Der Sündenpfuhl
Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus zwei Arten von Männern, aus solchen, die sagen, irgendwo sei eine Lasterhöhle ausgehoben worden, und solchen, die bedauern, die Adresse zu spät erfahren zu haben. Die Einteilung hat den Vorzug, daß sie sich auch in einer und derselben Person vollzieht, weil nicht Gegensätze der Weltanschauung, sondern nur Umstände und Rücksichten für die Wahl des Standpunktes maßgebend sind. Man würde aber fehlgehen, wenn man glauben wollte, daß die Sittlichkeit und die Sinnlichkeit ruhig nebeneinander wirken; sie greifen vielmehr ineinander und sind unaufhörlich damit beschäftigt, ihre Kräfte gegenseitig zu steigern und ihr Objekt zu vergrößern. Jetzt sind es gerade 1908 Jahre, daß dieser eifersüchtige Kampf zweier Lebensprinzipe andauert, in welchem die Entrüstung sich an der Begierde und die Begierde an der Entrüstung nährt, in welchem die Welt immer moralischer wird, je unsittlicher, und immer unsittlicher, je moralischer sie wird. Es würde am Ende gar keine Lasterhöhlen mehr geben, wenn sie nicht ausgehoben würden, denn bis zu dem Zeitpunkt, da eine ausgehoben wird, ist sie ein Asyl des bürgerlichen Friedens. Die Phantasie wälzt sich auf Lotterbetten, und die Sittlichkeit ist die Enttäuschung darüber, daß es kein Laster gibt. Sie schließt die Augen vor einem Sündenpfuhl; denn wenn sie ihn sähe, würde sie sich mit Recht über Langweile beklagen. Sie wendet sich von Abgründen der Unmoral, deren Gähnen eine ansteckende Wirkung hat. Das bißchen Laster, das hin und wieder in deutschen Gegenden zustande kommen mag, ist nur eine Folge der übertriebenen Gerüchte, die darüber verbreitet werden. Um nicht zu weit hinter ihrem Ruf zurückzubleiben, tut die Unsittlichkeit manchmal so, als ob sie da wäre; die Blamage ist noch immer groß genug, wenn an den Tag kommt, was da an den Tag gekommen ist. Nur Staatsanwälte und Bohemiens glauben an das Laster. Wenn irgendwo in einem separierten Zimmer zwei Leute gesessen sind, so muß nicht die Bibel gelesen worden sein; aber aus der Beobachtung, daß das Zimmer versperrt war, geht auch noch nicht hervor, daß eine schwarze Messe gelesen wurde. Nur das Dunkel, das heutzutage über eine gottgefällige Handlung gebreitet wird, hat diesen Glauben genährt. Man ahnt gar nicht, wie sündenrein das Leben verliefe, wenn die Moral nicht Anstoß nähme. Seitdem ich einmal gehört habe, wie eine Unschuld vom Lande durch die Bemühungen einiger Idealisten aus einer Lasterhöhle der Großstadt gerettet und der Familie zurückgegeben wurde, und seitdem ich weiß, was dann weiter geschah, wie das Mutterauge sie doch erkannt und der Vater zur Blutschande überredet hat, und wie sie sich am andern Tag aus den Familienbanden in die Lasterhöhle rettete, die nichtsnutzige Person, seitdem weiß ich, wie berechtigt der Abscheu vor dem Laster ist. Ach, die Perversität des Lebensgenusses zeigt uns in Haus und Gesellschaft ihre abschreckendsten Formen und schafft das Bedürfnis, von Zeit zu Zeit in ein Bordell zu gehen und sich wieder daran erinnern zu lassen, daß Reinheit des Empfindens ein unverlierbares Gut ist. Und wo kommt denn noch heute, in dieser Welt des Zerfalls, die bürgerliche Gesittung zu Ehren, wenn nicht bei den paar Kupplerinnen? Um ihretwillen müßte Sodom vor Zerstörung bewahrt