Der vertikale Traum

Reportage
zuerst erschienen am 5. Januar 2010 in Die Welt

Ende 2009 kündigte das Wüstenemirat Dubai an, seine Zinsen auf Kredite in zweistelliger Milliardenhöhe nicht mehr zahlen zu wollen, und war mit einem Schlag der Buhmann der globalen Finanz- und Wirtschaftswelt. Aktienkurse purzelten, Bauriesen stellten ihren Betrieb ein, Unternehmen verschoben den Börsengang, die weltweite Krise schien sich weiter zu verschärfen. Da in der islamischen Kultur Gesichtwahrung fast über alles geht und Schuldenmachen als illegal und amoralisch gilt, kann man sich vorstellen, wie schlimm es am Golf stehen musste. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, die Stadt schien ausgepowert und mitten ins Herz getroffen. Sie brauchte finanzielle Unterstützung, und mehr noch, so etwas wie einen einen Herzschrittmacher.

Dass Dubai nicht verloren war, zeigte sich schon zwei Monate später, als in einem zentralen Distrikt, der Old Town heißt, obwohl er noch gar nicht zuende gebaut war, der Burj Chalifa eröffnet wurde, das höchste Bauwerk der Welt. Der Eröffnungstermin war ein paar Mal verschoben worden und fiel schließlich auf den vierten Jahrestag der Regentschaft des Herrschers Mohammed Al Maktoum. Scheich Mohammed galt als der Architekt von Dubais Aufstieg, und seit kurzem auch als entscheidender Akteur in der Krise. Die Inauguration, zu der sich reichlich Prominenz angesagt hatte und zu der mehr als tausend Sicherheitskräfte eingesetzt wurden, sollte ein Zeichen dafür werden, dass der Dubai als ehrgeiziger Entwurf einer neuen Form von Urbanität seine Zukunft nicht aufgegeben hatte.

Die technischen Daten ließen vielen Wolkenkratzerfreaks weltweit den Puls schneller schlagen: Der Turm ist mindestens 800 m hoch und überragt damit die bisherige Nummer Eins, den Tower 101 in Taipeh, um schlappe dreihundert Meter. Hundertsechzig Stockwerke hat der Burj, in 87 Fahrstühlen werden Menschen mit bis zu 9 m/s transportiert. Die Lifte (keiner legt die gesamte Strecke in einem zurück) sind eine Spezialentwicklung und benötigen nur halb soviel Energie wie gewöhnliche, und die 55 Millionen Liter Kondenswasser, die die Klimaanlagen jährlich produzieren, werden für die Bewässerung eines 11 ha grossen Parks rund um den Turm wiederverwendet.

Die Majorität der weltweiten Dubai-Skeptiker hatte hingegen schon im Vorfeld zu verstehen gegeben, man lasse sich durch den Burj nicht beirren. Das sei doch wieder die alte Guinness-Rekord-Masche, mit der das Emirat seinen unerbittlichen Größenwahn untermauere: Dubai, das Babel des 21. Jahrhunderts, und der Burj Dubai ist der neue Turm zu diesem Babel.

Der Eindruck war berechtigt. Die einst für ihr Stadtmarketing weltweit bewunderte Metropole am Golf hatte sich mit ihrer Bankrotterklärung zum allgemeinen Gespött gemacht. Dubai sei nun endgültig abgebrannt, konnte man unverzüglich und überall lesen, und mit der kuriosen Blase am Golf platze auch der Traum von der schönen neuen Konsumwelt. Das teuerste Hotel der Welt, der Burj al Arab, die künstlichen Inseln The Palm und The World, die Baustelle für den weltweit größten Flughafen etc., all diese von Gigantismus zeugenden Projekte würden nun allmählich vereinsamen und sachte von der Wüste zurückgeholt werden.

Der Begriff des Babel im 21. Jahrhundert lässt sich aber nicht nur auf den Turm und die kühnen anderen Bauwerke der Stadt beziehen. Der Burj Chalifa repräsentiert einen vertikalen Traum von Emanzipation, die weit über Architekturentwürfe hinausgeht und auf die kulturelle und soziale Enwticklung der Emirate, ja der Golfstaten insgesamt Bezug nimmt.
Dubai ist tatsächlich Babylon. Mit Menschen aus allen Ländern der Erde, aus allen Religionen und Kulturen, die unser Planet zu bieten hat, mit einem Migrantenanteil von über 90 Prozent und dem Konzept einer Stadt, in der sich bisher friedlich und im angestrebten beiderseitigen Interesse traditionelle und moderne Nomaden zusammenfinden, ist Dubai auch ein sozialer Superlativ. Anbetracht solcher (direkten oder indirekten) Nachbarn wie Iran, Irak, Pakistan, Afghanistan oder Jemen, in einer Umgebung von religiösem Fanatimsus und poltischer Instabilität, nötigt Dubais Versuch, eine weltoffene Gesellschaft mit islamischem Hintergrund aufzubauen, Respekt ab, allen wirtschaftlichen und sozialen Schwächen zum Trotz.

