burdscha­nadse, die frühere Sprecherin des georgischen Parlaments, Saakaschwili vor, seine Offensive im August letzten Jahres in Südossetien habe die Russen provoziert und den Verlust der Provinz verursacht. Des weiteren habe er im Kampf gegen Armut und Korruption versagt sowie Mordpläne gegen einen Unternehmer und Präsidenten des georgischen olympischen Komitees gehegt.

Saakaschwili, der lange vor den landesweiten Protesten von Hillary Clinton für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden war, vermutet hinter all dem die Russen.