Begegnung mit Louis Chiron

Reportage
zuerst erschienen im April 2012 in Auto Classic
Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre zählte der monegassische Rennfahrer Louis Chiron zu den besten und erfolgreichsten der Welt. Ich hatte 1974 Gelegenheit, den Grandseigneur kennenzulernen.

Auf einer Reise durch Südfrankreich im Frühjahr 1974, in deren Verlauf ich Automobilmänner wie Lucien Rosengart, André Binda, Adrien Maegh und Frédéric Loiseau besuchte, lernte ich auch die Rennfahrer-Legende Louis Chiron kennen. Sein Name sagt zumindest denen etwas, die sich mit der Bugatti-Geschichte beschäftigt haben, während der Afrika-Durchquerer Loiseau, der Kunstmäzen und Automobil-Zeitschriftenherausgeber Maegh oder der Motor-Raritätensammler Binda vielen oder gar den meisten meiner Zeitgenossen kein Begriff sind. Deshalb gehe ich auf diese Herren hier nicht näher ein, so interessant deren Beiträge zur Automobilgeschichte auch sind. Und Rosengart: Frankophile Automobilliebhaber wissen zumindest, dass es einmal eine Marke dieses Namens gab. Die existierte immerhin bis 1955 und hatte ihre Existenz exakt zum gleichen Zeitpunkt begonnen, an welchem die Münchner Firma BMW in den Automobilbau einstieg: 1928. Rosengart und BMW begannen darüber hinaus mit der Produktion fast baugleicher Autos, und das war weder ein Zufall noch ein eine Plagiatsaffäre. Denn beide besaßen eine Lizenz zum Nachbau des kleinen Austin Seven, der eine für Frankreich, der andere für Deutschland.

Die eindrucksvollste Begegnung auf meiner Frankreichreise 1974 war zweifellos die mit Louis Chiron in Monte-Carlo. Vermittelt hatte sie mir der bereits erwähnte André Binda, ein Immobilienmakler und Besitzer wertvoller Automobilunikate in Nizza. Er hatte Chiron zu einer traumhaft schön gelegenen Wohnung in einem Altbau in Hafennähe verholfen – und außerdem: alteingesessene Riviera-Prominenz kennt sich halt. Zu ihr zählten beide. „Ich hätte nicht länger in einer Suite des Fürstlichen Palais wohnen können, wegen der heranwachsenden Prinzessinnen Stefanie und Caroline,“ sagte Chiron, mehr oder weniger überzeugend. Ob er flunkerte? Gute Verbindungen zum Fürstenhaus hatte er jedenfalls seit eh und je.

Um den ex-Rennfahrer Chiron zu treffen, Duzfreund seines Landesvaters Fürst Rainier III, hätte es eigentlich keiner Beziehungen oder gar konspirativer Schleichwege bedurft. Jeder in Monaco wusste damals, wo man den berühmten Monegassen am wahrscheinlichsten antraf: Bei einem Drink in der Bar des Hotel de Paris; dort, wo sich auch das Casino befindet. Chiron war in jenem Haus lange Jahre so etwas wie ein Empfangschef honoris causa, und er hatte auch zwei ebenso lukrativen Nebenjobs: als Leitender Start- und Ziel-Funktionär der alljährlichen Rallye Monte-Carlo und auch des Grand Prix sowie als Manager und Kurator der Fürstlichen Automobilsammlung. Grace-Kelly-Gatte Rainier III. besaß nämlich eine ansehnliche Kollektion feiner Oldtimer, untergebracht in einer Tiefgarage unweit der Residenz Seiner Durchlaucht. Dorthin führte mich Monsieur Chiron auch, um mir seinen getunten Mini Cooper zu zeigen, mit dem wir dann etwa 300 Meter zu seinem Domizil donnerten… eine solche Distanz zu Fuß zu gehen, wäre eines passionierten Automobilisten wie Chiron unwürdig gewesen. Egal, wie viele Whiskys on the Rocks er an der Hotelbar inzwischen getankt hatte.

