Der Briefkastenmann

von 
Erzählung
zuerst erschienen am 28. August 2004 in Süddeutsche Zeitung
Jeder ist ein Denkmal. Es kommt nur auf den Mut an, den richtigen Sockel zu besteigen.

Ich trug eine dunkle Brille und einen beigefarbenen Tropenhut, als ich auf dem Briefkasten saß.

Es war ein wunderbarer Tag: Die Sonne knallte vom Himmel, die Mädchen trugen kurze Röcke, die Kirschblüten strahlten in Pink, und aus den heruntergekurbelten Fenstern der Autos drang keine Schrottmusik, sondern Lieder der Beach Boys.

Was also hatte ich auf einem Briefkasten zu suchen?

Geplant hatte ich es nicht: Ich war aufgestanden, wie ich immer aufstehe; ich hatte geduscht und mir einen Kaffee gekocht, und dann ging ich raus, auf die Straße, in die Sonne, zu den Mädchen. Da war soviel Licht, dass ich taumelte.

Und auf einmal stand ich vor dem Briefkasten.

Er leuchtete hell und gelb und sah in diesem Moment – wie soll ich es sagen? – ansprechend aus. Alles um ihn herum war in Bewegung, nur er stand fest und sicher wie ein Monolith zwischen den Gehwegplatten. Ansonsten war nichts Besonderes an ihm: er hatte einen roten Punkt, zwei Briefschlitze und ein Schild mit den Leerungszeiten - einmal um zwölf, einmal um siebzehn Uhr. Der Zwölf-Uhr-Termin war gerade vorbei, der Kasten musst also leer sein.

War es der rote Punkt, der mich anlockte?

Jedenfalls kletterte ich auf den Briefkasten.

Es war nicht besonders schwierig.

Was, fragte ich mich dann auf dem Briefkasten sitzend, werden wohl die Leute sagen, wenn sie mich nun sehen, auf dem Briefkasten sitzend? Was werden die Frauen denken, was die Männer, was werden Eltern ihren Kindern antworten, den Mann auf dem Briefkasten betreffend? Werden sie sagen, der Mann auf dem Briefkasten sei ein Irrer, vielleicht gefährlich - oder werden sie mich eventuell überhaupt nicht bemerken?

Diese Fragen beschäftigten mich.

Weil ich aber keine Antworten darauf hatte, blieb ich sitzen.

Es war nicht sehr bequem auf dem Briefkasten. Zum Sitzen brauche ich eine Lehne für meinen Rücken, der sonst schnell in sich zusammensackt; und weil ein Briefkasten keine Lehne hatte, musste ich meine Wirbelsäulenmuskeln sehr anstrengen.

Und dann kam schon der erste Mann auf mich zu.

Er hatte nicht viel in der Hand, nur ein kleines Kuvert, und als er sich dem Briefkasten näherte, wie er es wohl immer tut, entschieden und mit großen Schritten, erschrak er plötzlich, als er vor mir stand.

„Oh!”, machte er und sah zu mir herauf. „Was tun Sie denn hier?”

„Ich sitze auf dem Briefkasten und ruhe mich ein wenig aus”, antwortete ich.

„Aha. Sitzen Sie schon lange hier?”

Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Ich verstand den Sinn der Frage nicht. Geht das Sitzen auf einem Briefkasten erst ab einer bestimmten Verweildauer in Ordnung? Kann man zu lange auf einem Briefkasten sitzen oder vielleicht auch: zu kurz, mit einem Mangel an Übung, der einen noch nicht qualifiziert?

„So zehn Minuten etwa”, sagte ich und lächelte den Mann höflich an, der rasch und verschämt das Kuvert in den Briefschlitz unter mir steckte und sich dann sofort umdrehte und verschwand, als hätte er etwas Verbotenes getan.

Als hätte er mich, den Briefkastenmann, unsittlich berührt.

Was der Briefkastenmann alles kann, dachte ich und sah über die Menschen hinweg, die unter mir ihren Beschäftigungen nachgingen. Viel besser, als auf einem Hochhaus zu stehen - denn ein Briefkastenmann ist trotz seines Abstands noch nah genug dran an den Menschen, um jede ihrer Regungen mitzukriegen und ihnen in die verwirrten Augen zu blicken.

Ein paar Minuten später fuhr auf dem Fahrrad eins der hübschen Mädchen im Minirock an mir vorbei, das eine Kamera um den Hals hängen hatte.

Die Frau hielt, stieg vom Fahrrad, und fragte, ob sie mich vielleicht fotografieren dürfe.

„Wofür denn?”. fragte ich.

„Für ein Projekt an der Universität”, sagte sie und fing schon an zu knipsen.

Zwei Minuten lang umrundete sie mich mit der Kamera, mich, den Mann auf dem Briefkasten. Als sie mich aus allen Positionen fotografiert hatte, kniend, stehend und auf dem Boden liegend, bedankte sie sich und stieg wieder aufs Fahrrad.

„Was kann man denn auf der Universität mit Fotos von einem Mann auf dem Briefkasten anfangen?”, fragte ich sie.

„Es ist ein Projekt über die Absonderlichkeiten des Alltags”, rief sie herüber, während sich im Wind der Anfahrt schon ihr Rock hob; dann war sie verschwunden.

Um heutzutage berühmt zu werden, dachte ich, reicht es schon, wenn man auf einem Briefkasten sitzt.

