Brock Enright – Wenn dein Leben ein Thriller wäre

Reportage
zuerst erschienen am 17. April 2011 in Welt am Sonntag, S. 55
Der Künstler Brock Enright betreibt eine Agentur, die maßgeschneiderte Abenteuer liefert: Ein Selbstversuch in New York

Nichts ist verdächtig an diesem sonnigen Samstag in Brooklyn. Auf der Treppe vor einem Schulgebäude sitzt ein vollbärtiger Student im Ledersakko, auf dem Seitenstreifen parkt ein Toyota-Pickup, aus dem puerto-ricanische Radiomusik dringt, und vor dem Lebensmittelladen steht ein schwarzer Zettelverteiler, die Strahlenkrone der Freiheitsstatue um den Lockenkopf geschnallt. Einige Schritte, nachdem ich ihn passiert habe, bilde ich mir ein, seinen Blick im Rücken zu spüren, und schaue probehalber über die Schulter. Falscher Alarm.

Es muss an Brock Enright liegen, dass mich dieser Verfolgungswahn befällt. Der Künstler, mit dem ich in einem unspektakulären Café namens „Boulevard“ verabredet bin, hat sich darauf spezialisiert, das Leben von Menschen zu infiltrieren, Statisten in ihren Alltag einzuschleusen und dort Dinge zu inszenieren, die wie Zufall wirken mögen, tatsächlich aber einem Drehbuch folgen.

Seit gut zehn Jahren betreibt Enright eine ominöse Agentur, die sich Videogames Adventure Services nennt und ihren Kunden, angeblich gegen Preise von 5000 bis 50 000 Dollar, Abenteuer auf den Leib schneidert. Unter der Internetadresse der Agentur ist nur eine weiße Seite zu finden, doch es gab spektakuläre Medienberichte in der BBC, der „Sunday Times“ und in der „New York Times“. Sie handelten von Entführungen auf offener Straße und filmreifen Verfolgungsjagden, aufwendigen Generalproben und konzertierten Einsätzen mit Sprechfunkkontakt. Manche Reporter wurden gekidnappt, gefesselt und verschleppt.

Schon die Kontaktaufnahme mit dem Künstler, 1976 in New York geboren, läuft merkwürdig ab. Erst gibt es wochenlange Pausen in unserer elektronischen Korrespondenz, doch je näher das Treffen heranrückt, desto hektischer werden die Vorbereitungen. Am Tag der Begegnung schickt Enright mir ständig neue SMS: In welchem Hotel ich untergebracht sei, er habe gerade seine Frau und seinen kleinen Sohn zum Flughafen gefahren, ich könne durchaus schon früher nach Brooklyn kommen als geplant, ob ich bereits unterwegs sei, wo genau ich mich denn jetzt gerade befinde?

Als ich das schlauchartige Café betrete, scheint mir keiner Beachtung zu schenken. Elektronische Musik, die Leute spielen Schach, auf der Karte stehen frisch gepresste Säfte und Croissants mit Schweizer Käse und Pesto. Ganz hinten sitzt in einer schattigen Ecke ein Typ mit Kapuzenpullover und Turnschuhen. Das muss er sein, so ist er immer angezogen: Eher ein Abhänger aus Brooklyn als gesuchtes Kunstphantom.

Enright wirkt nervös, und er spricht leise, ganz so, wie es sich für einen Verschwörer gehört. Ob er gerade Kunden habe, ob Aktionen im Gang seien? „Ja, mehrere Sachen laufen gleichzeitig. Auch heute, an verschiedenen Stellen in der Stadt!“ Wie viele Leute arbeiten daran mit? „Fünf bis acht Leute. Alex, Rex, Amanda, Ashley.“ Er scheint zu merken, dass ich nicht überzeugt bin, wir beide unterdrücken ein Grinsen. „Ich bin kürzlich Vater geworden“, sagt er unvermittelt, als sei das ein neues Projekt für ihn, der vor zehn Jahren seinen Master an der Columbia University in New York gemacht hat. „Zeit ist knapp geworden.“

Während Enright redet, über Fluxus und Warhol, Fred Astaire und den Übergang von der Performance zum Objekt, macht sich ein Mann im Overall an einer Abstellkammer in unserer Ecke zu schaffen. Gerade erzählt der Künstler, dass er für seine Aktionen ein loses Netz an Kontakten nutze, zu dem auch Barkeeper und Feuerwehrleute gehören. Einmal habe er einen brennenden Mann durch eine Hotellobby laufen lassen, in der ein Kunde wartete, natürlich im feuerfesten Anzug und pyrotechnisch abgesichert.