Auch Feldmarschälle können irren

Louis Chiron war 74 Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Seine Großeltern und Eltern waren Winzer in der Provence gewesen. Sie hatten ihre Weine an die großen Hotels der Côte d’Azur geliefert, wo der junge Louis nicht nur von den Reichen und Aristokraten beeindruckt war, sondern vor allem von ihren Automobilen. Er nahm einen Job in einem Hotel in Monte-Carlo an und wurde eines Tages Empfangschef im Casino-Hotel de Paris. Während des Ersten Weltkrieges diente er bei der französischen Artillerie und wurde Chauffeur von Feldmarschall Ferdinand Foch. Der war von Chirons Fahrkunst allerdings enttäuscht: „Als Kraftfahrer sind Sie eine Niete… wenn der Krieg zu Ende ist, sollten Sie einen anderen Beruf ergreifen!“ Aber auch Feldmarschälle können sich irren. Durch die Vermittlung von Ernest Friderich bekam Chiron 1923 Kontakt mit Bugatti und wurde für die Molsheimer Firma Werksfahrer. Friderich war einer der einflussreichsten Berater Ettore Bugattis, ein talentierter Rennfahrer und vertrat das damals schon weltberühmte Elsässer Fabrikat in Nizza.

Bald zählte der Monegasse Chiron zu den erfolgreichsten Rennfahrern seiner Zeit. Seine schier unzähligen Erfolge auf Bugatti schließen 1928 den Sieg beim Großen Preis von Rom ein, er gewann den Grand Prix de la Marne in Reims, den Grand Prix von Italien In Monza und den von Spanien in San Sebastian. 1929 waren es die Großen Preise von Deutschland und Spanien, und in Indianapolis trat er mit einem 2,0-Liter-Delage an, mit dem er Siebenter wurde. 1930 sicherte er sich den Großen Preis von Europa in Spa-Francorchamps sowie den Großen Preis von Lyon, 1931 den Großen Preis von Monaco und – zusammen mit Achille Varzi – den Großen Preis von Frankreich.

Mit dem deutschen Rennfahrer Rudolf Caracciola gründete Louis Chiron 1933 die Scuderia CC, die über drei Alfa Romeo Monza und zwei Bugatti T.51 verfügte. Doch schon bei ihrem ersten Auftritt fiel Partner Caracciola aus: Beim Training zum Großen Preis von Monaco setzte er seinen Alfa gegen eine Mauer, wobei er sich eine schwere Verletzung an der Hüfte zuzog. Chiron machte alleine weiter, tat sich dann mit Luigi Chinetti zusammen und bestritt mit diesem die 24 Stunden von Le Mans, die sie auch gewannen. Anschließend löste sich die Renngemeinschaft jedoch auf und Chiron wurde Mitglied der Scuderia Ferrari, wie sich die Alfa-Romeo-Rennabteilung nannte. Auf Alfa Romeo gewann er 1934 den Großen Preis von Frankreich, wurde in drei weiteren wichtigen Rennen Zweiter. Auch 1935 fuhr er für die Scuderia Ferrari, unter anderem steuerte er den komplizierten Alfa Bi-motore im Berliner Avus-Rennen.

1936 holte ihn Alfred Neubauer ins Mercedes-Benz-Team. Doch er hatte Pech und erlitt einen schweren Unfall. Chiron verließ das Team wieder – der gute Stern hatte sich für den Monegassen nicht von seiner besten Seite gezeigt.