bleiben. Sie haben sich in die Bresche gestellt und standhaft der Unmoral gewehrt, die aus der Familie, aus Schulen und Klöstern in die Bordelle einzudringen drohte. Aber sie trotzen auch der Verleumdung. Diese behauptet, daß ihre Häuser sich die vornehme Abgeschlossenheit zunutze machen, um erotischen Vergnügungen als Schauplatz zu dienen. Soll man sie ernstlich gegen einen Vorwurf verteidigen, der der verdorbenen Phantasie der bürgerlichen Gesellschaft entstammt? Die Kupplerinnen dienen einer schlichten Naturnotwendigkeit, die den ethischen Vorzug hat, daß sie die Beteiligten nicht für das ganze Leben aneinanderkettet und wenigstens nach ihrer Erledigung jeden nach seiner Fasson selig werden läßt. Sie gewähren der Erotik, die eine abgefeimte Betrügerin an der Natur ist, keinen Unterschleif, sie servieren die Hausmannskost ohne Gewürze, sie weisen mit Entrüstung jede Extravaganz zurück, die vom horizontalen Pfad der Sitte abweicht. Wir leben ein jammervolles Dasein der Illusionen, und nur bei den Kupplerinnen ist Wahrheit. Selbst ihre Lügen wurzeln in der Realität und sind noch immer verläßlicher als unsere Einbildungen. Sie teilen die Erscheinungen des Lebens in schwarz und blond ein, oder in groß und klein, oder in stark und schlank; sie haben eine Ästhetik, die in jedem Seminar tradiert werden könnte. Ihr Haus ist in allen Beziehungen das Abbild einer entschwundenen sozialen Ordnung. Die Welt ist vom Wahn der Gleichheit beherrscht — hier gibt es noch Klassengegensätze. In der Welt kann der Unterschied zwischen einer Adeligen und einer Bürgersfrau mit Geld überbrückt werden — hier bezeichnet das Geld die Rangstufe und keine adelige Gesinnung vermöchte den sozialen Abstand zwischen zwei Kupplerinnen wettzumachen. Aber die Kupplerinnen sind nicht nur ein Kitt des gesellschaftlichen Lebens, das in der Zeiten Unrast zerfällt, sie sind auch eine Staatsnotwendigkeit, an deren Erhaltung die höchstgestellten Personen ein Interesse haben, und es gibt politische Gemeinschaften, in denen man eher mit dem § 14 regieren kann, als ohne die Frau Löwy. Und da man diese auch dringender braucht als einen voreiligen Staatsanwalt, der es auf ihren Hausfrieden abgesehen hat, so kann es geschehen, daß sie ihn in der Karriere überflügelt. Eine soziale Schädlichkeit der Kupplerinnen wäre überhaupt nur in ihrer Geneigtheit zu erblicken, das Risiko der gesetzlichen Strafe zu ein bißchen Ausbeutung zu benützen. Aber man wird nicht sagen können, daß sie mehr Wucher treiben als unbedingt notwendig ist, um sich in der bürgerlichen Gesellschaft zu behaupten. Solange die Kupplerinnen den Staat nicht um die Steuer betrügen, liegt kein Grund vor, ihre Ehrenrechte anzutasten und ihnen etwa auch jene Titel abzuerkennen, die zu fuhren sie berechtigt sind; denn manchmal nennen sie sich Doktorin, Professorin, Rätin oder dergleichen und heben sich schon dadurch von den vulgären Gelegenheitsmacherinnen ab, die infolge schlechter Geschäfte fortwährend eine Verfolgung zu gewärtigen haben. Tatsächlich gelangen manche Kupplerinnen zu hohem Ansehen und bringen es zuweilen sogar zu einer präsidierenden Stellung in einem Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels. In jedem Zweig der sozialen Hilfstätigkeit sind sie vertreten, und als einmal an eine die Frage gestellt wurde, was denn ein halbwüchsiges Mädchen bei ihr zu suchen habe, meinte sie, zu Hause werde das Kind nur verdorben, weil die Mutter Liebhaber empfange, und auf die Frage, ob die Abwesenheit des Mädchens zu so später Stunde nicht dennoch auffällig sei, hatte sie die selbstbewußte Antwort: „Erlauben Sie, mein Herr, die Mutter weiß doch, wo das Kind ist!