Celibidaches Präsenz

Nachruf
zuerst erschienen im August 1996 in der Wochenpost

Keiner kam mit so wenig Gepäck aufs Podium. Nicht einmal den Stab hatte er dabei - den deponierte ihm der Orchesterdiener auf dem Pult des Konzertmeisters. Und natürlich auch keine Partitur - die hatte er im Kopf. Und auch dort war sie für ihn nicht Gepäck, keine Last aus der Vergangenheit, die er mit ins Konzert brachte, sondern Voraussetzung seiner schönsten Begabung: der Geistesgegenwart.

Daß dieses Paradox möglich ist: eine Partitur so zu verinnerlichen, daß sie kein lebloser Gedächtnisinhalt ist, sondern belebbare Struktur, lernten wir Schüler Celibidaches in seinen Kursen, anhand atomarer Einheiten. Er forderte uns auf, eine beliebige Zwölftonreihe an die Tafel zu schreiben, das sprödeste Gebilde, das man sich denken kann. Und dann begann der Prozeß der Vermenschlichung, die Suche nach der inneren Gesetzmäßigkeit dieses Gebildes. Wie gliedert sie sich, wie kann man die Reihe phrasieren, wie kann man sie schlagen, wo sitzen die Gelenke? Ein Schüler nach dem anderen ging ans Klavier und versuchte sein Glück. Celibidache konnte sarkastisch und verletzend sein, wenn man danebenlag - er war ein oft entmutigender Lehrer. Und schließlich gelang es einem: plötzlich lebte dieser tote Stoff, plötzlich war Gestalt da. Und auf dem Weg in die Pause, auf der riesigen Treppe der Mainzer Universität, die sich der gebrechliche Celibidache jeden Morgen hochschleppte, stelle ich überrascht fest, daß ich etwas vor mich hin pfeife, leicht wie eine Schubert-Melodie: die Zwölftonreihe.

Die Probe beginnt: Celli und Bässe spielen die erste Phrase des Kyrie in Bruckners f-Moll-Messe, die Bratschen übernehmen, dann die Geigen. Aus dem Nichts baut sich eine große, große Gestalt auf - unendlich größer als die Zwölftonreihe aber strukturell gleich: genauso geschlossen. Und dann auf einmal: „Nein! Mambo ist das!“ Kurz vor dem Choreinsatz hatten die Geigen ein ganz bißchen geschmiert. Den enttäuschten Blick Celibidaches habe ich am Schneidetisch hundertmal gesehen, diese Verletzung einer geglückten Gestalt, die unmittelbar eine Verletzung des Mannes ist, der diese Gestalt in reinster Aufmerksamkeit aufnimmt und fortempfindet. Dieser unzugängliche, sicher oft auch einsame Imperator hatte die Gabe, sich restlos aufzutun für den lebendigen Klang. Er, der nicht um jeden Preis geliebt werden wollte, dem man selbst dann nicht wirklich nah war, wenn man mit ihm lachte, war auf dem Podium völlig nackt und schutzlos und unendlich verletzbar.

Und entsprechend reich war das Ergebnis, wenn es glückte: es war ja durch eine riesenhafte Persönlichkeit hindurchgegangen, die eine enorme Zahl von Schleusen öffnen konnte. Sein Zen-Ideal des Sich-Auftuns, Sich-leer-Machens haben viele Schüler mißverstanden als Arm-Sein, dünnblütig und substanzlos, nein: dieser Koloß machte sich auf - wenn’s glückte, nämlich in hundert Konzerten zwei bis drei Mal, wie er sagte - und ließ uns teilhaben an einem gewaltigen Kraftstrom.

„Wie heißt du mit Vornamen? Rauchst du? Nie eine Zigarette!“ Das war der Initiationsritus für unzählige seiner Schüler auf der ganzen Welt, die er unterrichtete, wann immer er konnte - grundsätzlich kostenlos. Vielleicht sagte er auch noch, „du mußt ein paar Jahre mit mir leben“, dann war man ihm verfallen. Das Leben zerfiel von jetzt an in richtig und falsch. Für viele war seine Persönlichkeit erdrückend, und er selber ist nicht sparsam damit umgegangen. Immer wieder haben Skeptiker ihn als Guru bezeichnet, und es gab hier Parallelen, die wir Schüler nicht ehrlich leugnen konnten. Aber kann ein großer Visionär, ein geistiger und geistlicher Lehrer therapeutisch zurückhaltend und abwägend auftreten?

Niemals probte Celibidache hypothetisch, jede Probe war der Ernstfall. Der größte Anspruch also an alle Musiker: mit ihm je neu sich einzuschwingen, aus dem Gehörten, Erlebten sich vorantreiben zu lassen. Alles oder nichts: solange er nicht abklopfte, war alles gut, und es war nicht der Fehler, der Gickser, der ihn zwang abzubrechen, sondern der Bruch in der musikalischen Kontinuität. Wenn etwa, im Benedictus der f-Moll-Messe, die Geigen nicht auf den Solo-Flötisten hörten, seine Phrasierung nicht aufgriffen.

Zornig weist Celibidache die Geigen zurecht und wendet sich dann sanft an den Flötisten: „Maxi, viel ruhiger einatmen. Wir sind allein.“ Dem organischen Fluß seines Atems soll er folgen, dem menschlichen Maß. Wir sind allein? Zwei Menschen musizieren miteinander, hören aufeinander, errichten gemeinsam eine Kunstgestalt, unberührt von äußerlichen Ansprüchen eines Metronoms. Aber auch physisch sind sie allein: Zweihundert Kollegen in Orchester und Chor versinken in diesem intimen Augenblick zwischen Flöte und Dirigent. In jeder Umgebung, jeder Situation konnte Celibidaches Autorität solche Nähe schaffen.

Die Geistesgegenwart war es, die ihn so alt werden ließ und ihm nach jedem Krankheitsschub doch wieder die Kraft für neue Proben und Konzerte gab: auf dem Podium gab es keine Sorgen um die Diagnose, kein Bangen um die nächste Nacht - da war nur der reine Augenblick, den er nie bereit war, „an die Zukunft zu opfern“ (Horkheimer): der Klang im Hier und Jetzt. Das mystische „Nu“. In einem völlig unsentimentalen, objektiven Sinn war das Musizieren für Celibidache Gottesdienst.

Kein Gepäck, keine Erinnerung, kein Überlisten der Vergänglichkeit auf Schallplatte - er konnte und wollte sich auf nichts ausruhen, jede Probe ist Stunde Null, es ist, und immer neu, der ganze Mensch gefordert. So verkörperte er das Ideal des Dirigenten und Künstlers und Menschen radikal wie wenige sonst im zwanzigsten Jahrhundert: das Leben in der Gegenwart.