Der Hexenprozeß von Leoben

von 
Feuilleton
zuerst erschienen am 10. November 1904 in Die Fackel, Nr. 168
„Nur Wenige, nur sehr Wenige überstanden wie durch ein Wunder alle die Qualen und wurden dann, wenn nicht ›neue Indizien‹ hinzukamen, welche die Wiederholung der ganzen Prozedur heischten, nach einiger Zeit als Krüppel an Leib und Geist aus der Kerkerhöhle entlassen, um über die ›Religion der Liebe‹ nachzudenken.“ - Johannes Scherr, Geschichte deutscher Kultur und Sitte.

Es geschehen jetzt Dinge, vor denen die Sprache der Empörung stumm wird, der feinsten Erziehung eine geballte Faust würdiger dünkt, als der artikulierte Ausdruck der Gefühle, und der Besonnenheit, wofern sie nur Menschenblut in den Adern hat, der Gedanke an brachiale Abwehr näher liegt als die Achtung vor dem Gesetz. Ist es ein Plan der Oberen, die mit ihren Erlässen den Herrgott und mit ihren Taten den Teufel versöhnen, ein Vorbild der Anarchie zu schaffen? Und ist es kein Plan, wie erklärt ihr Höflinge der öffentlichen Meinung, daß jetzt ein Ruf nach Lynchjustiz an den Justizlynchern wie Donnerhall durch die Lande braust? Lebenslanger Kerker für den Raub einer Geldbörse, „Machen S‘ keine G’schichten!“ als Zuspruch vor einer Verurteilung zum Tode, der Hexenprozeß gegen eine der Faszinierung eines Beamten beschuldigte Frau — bezwinge sich, wer kann: die Feder reicht nicht mehr aus, man muß zum Tintenfaß greifen ….

Der Hexenprozeß von Leoben … Ist’s die Nostalgie nach dem Mittelalter, die in der Gerichtsbarkeit des Volkshasses sich heimlich kündet? Wie müssen wir jene aufgeklärten Zeiten beneiden, in denen der Zauberin bloß physische Qual bereitet, aber der Pranger europäischer Publizität erspart wurde! Kein Tal der Steiermark ist so lieblich, daß seine Bewohner nicht auch heute geneigt wären, einer geheimnisvollen Fremden den Zauber, mit dem sie den Sinn der Söhne des Landes betörte und den heiratsfähigen Töchtern abwendig machte, mit Steinwürfen auszutreiben. Aber die Technik des Hexenprozesses hat durch die Erfindung der journalistischen Schwarzkunst eine unerhörte Vervollkommnung erfahren. Denn die Hexenrichter müssen die Publizität nicht furchten, die ihre Ruchlosigkeit bekanntmachen könnte, sondern benützen sie, weil sie die Pein der Angeklagten vergrößert. Durften die Folterwerkzeuge bloß Geständnisse herauspressen, so dient die Druckmaschine der Verbreitung jener schmerzlichen Fragen, die als Eingriff in die privateste Sphäre einer Frau Sinn und Wirkung verfehlten, wenn sie bloß vom Richter zur Angeklagten gesprochen wären. Durch tausend Zeitungsberichte einer Welt voll Bosheit kundgemacht, wiegen sie wohl die Qual „unter die Arme gebrannter Schwefelfedern“ auf. Ja, so sehr, daß die arme Sünderin „nicht anders gemeinet, sie würde bleiben und das Herz ersticken …“

Scheußlicheres ward nicht erlebt, seit in deutschen Landen nicht mehr nach der Strafprozeßordnung des Hexenhammers und nach der peinlichen Halsgerichtsordnung Recht gesprochen wird. Aber der Dank des ehrlichen Kulturforschers, dem Wahrheit über Empfindlichkeit geht, gebührt dem mutigen Senat von Leoben, der das tiefe Heimweh der Volksseele nach jenen altehrwürdigen Einrichtungen begriffen und sich auf eigene Faust als Malefizgericht etabliert hat. Anklage auf „Bigamie“ hieß es, weil man’s Hexenprozeß nicht nennen konnte, ohne das Kulturbewußtsein fortschrittlicher Juristen, denen das Strafrecht von 1803 heilig ist, zu verletzen. Aber in Leoben, am Ausgang des Jahres 1904, ward ein Senkblei in den tiefsten Brunnengrund österreichischen Volksempfindens hinabgelassen, und siehe, es stieß auf den Wunsch nach Teufelsaustreibung.

Leontine von Hervay war auf einem Besenstiel nach Mürzzuschlag durch die Luft geritten, wobei ihr seidener Unterrock sichtbar wurde. Ein ahnungsvolles Barchentgemüt rief sofort: „I Durchschaudi“. Was nützte es, daß sie den Bezirkshauptmann glücklich gemacht hatte? Eine Zaubererstochter und fremder Sprachen mächtig. Also „teuflischer Buhlschaft“ dringend verdächtig. Dem einen erkrankte wohl das Vieh, dem andern verdarb vielleicht das Getreide. Der ganze Ort wird rebellisch. Dem Bezirkshauptmann hat sie einen Liebestrank eingegeben, andere Honoratioren werden folgen, die begehrtesten Mürzzuschlagerinnen müssen zurückstehen. Soll man es dahin kommen lassen, daß sie „die Männer verhindert zu zeugen, und die Weiber, zu gebären, und die Männer, daß sie den Weibern, und die Weiber, daß sie den Männern die ehelichen Werke leisten können“? „Eine Hexin ist eine Person“ — hat ein berühmter Lehrer des „Malleus maleficarum“ definiert — „welche mit Vorsatz und wissentlich durch teufelische Mittel sich bemüht und untersteht, ihr Fürnehmen hinauszubringen oder zu Etwas dadurch zu kommen und zu gelangen“. Nur daß man „solich böß weyber von ihres verkehrten willens wegen nach keiserlichem recht tödten sol vnd mag“, muß heute leider ein frommer Wunsch bleiben. Sache der Gerichte ist es, anstandshalber seine Anerkennung zu markieren.