„Was heißt es“, sagt er beiläufig, „wenn plötzlich ein Mann mit roten Schuhen einen Raum betritt?“ Unwillkürlich scanne ich das Lokal. „Was, wenn es plötzlich nach Rauch riecht?“ Erst jetzt bemerke ich eine offene Tür zum Hof schräg hinter unserem Tisch - und wirklich riecht es nicht, als ob dort etwas kokelt? Ich spüre, wie eine Ladung Adrenalin in meine Blutbahn schießt. Was ist hier los, was passiert da?

Enright redet gleichmäßig weiter, eigentlich riecht es doch nicht nach Rauch. Wie ist das mit den Video Games Adventure Services, gibt es ein richtiges Büro? „Oh ja, mit Aktenordnern und allem.“ Ein Freund mache das, der kenne sich mit Finanzen aus. „Ich finde, in New York muss man aus allem eine Firma machen.“ Das Budget schwanke, manchmal koste ein einziger Tag mehr als ein ganzer Monat. Einer Klientin habe er vor ein paar Jahren ein Ticket nach Berlin geschickt. Gleich am Flughafen verbanden ihr Unbekannte die Augen und setzten sie in ein Auto, um sie nach stundenlanger Fahrt in ein Gebäude zu bringen, wo es über Hintertreppen und durch Korridore weiterging. Als man der Frau die Augenbinde abnahm, saß sie vor Publikum auf der Bühne des Weimarer Nationaltheaters, mitten in einer Schiller-Inszenierung, wo sie von Schauspielern zum Schein gefoltert wurde.

Das klingt jetzt nach Quatsch, und ich unterbreche das Gespräch, um auf dem iPhone nach den Begriffen „Brock Enright“ und „<>“ zu suchen. Alles korrekt, Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft, Band 2007.

Jetzt steht ein Typ mit Anorak und Spiegelreflexkamera auf, der die ganze Zeit mit dem Rücken zu uns gesessen hat. Offenbar gehört er dazu. „Wir müssen los!“ Fast panikartig raffen wir unsere Sachen zusammen, um zu dritt planlos durch Bushwick zu laufen. „I like to walk and talk“, sagt Enright, auch so ein Filmspruch. Beim Gehen erzählt er, wie er als Jugendlicher Rimbaud verschlungen, aber auch zahllose Stunden mit dem Gameboy verbracht habe. „Der Bettler da“, sagt er plötzlich und zeigt auf eine Lumpenfigur, „der macht sich Notizen! Warum wohl?“ Stimmt, der Kauernde kritzelt in ein Notizbuch, als wir vorbeigehen. An einer Kreuzung trennen wir uns, am Abend soll es weitergehen, es gibt „Aktionen in der Stadt“.

Um kurz vor elf erreicht mich eine SMS: „Wir haben Leute in der Mars Bar in Manhattan. Geh hin, beobachte das Geschehen.“ Zwanzig Minuten später stehe ich allein am Tresen. Es läuft Lou Reed, die Wand ist vollgeklebt, man trinkt Flaschenbier. Aber was ist hier, um diese Uhrzeit, abweichendes Verhalten? Der Typ in der Northface-Jacke, der mich unnötig anrempelt? Der Barmann mit dem Südstaatenbart und den tätowierten Unterarmen? Oder die Frau neben mir, die plötzlich das Lokal verlässt, aber ihren Seidenschal auf dem Barhocker vergisst? Relativ schnell habe ich das Gefühl, dass vor lauter Beobachten ich der einzig Verdächtige bin. Da entdecke ich eine verbeulte Parabolantenne, oben in der Ecke angebracht, mit der handschriftlichen Aufschrift: „Wir beobachten dich!“

Es folgen noch viele SMS in dieser Nacht, ich nehme den L-Train nach Brooklyn, werde von wildfremden Leuten nach der Marke meines Mantels gefragt und zu verschiedenen Getränken eingeladen. Leute tauchen auf, stellen Fragen, verschwinden wieder. Und Brock Enright ist immer schon da, wie im Märchen vom Hasen und vom Igel.

Allein auf der Metropolitan Avenue, glaube ich für ein paar Augenblicke Gestalten auf den Dächern zu sehen und Rotorenknattern zu hören, aber das stellt sich als Täuschung heraus.

Als ich morgens um sieben Uhr zurück im Hotel bin, habe ich ein paar Metrotickets in der Tasche, auf denen kryptische Notizen stehen. Nichts ist passiert, niemand ist entführt worden, kein Feuer ist ausgebrochen. Aber meine Lektion habe ich gelernt, trotz der Kopfschmerzen. Auch das Abenteuer liegt im Auge des Betrachters.