Kurz nachdem Chiron mit Rudolf Caracciola in Kontakt gekommen war, lernte er Alfred Hoffmann kennen, den Erben des Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche, der von Chirons Fähigkeiten sehr beeindruckt war: Er finanzierte einen großen Teil von Chirons Renneinsätzen. Mehr als zu seinem Mäzen Hoffmann fühlte sich Chiron aber von dessen Ehefrau Alice angezogen. Sie war eines der ersten „Boxengirls“ und bei vielen Rennen als Zeitnehmerin zu sehen. Mit Chiron zog sie von einem Rennen zum nächsten. Doch dann verliebte sich Alice in Chirons Kollegen und Konkurrenten Rudolf Caracciola, den sie 1937 auch heiratete. Eigens wegen der Liaison mit Chiron hatte sich „Baby“ Alice von Alfred Hoffmann scheiden lassen… und nun wurde sie Caracciolas Ehefrau… Der enttäusche Chiron ließ Alice höchst ungalant wissen, dass er sich künftig lieber jüngeren Frauen zuwenden werde – damit war aber auch die Freundschaft mit Caracciola beendet.

Luigi Fagiolis Powerslide

Auf Caracciola war Chiron, als ich ihn interviewte, also nicht sehr gut zu sprechen, wegen Alice Hoffmann, die sein Rivale ihm ausgespannt hatte. Er schien es noch dreieinhalb Jahrzehnte später nicht verwunden zu haben. Umso ausführlicher schwelgte er in seinen Erinnerungen, die Luigi Fagioli betrafen. Luigi Fagioli war bis 1933 der Spitzenfahrer im Maserati-Team, bevor ihn Enzo Ferrari zu seiner Alfa Romeo-Equipe abwarb. Doch schon ein Jahr später war er Mitglied der Mercedes-Benz-Mannschaft und wurde auf Anhieb Zweiter beim Großen Preis von Deutschland auf dem Nürburgring, gewann die Coppa Acerbo, die Großen Preise von Italien (zusammen mit Caracciola) und Spanien. Auch 1935 und 1936 stand er in Mercedes-Diensten, so schwer er sich stets mit Alfred Neubauers Teamorder abfand, bis er zur Auto Union wechselte. Für die Sachsen bestritt er nicht mehr als vier Rennen, weil er häufig krank war. „Fagioli hatte einen Fahrstil, den ich bewundert habe. Der Mann konnte einen Powerslide hinlegen, der halsbrecherisch wirkte…“ und Chiron zeichnete mit der Körpersprache eines echten Monegassen nach, wie der Italiener seinen Silberpfeil durch die Kurven bewegt hatte… und mit gespitzten Lippen pfiff er die Reifengeräusche nach, mit denen die Continental-Pneus 1936 auf Fagiolis Akrobatik reagierten. Die Lustige an der Unterhaltung war, dass Chiron einen Papagei besaß, der während unserer Unterhaltung auf seiner linken Schulter hockte – und Fagiolis Reifenpfeifgeräusche exakt nachahmte. Ein wunderschönes Erlebnis, das man nicht vergisst.

Wegen seines Unfalls am Nürburgring zog sich Chiron eine Weile vom Rennsport zurück. Doch 1937 gewann er noch einmal den Großen Preis von Frankreich auf einem Talbot-Lago; das Rennen war für Sportwagen ausgeschrieben. Auch nach dem Kriege – 1946 bis 1949 – fuhr Chiron auf Talbot-Lago, und auf einem solchen Monoposto errang er beim Großen Preis von Frankreich 1949 seinen letzten Sieg. Einsätze mit einem Osca Formel 2 blieben weniger erfolgreich.

1955 beteiligte sich Chiron mit einem Lancia Aurelia B20 an der Rallye Monte-Carlo und gewann sie sogar. Und mit einem Citroën DS19 ging er 1957 an den Start zur Mille Miglia, um sich den Klassensieg zu holen. Nach diesem letzten aktiven Einsatz wurde er von Fürst Rainier III. gebeten, sich für die beiden großen Motorsportereignisse des Jahres als Renndirektor zur Verfügung zu stellen, die Rallye Monte-Carlo und den Grand Prix von Monaco. Dieser prominenten Pflicht kam Chiron bis 1979 nach, einem Monat vor seinem Tod. Ich schätze mich glücklich, diesen bemerkenswerten Mann noch kennen gelernt, gesehen und seine melodiöse Stimme gehört zu haben.