Und österreichische Behörden, die sonst im Schweiße ihres Angesichts den Täter suchen, fahndeten diesmal steckbrieflich nach der Tat. Mindestens war Leontine von Hervay schuldig, sich durch fünf Monate der Herstellung eines Tatbestandes hartnäckig widersetzt zu haben. Je geringer die Aussicht auf die juristische Fundierung einer Anklage wurde, desto länger mußte ihre Untersuchungshaft dauern, die erst geendet ward, als der erlösende Einfall „Bigamie“ sich der Sterzschicht unter der Schädeldecke eines steirischen Staatsanwalts entrang. Die Idee einer Betrugsanklage mußte wieder dahin zurücksinken. Denn die Hoffnung eines verschuldeten Bezirkshauptmanns enttäuschen, ist im Sinne eines Gesetzes, das der Eheschließung bloß das ethische Motiv der Neigung zugrundelegt, kein Betrugsfaktum; und überdies war nicht einmal nachzuweisen, daß Frau von Hervay den Mann, dessen innere Lebenstumbheit ihr verfallen war, über die äußere Gestaltung ihres Verhältnisses getäuscht hatte. Das ist ja das infernale Blödsinnsstigma dieser Gerichtsverhandlung: nicht mehr gegen die Angeklagte bewiesen zu haben, als daß sie eine Gesellschaft von Topfguckern, der die Wahrheit zu sagen keine gesetzliche und keine ethische Pflicht sie zwang, angeschmiert hatte. Schmecks, bei den Buren bin ich Krankenschwester gewesen — hat die Antwort auf die langweilige Frage nach dem „Woher“ gelautet, die „Falschmeldung“ auf dem Meldzettel des bürgerlichen Klatsches, so verbrecherisch wie jene falsche Angabe des Alters im Mürzzuschlager Hotel. Eine Hochstaplerin. Zwar hat sie nicht Kaufleute, bloß Neuigkeitskrämer betrogen, zwar hat sie kein Recht am Eigentum, bloß das Recht auf „Wahrheit“ geschädigt. Und daß sie just die sichere Wirkung des Burentaumels auf wurzelhaft-völkische Gemüter benützte, um sich mit der Ruhe vor lästigen Fragern zugleich eine billige Popularität zu verschaffen, könnte Nichtmitglieder des Mürzzuschlager Turnvereins eher ergötzen als empören. Aber der Staatsanwalt weiß, was seines Amtes ist. Sie hat nicht nur Frauen, die um siebzehn Jahre jünger sind, in der Gunst des saubersten Beamten der Stadt ausgestochen, sondern — Zauberinnen sind manches imstande — sich auch selbst um siebzehn Jahre verjüngt. Falschmeldung! Es geht einem durch und durch, wer den Klang dieses Deliktes hört. Wäre der Gatte am Leben und fände bei Hervays ein Gastmahl statt, der befreundete Kreisgerichtspräsident von Leoben schmausete bei einer Falschmelderin! Die Sonne bringt es an den Tag, buchstabieren die Schulkinder von Mürzzuschlag. Vor langer Zeit hat sie’s getan, schwer drückt sie die Gewissenslast, ein unvorsichtiges Wort kann sie verraten. Eine Falschmelderin. Ohne die Verpflichtung, überhaupt ihre Jahre anzugeben, hat sie in den Meldzettel beim steirischen Ochsen ein falsches Alter eingetragen. Sie hat also geradezu die Absicht gehabt, irrezuführen. Und von allen Seiten schrillt’s ihr ins Ohr: Falschmelderin! …

Die Gegensätzlichkeit zwischen der Pathetik der Namen und der Erbärmlichkeit der Dinge ist der humoristische Grundzug unseres Strafrechts. Aber als die steirischen Berge kreißten, ward noch die „Bigamie“ geboren. Das ist in seiner Art auch ein spaßiges Delikt. Seine Gesetznorm schützt nämlich, da die betrügerische Nebenabsicht ausdrücklich erst in einer Strafverschärfung getroffen wird, an und für sich nichts weiter als eines jener transzendentalen Güter, als deren Wächterin sich die österreichische Gerechtsame so gern aufspielt: die Sittlichkeit oder die Heiligkeit der Ehe oder den Ernst der kirchlichen Zeremonie oder dergleichen. Als bekannt ward, Frau von Hervay sei der „Bigamie“ schuldig befunden, fuhr’s durch die Garküchen der steirischen Moral, in denen der Sterz aus Klatsch und Bosheit bereitet wird, wie ein Blitz der Erkenntnis. Das hatten sich alle ja gleich gedacht. Was? Nun, daß der Hervay auch dieses Fremdwort geläufig ist. Keiner kann’s übersetzen; aber jeder begreift, daß die Frau verhaftet, eskortiert, im Bahnhof vor dem Pöbel ausgestellt, mit Schimpf und Steinen bombardiert, fünf Monate in Untersuchungshaft gehalten und schließlich zu ebenso langem Kerker verurteilt werden mußte. Eine Definition? „Bigamie“ ist, wenn ein Bezirkshauptmann in unwiderstehlichem Drang, sich ins Bett einer geliebten Frau zu legen, die erst in zwei Wochen das Scheidungsdekret einer wahrscheinlich ungültigen Ehe erhalten wird, zwecks Vermeidung des Ärgernisses der „freien Liebe“ den Ortspfarrer zur Abhaltung einer Scheintrauung ohne Eintragung in das Trauungsbuch bewogen hat. Dieses Verbrechens, das immer erst nach dem Tode des Bezirkshauptmannes verfolgbar ist, macht sich die Frau schuldig, die sich dem Willen des Verstorbenen nicht energischer zu widersetzen wußte als der Pfarrer. Bewiesen ist es, wenn der Richter festgestellt hat, daß die Scheinzeremonie des „Eheverlöbnisses“ auf die Ortsinsassen, die zu täuschen die natürliche und zugestandene Absicht der Verlobten war, „den Eindruck einer wirklichen Trauung gemacht“ hat. Bigamie ist sowohl hinsichtlich ihrer Verfolgbarkeit (nach dem Selbstmord des Mannes) wie ihres Wesens (verspätete Zustellung der Scheidungsurkunde) ein Termindelikt.