“ Als sie später verhaftet wurde, war das Bedauern allgemein. Sie hatte viel für die Witwen und Waisen getan, und kein Polizist war unbeschenkt von ihrer Schwelle gegangen. Man fragte sich denn auch mit Recht, seit wann es Sitte sei, Wohltäterinnen bei Nacht und Nebel ins Gefängnis zu bringen. Es war ein Ausnahmsfall. Die Polizei ist durch Schaden klug geworden und hütet sich in der Regel vor den früher so beliebten Mißgriffen. Es mag noch hin und wieder vorkommen, daß statt einer anständigen Frau eine Kupplerin belästigt wird, aber der Schrei der Entrüstung, der dann jedesmal durch die Öffentlichkeit geht, mahnt die Behörde zur Vorsicht. Es versteht sich von selbst, daß die meisten Kupplerinnen Schutzpatroninnen der Kirchen ihrer Heimat sind und das Geld, das sie durch ihre wohltätige Wirksamkeit verdient haben, gemeinnützigen Zwecken wieder zukommen lassen. Der künstlerische Geschmack und der religiöse Sinn des deutschen Hauses, in der bürgerlichen Gesellschaft vielfach durch Snobismus und Heuchelei entstellt, finden sich nur noch bei ihnen vertreten. Schon im Vorzimmer fällt einem das Muttergottesbild auf, das man nicht in allen Bürgerswohnungen trifft, und während es kaum ein Familienheim mehr gibt, das nicht den traurigen Ehrgeiz hätte, von Van de Velde eingerichtet zu sein, wird hier noch der altdeutsche Stil in Ehren gehalten. Eine stehengebliebene Pendeluhr zeigt, daß dem Glücklichen keine Stunde schlägt, ein tönernes Schwein dient keiner versteckten Symbolik, sondern der Sparsamkeit, und über dem Bett hängt eine idyllische Alpenlandschaft, in der Kühe grasen und Stiere sichs wohl ergehen lassen. Auch muß man sagen, daß die Kupplerinnen streng dynastisch fühlen, und zwar zumeist für das serbische Königshaus. Sie datieren die Weltgeschichte von der Zeit, da die Obrenowitsch noch in Blüte standen, und bezeichnen den Königsmord als Wendepunkt in der Entwicklung des Freudenlebens. Ergreifend wirkt die aus tiefer Geschichtsauffassung geschöpfte Klage: Wenn der Alexander statt der Draga, die an allem schuld war, die Finerl geheiratet hätte, die er „durch uns kennen gelernt hat“, alles wäre anders gekommen — „da hätt‘ es kein Gemetzel gegeben!“ … Solche und hundert ähnliche Erkenntnisse kann man aus dem Munde erfahrener Kupplerinnen empfangen, wenn man auf den Wahn verzichtet, bei ihnen Abenteuer zu finden. Die gesunde Ahnungslosigkeit, mit der sie dem Laster gegenüberstehen, gleicht die übertriebenen Vorstellungen, die die Welt von ihrer Tätigkeit hat, durch einen Humor aus, der besser ist als jeglicher Sinnenkitzel. Die Naivität, die in einer Lasterhöhle wohnt, lebt selbstzufrieden dahin und gerät in grenzenloses Staunen, wenn es der Zufall wirklich einmal will, daß sie dort ausgehoben wird. Dann aber hat der Humor ein Ende, die Kupplerinnen werden aus einem Erwerb gestoßen, mit dem alle Beteiligten einverstanden waren, und versinken rettungslos im Sündenpfuhl der bürgerlichen Gesellschaft.