Tatsächlich ist der Begriff von Babel ungerechtfertigterweise auch in unserer säkularen Gegenwart ausschliesslich negativ besetzt. Der Turmbau beschliesst die Unheilsgeschichten der Genesis im Alten Testament. Zuvor hatte Gott die Menschheit wegen ihrer widergöttlichen Lebensweise und Bosheit in einer Sintflut ausgelöscht. Einerseits erwies sich der Bau des Turms zu Babel als eine erneute hochmütige Annäherung an das Göttliche und zog eine weitere Demütigung der Menschen durch den Alten Gott nach sich. Andererseits ist der Turmbau auch als Versuch der Menschen interpretiert worden, sich inskünftig gegen eine neue tödliche Flut zu wappnen. Und mag der Gerechte Gott die Menschen auch für ihre durch den Bau zur Schau getragene Unbotmäßigkeit noch einmal bestrafen, er zerstört jetzt nur den Turm und nicht die ganze Schöpfung. Die Sprachverwirrung soll den Menschen, der sich von seinem Gott abgewendet hat, auch von seinesgleichen isolieren. Gott hat jedoch mit Noah einen Vertrag geschlossen und beschieden: Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan habe. (Gen 8,21)

Der Turmbau zu Babel steht also nicht für die erneute Unterwerfung des Menschen unter das Gesetz. Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen hat sich verändert. Babel kann auch als eine Emanzipationsgeschichte gedeutet werden.

Wer in den zurückliegenden Jahren durch Länder Afrikas, Arabiens oder Asiens gereist ist und auf Dubai zu sprechen kam, der konnte beobachten, dass sich die Stadt zu einem Symbol von sozialer Sicherheit und Wohlstand entwickelt hat. Für viele Menschen zwischen Casablanca und Karatschi, Mumbai und Djakarta sind Dubai und die Emirate am Golf eine Emanzipationsgeschichte. Über Jahrtausende zur Armut verdammte Beduinen versuchen sich von der alten (bis eben noch intakten) neokolonialen Abhängigkeit zu befreien und eine neue selbstbewusste Gesellschaft aufzubauen.

Wie immer bei Anfängen geht es auch am Golf zunächst mehr oder minder drunter und drüber, gibt es eine Menge Trümmer und Sprachverwirrung. Aber Dubai ist keine Diktatur, sondern eine sich modernisierende islamische Stammesgesellschaft. Der Herrscher muss seine Leute überzeugen und auf dem Weg in die Zukunft mitnehmen. Solange ihm das gelingt, erzielt er unter den einst beduinischen Emiraties eine starke Identifikation mit dem Modernisierungsprojekt.

Wenn heute Menschen und Kapital aus dem Westen in Dubai arbeiten, dann, weil sie von den Emiraties eingeladen worden sind, nicht, weil das der Westen so will. Wo Dubai heute aussieht wie eine Imitation unserer eigenen Kultur, sollte man sich nich täuschen lassen. Nachahmung wird von den Strategen am Golf nicht als Ziel, sondern als eine Durchgangsstation der eigenen Entwicklung gesehen. Einst, so heißt es in Dubai, wollen wir dem Westen auf Augenhöhe begegnen.

Damit bleibt das Wüstenemirat Vorbild für seine Nachbarn und unterdrückte Völker sonst irgendwo auf dem Globus. Die alte Politik des Neokolonialismus (des Alten Gottes) wird abgelöst durch eine neue Souveränität, die selbst über die Entwicklung im Land entscheidet. Dabei ist in den letzten beiden Jahrzehnten Vieles an Fortschritt erreicht worden, aber es ist auch zu fatalen Fehleinschätzungen gekommen. Im übertragenen Sinne könnte man sagen, mit der aktuellen Krise macht Dubai gerade seine Babel-Strafe durch.

Der Burj Chalifa steht dennoch. Und die Welt wird gut daran tun, weiter am Schicksal von Dubai und den Emiraten Anteil zu nehmen.