In der nächsten Stunde passierte gar nichts. Frieden kam über mich, auf dem Briefkasten sitzend, und ich fragte mich: Gibt es sonstwo auf der Welt noch Menschen, die auf Postkästen sitzen, in Japan oder Brasilien zum Beispiel? Gibt es vielleicht sogar irgendeinen Wahnsinnigen, der tage- oder wochenlang auf einem Briefkasten ausharrte und im Guinness-Buch der Rekorde steht? Oder bin ich vielleicht der erste, der es über eine Stunde lang auf einem Briefkasten ausgehalten hat, jemals?

Vielleicht, überlegte ich, gibt es auf dieser Welt ja doch noch Dinge, die ein Mensch zum ersten Mal tun kann.

Dann geschah es.

Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort stand und mich umrundete; gut möglich, dass sie schon seit einer Viertelstunde ihre Runden drehte wie ein Haifisch, der nicht weiß, ob er ein potentielles Opfer oder einen potentiellen Feind vor sich hat.

Jedenfalls stand sie da, die Alte mit den Spar-Tüten und dem Stock, auf den sie sich stützte.

Sie starrte mich an, Blitze kamen aus ihren Augen.

„Was machen Sie dort?”, schrie sie auf einmal.

„Ich bewache den Briefkasten!”, rief ich zurück. Ich hielt das für einen guten Witz, doch die Frau erschrak so sehr, dass sie einen Satz zurück tat.

„Sie müssen sich keine Sorgen machen!” rief ich, um sie zu beruhigen: „Das ist eine ABM-Maßnahme, vom Arbeitsamt und der rotgrünen Regierung bezahlt!”

Der Briefkastenmann war gut in Form, wie ich fand.

„Verschwinden Sie!”, brüllte die Alte nun aber.

„Ich will einen Brief an meine Tochter einwerfen!”

„Wohlan!”, rief ich zurück und tippte mit dem Finger an meinen Tropenhut. „Machen Sie nur - ich hindere Sie nicht!”

„Ich rufe die Polizei, wenn sie nicht verschwinden!”, schrie die Alte zurück.

Sie war ganz offensichtlich eine Kämpferin.

Inzwischen war irgendetwas anders geworden auf dem Briefkasten: Zuerst war es nur ein beklemmendes Gefühl, das in mir aufstieg, doch als ich zur Straße heruntersah, bekam ich den Beweis.

Der Briefkastenmann war umrundet von einer Menschenmenge.

Die Alte und ich mussten sie durch unsere Schreie angelockt haben; jedenfalls starrten etwa ein Dutzend Augenpaare zu mir auf, alle mit derselben Frage im Blick: Was macht dieser junge Mann auf dem Briefkasten?

Ich bekam Angst.

Das Kräfteverhältnis hatte sich geändert: War ich eben noch der Briefkastenmann gewesen, der aus einer Position der Stärke und Erhabenheit heraus auf die anderen herabgeschaut hatte, war ich nun ein Briefkastenmann, der von einem Kreis aufgebrachter, verwirrter Bürger eingeschlossen war, der von einem alten Mütterlein angeführt wurde. War ich eben noch der Sonnenkönig vor der Revolution gewesen, war ich nun nur noch der Sonnenkönig nach der Revolution.

Ein Gehenkter also.

Dann stand auch schon der Scharfrichter vor mir; ganz in Uniformgrün und mit einer weißen Schildmütze auf dem Kopf.

Nein, er stand eher unter mir.

„Schönen guten Tag”, begrüßte mich der Schutzmann. Er neigte den Kopf so weit in den Nacken, dass die Mütze herunterzufallen drohte.

„Guten Tag”, antwortete ich.

„Bitte – was machen Sie hier?”, fragte der Schutzmann.

„Ich sitze auf dem Briefkasten”, antwortete ich.

„Das sehe ich. Mit welchem Grund, wenn ich bitten darf?”

„Kunstprojekt für die Universität”, antwortete ich.

„Haha”, machte der Schutzmann.

„Ich bin eine Absonderlichkeit des Alltags”, sagte ich.

„Runterkommen”, sagte er.

So stieg der Briefkastenmann von seinem Thron, dem Briefkasten - und wenn es auch kein Gebrüll von den Umstehenden gab, dann doch triumphierende Blicke und gegenseitiges Zunicken. „Recht so”, sagte das alte Mütterlein, als sie ihren Brief in den Schlitz warf; dann schlurfte sie einfach davon mit ihren Tüten und dem Stock, ohne mich nochmal anzusehen. Kurz darauf löste sich auch die Menge auf.

Der Briefkastenmann war besiegt.

Auch ich schlurfte nachhause, durch das schwächer werdende Licht; geschlagen, besiegt und den Kopf voller Fragen: Was hatte ich falsch gemacht während meiner Zeit als Briefkastenmann; was hatte die anderen so sehr aufgebracht? Lag es an meiner exponierten Stellung, daran, dass ich ein wenig von oben herab geredet hatte? Lag es am Tropenhut oder an der Sonnenbrille? Oder lag es am Briefkasten selbst, der irgendeinen unterbewussten Einfluss auf die Menschen ausübt, indem er uns daran erinnert, dass zur Kommunikation immer zwei gehören, deren Codes aufeinander abgestimmt und in jahrelanger Kleinarbeit mühsam erarbeitet sind? Oder bringt ein Mann, der sich auf einem Briefkasten ausruht, von vornherein alles durcheinander?

Keine verdammte Ahnung.

Mein Rücken schmerzte.

Aber alles in allem war es ein schöner Tag gewesen.

„Schönen guten Tag”, sagte der Schutzmann. „Was bitte machen Sie hier?”

Was werden die Eltern ihren fragenden Kindern erzählen? Ein Irrer?

Auch in Berlin hat die Post sehr viele Briefkästen wegrationalisiert. Um so mehr Grund, die vorläufig verbliebenen Kästen nach Kräften zu nützen.