Pfui über eine Justiz, die statt Schuld mit Strafe zu bezahlen, Terminhandel mit der Gerechtigkeit treibt, die „aus dem Körper des Vertrages ganz die innere Seele reißt“ und aus der Gesetzesform den Sinn, um eine Tat hineinzupressen! Pfui über eine Regierung, die in diese richterliche Unabhängigkeit von Vernunft und Erbarmen nicht eingreift, die die Ungeheuerlichkeit einer Verhaftung wegen des Verdachtes, verdächtig zu sein, geschehen läßt, der verlegenen Konstruktion von Tatbeständen, der Aufpirschung eines alten Meldzettels, dem Ballspiel zwischen Kerkerzelle und Beobachtungszimmer — die Frau sollte, wenn nicht schuldig, „wenigstens“ verrückt sein — und zwischen Spital und Kerker ruhig zusieht; die während einer fünfmonatlichen Untersuchungshaft nicht mit der Wimper zuckt, um endlich, da die Leobener Bosheit der Kautionsverteuerung zum Christenhimmel stinkt, durch ein Telegramm an die Grazer Oberstaatsanwaltschaft sich für ein Abendblatt den Ruhm der Humanität zu retten!

… „In den Verdacht der Hexerei“, schreibt ein Kulturforscher des offiziellen Hexenprozesses, „konnte das Größte wie das Kleinste, das Ernsteste und Lächerlichste bringen, ungewöhnliche Schönheit wie ungewöhnliche Häßlichkeit, außerordentliche Einfalt wie hervorragender Verstand, Armut wie Reichtum, Gesundheit wie Krankheit, ein unbesonnenes Wort, eine unbedachte Geberde, Tugend und Laster, Vorzüge und Gebrechen, guter und schlechter Ruf — Alles, Alles … Hat eine Weibsperson rote Haare oder schielende Augen, sie muß eine Hexe sein, bezeugt ihr ein Hund oder eine Katze auffallende Anhänglichkeit, sie ist eine Hexe …“ Und wenn sie erst statt des ortsüblichen Flanells seidene Jupons trägt! Wenn die schadenfrohen Nachbarinnen entdecken, daß sie keinen Kropf hat! Dann nimmt das Verfahren, wie es Johannes Scherr beschrieben, seinen Lauf: „War die Angeschuldigte in Haft gebracht, so wurde zunächst ein kurzes summarisches Verhör mit ihr angestellt, wobei der Inquirent zuerst ›nur so spaßhaft förschelnd‹ auftreten sollte, um die Hexe ›zu fangen‹ d.h. zu einem Geständnis zu verleiten, welches, so unbedeutend es sein mochte, zur Basis des ganzen Verfahrens dienen sollte … In jedem Falle wurde sie einstweilen ins Gefängnis geworfen.“ Leontine von Hervay erkrankt und wird natürlich als „Simulantin“ behandelt. Der Gerichtsarzt läßt kein Mittel unversucht, ihre Gesundheit herzustellen, und wir hören, daß eine in den Rücken der Kranken gesteckte Nadel gute Dienste getan hat. Zeigt die moderne „Nadelprobe“ nicht den Fortschritt der Wissenschaft? In alten Zeiten diente sie durchaus nicht der Ergründung hygienischer Rätsel. „Fand sich irgend ein Leberfleck oder Muttermal“, berichtet Scherr, „so wurde eine Nadel darein gestoßen. Blutet es nicht, so ist der Beweis der Hexerei geliefert, blutet es aber, so ist dies wenigstens kein Gegenbeweis, denn ›der Teufel macht es bluten, um die Hexe zu retten‹.“ Leontine von Hervay wird, da sie im Gerichtssaal Albernheit zum Lachen stimmt, schamlos genannt, und da sie Grausamkeit zum Weinen bringt, eine Komödiantin gescholten. Die „Tränenprobe“, die dem „peinlichen Verhör“ einst voranging, wird uns wie folgt überliefert: „Hiebei legte ein Priester oder Richter der Angeschuldigten die Hand auf den Kopf, sie beschwörend: Bei den bitteren Tränen, welche der Heiland am Kreuz für unser Heil vergossen, bist du unschuldig, so vergieße Tränen, bist zu schuldig, keine! Konnte die Hexe nicht weinen, so war der Beweis ihrer Schuld fertig, weinte sie aber, so hatte ihr nur der Teufel zum Schein Augen und Wangen naß gemacht.“ Leontine von Hervay wird ohnmächtig: „Diese Folge unerträglicher Qual gab man dann für eine Machination des Teufels aus.“ „Was die rechtliche Seite der Sache überhaupt angeht“, sagt Scherr, „so wurde die Hexerei von den Verfassern des Hexenhammers und gleichgesinnten Juristen als ein ›außerordentliches‹ Verbrechen (crimen exceptum) bestimmt, woraus man folgerte, daß der Richter bei Verfolgung desselben sich nicht an den ordentlichen Gang der Kriminalprozedur zu halten habe, sondern ›außerordentliche‹ Mittel anwenden dürfe und müsse, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen.“ Es stimmt. Die Hervay ist der Bigamie angeklagt, in einer halben Stunde wäre der Tatbestand, zu dem eine vorhandene Trauungsurkunde und ein fehlendes Scheidungsdekret gehören, rechtlich festgestellt. Herr Labres aber, der Hexenrichter von Leoben, geht zur „peinlich Frag“ über, die den eigentlichen Zweck des Verfahrens bildet. „Ich will mit Ihrer Jugendzeit beginnen. Wer waren Ihre Eltern?“ „Haben Sie nicht jemandem einen Ihrer Verehrer als Milchbruder vorgestellt?“ „Haben Sie nicht später mit dem Oberleutnant Goltsch ein Verhältnis gehabt?“ „War nicht auch noch ein anderer Mann in Mürzzuschlag, für den sich die Angeklagte interessiert hat?“ Ein Hoteldiener bestätigt, daß der Oberleutnant Bartel sich in unvollständiger Toilette in das Zimmer der Angeklagten begeben hat. Hier ist offenbar der Punkt, wo man der Hexe die „teuflische Buhlschaft“ wird nachweisen können. „Das haben Sie tatsächlich beobachtet?“ „Können Sie das auf Ihren Eid aussagen?“ „Haben Sie das bestimmt gesehen, was Sie jetzt unter Eid ausgesagt haben?“ „Haben Sie seine Toilette wahrgenommen?“ Nach allem erkundigt sich Herr Labres, seine Neugierde, die heute einmal befriedigt sein will, schreckt wohl vor der Trauungsurkunde des Pfarrers, aber nicht vor den Unterhosen des Oberleutnants zurück, und nur die Frage bleibt der Inquirierten erspart, ob das „semen diabolicum calidum aut frigidum“ gewesen sei. So ward die „Bigamie“ bewiesen … Wie klingt mir doch die Mahnung eines Präsidenten an die Geschwornen im Ohr, da mir einst der Beweis der inneren Wahrheit eines beleidigenden Vorwurfs gelungen war und nur der Irrtum eines falschen Beispiels übrig blieb, da, sagen wir, ein Diebstahl von tausend Gulden, aber nicht die behauptete Entwendung von zehn nachgewiesen werden konnte: „Hier, meine Herren, haben wir uns ausschließlich zu fragen: Ist bewiesen, daß …“ Wie’s ihnen paßt! In Leoben fragten sie sich ausschließlich, ob bewiesen sei, daß die der Bigamie Beschuldigte sich in zwei Ehen des außerehelichen Beischlafs beflissen habe; und arbeiteten für die publizistischen Bedürfnisse des Herrn Lippowitz …

Sonst mußte sich Frau von Hervay nur noch gegen die Anklage auf Eitelkeit (Meldzettel) und Verlogenheit verteidigen, gegen den Vorwurf zweier Eigenschaften, die kein steirisches Weib je geschändet haben. Kurzum dagegen, daß sie „überhaupt unsympathisch“ ist. Diesen Tatbestand geben auch jene, die gegen seine strafrechtliche Verwertung entrüstet protestieren, ausdrücklich zu. Ich weiß nicht, ob mit Recht. Möglich, daß Leontine von Hervay bloß österreichische Bezirkshauptmänner fasziniert, aber auf Stationsvorstände schon abstoßend wirken muß, möglich, daß kein Mensch, der sie heute — nach der Prozedur — sieht, den Zauber begreift, den sie als Frau doch hier und dort geübt haben muß, möglich, daß ich selbst das härteste ästhetische Verdikt über sie fallen würde. Die Verhandlung hat es nicht gerechtfertigt. In dieser schweißfüßigen Atmosphäre einer Gerechtigkeit, die einen Barchentfetzen um die Augen gebunden hatte, war sie — Herr Vergani wird mir böse sein — die weitaus sympathischeste Figur. Sie sprach deutsch. Und sie lehrte ihren Richter, wie man den Namen „Meurin“ französisch ausspricht. Sie durfte als Angeklagte lügen, aber sie bekannte immer nur die Wahrheit: „Herr Präsident, ich bin wegen Bigamie angeklagt. Das gehört doch nicht hieher! Warum läßt man all diesen Schmutz erörtern?“ Und als sie nach der Zulässigkeit der Verlesung des infamsten Bettklatsches sich erkundigt, der Präsident verlegen geantwortet hatte: „Ich weiß nicht, der Herr Staatsanwalt hat es verlangt“ und als dieser erklärte, daß er bloß das Urteil, nicht die Gründe einer Ehescheidung zu hören gewünscht habe: wahrhaftig, Herr Labres — um mich eines naheliegenden Bildes zu bedienen — stand da, „wie’s Mandl beim Sterz“! Ja, der häufige Genuß dieser beliebten Mehlspeise, die den normalen Steiermärker fasziniert und ihm das Weib entbehrlich macht, übt auch die verheerenden Wirkungen sexueller Zügellosigkeit; Richter werden befangen, und sie wissen nicht mehr, warum sie eine Ungerechtigkeit begehen … Aber war die Angeklagte nicht auch sympathischer als die Zeugen, die, jeder ein Bündelchen Reisig unterm Arm, herbeigeeilt waren, den moralischen Scheiterhaufen zu erhöhen? Da ist der Stationsvorstand von Mürzzuschlag, dem’s bekanntlich „wie Schuppen von den Augen fiel: das muß eine Jüdin sein!“; und der sicherlich die Verspätung der Südbahnzüge den Künsten dieser Sirene zuschreibt. Uns ist es längst wie Schuppen von den Augen gefallen, daß die Südbahn eine jämmerliche Einrichtung ist, und wir würden wünschen, daß der Betriebsbeamte von Mürzzuschlag sich mehr um die Pünktlichkeit der Lokaltrains als um die Frage bekümmere, ob in seiner Station die Züge des Herzens normal verkehren. Aber daß die Angeklagte mit Lug und Trug sympathischer ist als jene überlebenden Beamten der Bezirkshauptmannschaft Mürzzuschlag, die im Prozeß verhört wurden, wird auch der überzeugteste Anhänger des Denunziantentums nicht bestreiten können. Die Herren hatten — hinter dem Rücken ihres Vorgesetzten, wo sie sich nach lieber Gewohnheit aufhielten — über die Ehre des Hauses Hervay Gericht gehalten und das Resultat ihrer Vorlebensstudien dem trefflichen Statthalter, der sogleich das Weitere verfügte, übermittelt. Die würdige Auslese des österreichischen Beamtenadels. Man kennt den Typus, der in den Nuancen des Musterknaben von der Bezirkshauptmannschaft, des Statthaltereigigerls und des schnappenden „Präsidialmopses“ immer derselbe bleibt. Er heißt in der Regel „Maria“, trägt ein Armband und hat ein Gesicht, dessen verblüffende Ähnlichkeit mit dem Gesäß des Landeschefs oder Ministers durch den engen Verkehr zu erklären ist und leider oft schon die peinlichsten Verwechslungen bei nachstrebenden Kollegen bewirkt hat. Der Angeklagten von Leoben wurde es sehr verübelt, daß sie über diese Sorte gesagt hatte: „So benehmen sich die Herren, die sich bei mir dick gefressen haben!“ Sie glaubte richtigstellen zu müssen, daß sie bloß gesagt habe, die Herren hätten bei ihr „die Beine unter dem Tisch ausgestreckt“. Der mildere Ausdruck entschuldigt hoffentlich die Angeklagte, aber nicht die Herren Zeugen, denen man ein reichliches Frühstück beim Bezirkshauptmann vor der Reise zum Statthalter schon zutrauen kann. Ungescheut und ohne das Bedenken, einen Scheinheiligenschein zu lädieren.

Die „Lügen der Frau Hervay“! Mir sind sie sympathischer als die Wahrheiten eines Staatsanwalts. Und einer, der das Leben besser kannte als Herr Reimoser, nämlich Oscar Wilde, ließ seinen Lord Henry sprechen: „Ich liebe Männer, die eine Zukunft, und Frauen, die eine Vergangenheit haben.“ In seinem Dialog über den „Verfall der Lüge“ aber lesen wir: „Athene lacht, als sie die ränkevollen Worte des Odysseus vernimmt, und die Pracht der Lüge schmückt die bleiche Stirne der makellosen Helden Euripideischer Tragödien und stellt die junge Braut einer der herrlichsten Oden des Horaz unter die edelsten Frauen der Vergangenheit“. Wer sich die Erkenntnis von der ethischen Unbeschwertheit der Frauenseele erobert hat, wird über die Spießbürgerentrüstung, die gegen eine lügenliebende Frau nach kriminellem Schutz oder psychiatrischer Hilfe ruft, eine Lache anschlagen. Auch über Herrn Maximilian Harden, der, wiewohl der Fall seinem publizistischen Interessengebiet fernliegt, sich eigens entschlossen hat, seine Lesefrüchte aus den Gärten der „pseudologia phantastica“ auszustellen. Aber er kann — der unvermeidliche Nachtrab im Feldzug gegen eine Frau — sein moralisches Entsetzen nur mühsam verbergen. „Sie kommt aus Nizza, wohnt im Hotel und benimmt sich so, daß ein Herr wagen kann, sie keck anzureden.“ Das schreibt nicht etwa jener Kölner Pastor, den der ›Simplicissimus‹ verulkt, sondern der auf Berliner Bahnhöfen verbotenste Freigeist des neuen Deutschland. Und immer wieder bekennt er das tiefste Mitgefühl ob der „Enttäuschung“ des Mürzzuschlager Bezirkshauptmanns, daß „Bellachinis Tochter“ keine Jungfrau war. Dafür aber auch die Genugtuung über die rächende Gerechtigkeit der Volksseele: „Das Hotelpersonal wird befragt; und festgestellt, daß die Freifrau, als sie schon Hervays Ring am Finger trug, zärtliche Zusammenkünfte mit einem Oberleutnant hatte.“ Der Bezirkshauptmann „war unter den Legitimen der Fünfte; die Zahl der Illegitimen wäre, da zwei Erdteile die Schauplätze dieses Erlebens waren, sicher nicht zu ermitteln.“ Ja, wenn eine Wochenschrift über den Apparat des ›Neuen Wiener Journals‹ verfügte! Herr Harden hat ohnedies getan, was er tun konnte. Er ist, wie immer, gebildet und informiert. In objektiver Beziehung hält er den verbrecherischen Tatbestand der Eitelkeit und Verlogenheit für „festgestellt“. Aber er möchte die Angeklagte bloß mit einem psychiatrischen Gutachten bestraft wissen. „Ich glaube, das Urteil hätte anders gelautet“, schreibt er, „wenn den Richtern nicht das Wichtigste aus dem Vorleben der Angeklagten unbekannt geblieben wäre.“ Das Wichtigste ist, daß sich von ihr schon in der Jugend „die Schwester, die eines ehrenwerten Holzhändlers brave Hausfrau wurde, zurückgezogen“ hat. „In Eberswalde“ wurde sie „wegen chronischer Unwahrhaftigkeit und Faulheit aus der Pension entfernt, in Berlin wegen derselben Eigenschaft aus der Höheren Töchterschule der Frau Burtin gestoßen.“ „Kein Schulmädchen“ habe „neben ihr mehr sitzen wollen“. Man begreift wirklich nicht, warum Herr Harden, wenn er solches wußte, so lange geschwiegen und sich nicht freiwillig als Zeuge in Leoben gemeldet hat. In wichtigen Fällen der Rechtsfindung zu dienen, ist eine Pflicht, der man auch ohne Aufforderung nachkommen soll. Herr Harden konstatiert ja selbst, daß „das Ermittelungverfahren bis an die Spree nicht gereicht“ hat. „Festgestellt“ ist bloß „außerehelicher Verkehr mit zwei Oberleutnants der österreichischen Armee“. „Für diese Charge“, setzt Herr Harden zartsinnig hinzu, „hat sie offenbar eine Schwäche“. Vielleicht haben die Leser der ›Zukunft‹ aus anderen Blättern ersehen, daß in Leoben ein Prozeß wegen Bigamie geführt wurde, und werden nun glauben, daß Herr Harden dieses Delikt als doppelten Ehebruch auffaßt. „In foro festgestellt“ ist nach seiner Darstellung übrigens auch „das nizzaer Leumundzeugnis“, das die Angeklagte belastet. Wenn er den Gerichtssaalbericht noch einmal mit freundlicherem Auge liest, wird er finden, daß die Stelle, die ihm vorschwebte, etwas ausführlicher wie folgt lautet: „Zur Verlesung gelangt noch eine Note des Konsulats in Nizza, in der es heißt, daß Frau von Lützow eine notorische Schwindlerin und mit Zuchthaus vorbestraft ist. Dagegen bestätigt der Präfekt von Nizza, daß es sich bei dieser Auskunft um eine andere Frau von Lützow handle. Die Angeklagte habe vielmehr einen tadellosen Lebenswandel geführt. Unter Tränen erklärt nun die Angeklagte, daß sie häufig mit dieser vorbestraften Frau von Lützow zu ihrem Unglück verwechselt worden sei.“ Sehr übel vermerkt Herr Harden, daß sie (die kein ganzes Kleid besaß) sich — vom Verteidiger — „das Nötige erpumpte“ und in eleganter Trauertoilette auf der Anklagebank Platz nahm. Und direkt stilwidrig war das Benehmen der Angeklagten in der Verhandlung. „Als der Präsident sie an ihre Vorspiegelung einer Riesenerbschaft erinnerte, gellte aus ihrem zarten Munde der ostberlinische Hohnschrei durchs alte Dominikanerkloster: ›Da lachen ja die Hühner!‹“ Diese Frau wußte das Glück, in einem früheren Dominikanerkloster eingesperrt zu sein, so wenig zu schätzen! Wie muß sie sich erst in dem minder ehrwürdigen Krankenhaus haben gehen lassen, als sie, wie’s damals hieß, „über und über mit blau- und wundgeschlagenen Stellen bedeckt, körperlich und geistig gebrochen“, zum zweitenmal dort eingeliefert wurde! In einem katholischen Grazer Blatt wurde ihr Zustand geschildert, wurde daran erinnert, daß „auch der wildeste Jäger ein wundes Tier nicht zu Tode hetzt“, und zwischen den Zeilen die Vermutung ausgesprochen, daß es auf eine natürliche Beseitigung der großen Justizverlegenheit abgesehen sei. Und da — in so ernstem Milieu — hat diese Frau den schlechten Geschmack, zu behaupten, daß die Hühner lachen! … Sie lachen bloß über Herrn Harden, den die höchste moralische Empörung doch nie seine Bildung vergessen läßt und der einer Kuhmagd die Worte in den Mund legt: „Der (der getäuschte Bezirkshauptmann) kann in der Brautnacht ein Mensch nicht von einer Jungfer unterscheiden und will im Mürzbezirk hier der Höchste sein!“ Ob den steirischen Kuhmägden der preziöse Stil des Herrn Harden geläufig ist, weiß ich nicht. Möglich, daß sie seine Gesinnung teilen … Das Bekenntnis zum Fall Hervay ist von den sozialkritischen Verirrungen dieses Mannes die traurigste. Nichts wiegt die Enttäuschung des armen Bezirkshauptmanns gegen die meine, da ich durch Jahre an die Echtheit dieses publizistischen Charakters geglaubt habe.

… Aber in den Gerichtsakten des Falles Hervay — wahren Racheakten der Biederkeit und guten Sitte — ist mehr verewigt als eine schlechte Prozeßleitung und ein falsches Urteil, und der ahnungslose Schriftführer des Leobener Kreisgerichts hat seinen Beruf zum Kulturgeschichtsschreiber erwiesen. Was sich zwischen Juni und Oktober in Obersteiermark abgespielt hat, gleicht der Austreibung des Teufels aus einer „Besessenen“, gleicht mittelalterlicher Exorzisierkunst wie ein Leobener Richter einem Büttel. Das muß ausgesprochen werden, mag die Aufklärung heute noch so sehr kompromittiert, mag das Geistesleben durch liberale Druckerschwärze mehr getrübt sein als durch das Dunkel versunkener Zeiten. Das muß gegenüber dem Toben einer antisemitischen Presse ausgesprochen werden, die sonst schärferer Kontrolle nicht bedarf, weil sie — neben der jüdischen — einen geringeren Grad von Gefährlichkeit dem höheren Grad von Talentlosigkeit dankt. Im ›Deutschen Volksblatt‹ ist die publizistische Verbindung zwischen Hexenglauben und Gegenwart hergestellt, und in der engstirnigen Roheit, die von dem „teuflisch gearteten Judenweib“, von dem „modernen Vampyr“ leitartikelt und über das Leobener Prozeßergebnis jubelt, hören wir verirrte Stimmen aus jenen Zeiten, da der Berichterstatter eines Hexengerichts melden konnte: „Da nun sie so gebundener auf dem Stuhl gesessen, hat der Scharpfrichter mit Gehülf ihr die beiden Hauben vom Kopf genommen, und als ein Spolium in seinen Schubsack gestecket, hernach ihr den Hals entblößet, und eine schwarze Haube aufgesetzt, wo mittler Zeit der Kitzinger Scharpfrichter das Schwert entblößt, und mit einer so ausnehmenden Geschicklichkeit den Kopf abgehauen, daß alle umstehende das vollkommenste Vergnügen über diesen so glücklichen Vollzug haben verspühren lassen.“ Aber lachende Henker sind stilvoller als Henker, über die man lachen muß. Und ist’s nicht spaßhaft, wenn das ›Deutsche Volksblatt‹ gegen die „raffinierte Person“ ins Treffen führt, daß sie — ich zitiere wörtlich — „schlau genug gewesen war, ihre Handlungen so einzurichten, daß die gerichtliche Untersuchung das Substrat für eine Betrugsanklage nicht lieferte, so daß die Staatsanwaltschaft nur die Beschuldigung wegen Bigamie erheben konnte“! Wie wahr ist das! Arische Ehrlichkeit begeht einen Betrug und fällt herein. Aber wenn erst das ›Deutsche Volksblatt‹ wüßte — was ich aus sicherer Quelle weiß —, daß die Hervay auch so schlau war, keinen Hochverrat zu begehen, so daß die Staatsanwaltschaft einfach düpiert und beim besten Willen nicht in der Lage war, auch die Anklage wegen Hochverrats zu erheben! … Wo Niedertracht aufreizt, ist Dummheit immer ein versöhnendes Element; und die blutigste Angelegenheit wird komisch, wenn die „kerndeutschgesinnte Bevölkerung von Mürzzuschlag“ gepriesen und eine Frau beschimpft wird, die in der zweitägigen Verhandlung die einzige deutsch redende Person war, — wenn der Mund des Deutschtums voll ist und das Herz in dem folgenden Satzmonstrum übergeht: „Die Judenpresse nahm von allem Anfange für das skrupellose Weib Partei und gebärdete sich geradezu wie toll, als man es wagte, die Person, deren mehr als bedenkliche Vergangenheit und deren Machinationen, um den nur allzu leichtgläubigen letzten Gatten einzufangen, der sein übergroßes Vertrauen schließlich mit dem Tode bezahlte, vollkommen hinreichten, um den Verdacht eines begangenen Betruges zu rechtfertigen, zu verhaften.“ Und ist nicht auch der Kretinismus, der die Parteinahme für eine Mißhandelte der „jüdischen Solidarität“ zuschreibt, seines Lacherfolges sicher? Ich allein könnte mit Leichtigkeit hundert „Arier“ — ohne Anführungszeichen sollte das dumme Wort gar nicht mehr gebraucht werden — aufzählen, die in und nach den Prozeßtagen ihrem Entsetzen über jeden Satz, der in Leoben gesprochen wurde, beinahe ekstatischen Ausdruck gegeben haben. Über eine Unbarmherzigkeit, die da rief: „Sie waren so untergebracht, wie es sich für Sie gehört!“, die selbst gegen den Wunsch des Staatsanwalts die Enthaftung der Verurteilten mit einem „Marsch! Abführen!“ versagte, um sie später für eine unerschwingliche Summe zu bewilligen. Nie hat ein Gerichtsfall so allgemeine und nachhallende Erbitterung geweckt, nie hatte man so sehr den Eindruck, daß in der öffentlichen Wertung Richter und Verbrecher die Rollen getauscht hatten, nie waren die Vorsichtigsten und die Unabhängigsten, Christ und Jud, Hoch und Nieder, Beamte und Privatleute, Hofräte und Libertiner so einig. Einig in dem psychologischen Begreifen, einig in der Verdammung einer Justiz des Hasses, die nach einem in der Gegenwart beispiellosen Beweisverfahren mit steinerner Ruhe ihr Vorurteil verkündet hat. — —

Mürzzuschlag ist entsühnt, die Frau, die mit Einem heimlich anfing, unschädlich gemacht, und die Befürchtungen der obersteirischen Kaffeekränzchen, daß „bald ihrer mehre dran kommen“ und daß die Hervay, wenn sie erst ein Dutzend Honoratioren hat, auch die ganze Stadt haben werde, sind nicht erfüllt worden. Die übelriechende Tugend hat über das soignierte Laster gesiegt. Aber Dichter haben dies Motiv, das in Mürzzuschlag zu einer wahren Simandltragödie zu erwachsen drohte, stets als eine Quelle heiteren Ergötzens in Ehren gehalten und — Maupassant wie Liliencron — die Schadenfreude über die Blamage der Korrektheit nicht zu verbergen gesucht.

Sie ist schon an die fünfzig heran

Und stellt noch immer ihren Mann.

Im Dorf gibt’s eine Kirchenfeier und nachher wird getanzt.

Was? Auch der Herr Baron von der Eichen,

Dieser fromme Mann ganz ohnegleichen,

Bewegt sich mitten im Tänzerkreise

Und tanzt eine lustige Walzerweise

Mit der Dame, die heute früh angekommen

Und an dem Seelenfest teilgenommen?

Aber plötzlich läßt dieses Lamm aller Lämmer

Jählings fallen seinen Klemmer.

Nahm seine Tugend überhand?

Hat er sie einstmals vielleicht gekannt?

Und er löst sich los von der städtischen Taube,

Und macht sich regelrecht aus dem Staube.

Herr Kandidat Bozi, ein hübscher Junge,

Denkt, da bin ich mal schön im Schwünge,

Und tanzt auch mit der „Dame aus der Stadt“,

Die sein schüchtern Herz gefangen hat.

Ja, später hat er, jasminenumlaubt,

Ihr gar ein leichtes Küßchen geraubt,

Und träumte dann die ganze Nacht,

Wie ihn dies Küßchen so selig gemacht.

Frivol, nicht wahr? Aber im Leben geht es seriös aus, wenn einer glaubt, daß an dem schlechten Aussehen einer „Sechsundzwanzigjährigen“ die Tropen schuld sind, und später versichert: „Bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, daß ich von einem unberührten Wesen Besitz ergriffen habe“. Das sexuelle Tirolertum endet meistens letal Oder es staut sich zu einem Haß gegen das Leben, der jede Regung, die es selbst unterdrücken muß, bei Anderen brünstig verfolgt. Der Wahn, daß geschlechtliche Betätigung sittliche Wertminderung bedeute, erzeugt eine Verbissenheit, die ihre Orgien in der Kontrolle des Freien genießt. Die Überzeugung liegt im ewigen Kampf mit der eigenen Natur; unterliegt sie, ist sie durch die Bewußtheit der Sünde zweifach geschwächt und nimmt Rache an der Natur — des Andern. Plötzlich hört man aus irgend einem Gebirgswinkel, daß ein Gerichtsvorsteher zwei Liebesleuten die Alternative gestellt hat, zu heiraten oder auseinanderzugehen. Geschlechtsneid, meine Herren; der sich doch wenigstens feindselig mit den Dingen befassen will, auf die er wie gebannt starrt, deren Namen (Kokotte, Konkubinat) seine Einbildungskraft beschäftigen und auf deren Genuß er von amtswegen verzichten muß. Dieses Leben eines österreichischen Kriminalbeamten, der die außereheliche Liebe als ein „unerlaubtes Verständnis“ betrachtet und neben jeder „beischlafähnlichen Handlung“ einen Paragraphen aufsteigen sieht, muß ein grauenvolles sein. Kaum gewährt es den Ärmsten, die andere nicht leben lassen, Selbstbefriedigung. Denn der österreichische Richter, der dabei betreten ward und nicht avancieren durfte, ist gewiß eine typische Erscheinung Ihr, die ihr Triebe des Herzens verkennt, sagt, warum rächt ihr euch am Leben? Warum pfuscht ihr beständig dem Herrgott ins Handwerk? Und warum spielt sich der jüngste Richter immerzu als jüngstes Gericht auf? Warum erkühnt ihr euch, der von Seelenkennern „unerforschten Macht des Weiberwillens“ mit der Paragraphenschlinge beikommen zu wollen, führt ein Hochgericht auf, so grausam, so abnorm in seinem Gang und Urteil, „daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir, sich sterblich lachen würden“! …

Der ewige Milderungsgrund für eine verurteilte Justiz: sie weiß nichts vom Leben. Und wenn sie sagt, daß eine Frau bereits im fünften Monat ist, so meint sie gewiß die Untersuchungshaft … Aber hinter ihr steht eine Regierung, die für die Aufstellung von Spucknäpfen sorgt und humane Erlässe herausgibt, in denen es heißt: „Das Strafverfahren ist bestimmt, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, nicht aber dem Sensationsbedürfnis zu dienen. Überdies entspricht es dem berechtigten Verlangen nach Sühne weit mehr, wenn in solchen Fällen das Verfahren in rascher Folge nach der Tat abgeschlossen wird, als wenn nach weitläufigen, der Sache selbst nicht dienenden Erhebungen bei der Hauptverhandlung ein unverhältnismäßiger Apparat in Szene gesetzt wird.“ Und: „Stets ist streng darauf zu achten, daß Untersuchungshaft überhaupt nur dann zu verhängen ist, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen zweifellos vorliegen … Keinesfalls ist es zulässig, sich bei Beantwortung der Frage, ob Haft zu verhängen sei oder nicht, durch äußere Erscheinungen, etwa durch das mit der Tat verbundene Aufsehen bestimmen zu lassen.“ Kann man mehr verlangen? Höchstens eines: Mehr Spucknäpfe!