Die finsteren Kinder von Malibu
Mittwochnachmittag. Brise aus dem Westen. Malibublauer Himmel. Am Surfrider Beach ein schönes Bild. Surfbretter wackeln, dreißig Jungs im Wasser. Jeder trägt einen Wet-Suit, das Wasser im Pazifik ist zu kalt, um Hawaiimäßig darin herumzugondeln. Die Jungs warten. Sie warten wie an einer Ampel auf das grüne Licht. Sie warten auf die Welle. Wer sich vordrängelt, wird es bereuen. Rauf aufs Brett. Die Welle kommt von rechts, sie kommt regelmäßig. Jetzt Balance und Kraft, den Körper oben behalten. Es ist still da draußen. Die Welle flüstert nur. Am Strand ist wenig los. Ein paar Mädchen lungern auf Handtüchern. Sie gehen nicht umher, der Sand ist zu heiß. Er verbrennt die Fußsohlen.
Der Surfrider Beach ist kein Ort zum Flanieren, zum Bikinispaziergang, zum Herzeigen der neuen Brüste. Er ist eine Parallelwelt zum schimmernden Hollywood. Bisschen dreckig. Bisschen runtergekommen, bisschen verkifft. Gegen elf Uhr morgens hängen Marihuanaschwaden über dem Parkplatz. Der Strand ist sein eigener Film. Wer herkommt, kann nicht so einfach mitspielen. Auch nicht, wenn er Pilates-perfekte Beine vorzuweisen hat. Hier wird gesurft. „Als Anfänger darfst du hier nicht herkommen. Du musst erst richtig gut werden. Und selbst dann gibt es eine Hackordnung“, erzählt ein Film-Editor aus der Nachbarschaft. Hier ist an diesem Mittag: ein zahnloser Dokumentarfilmer. Ohne Telefon oder Visitenkarte. Er hat seine Jugend am Surfrider Beach verloren. Er muss jeden Tag herkommen und irgendwas filmen, die vergessene Jugend wiederfinden.
Vergessen funktioniert am Surfrider Beach optimal. Die Gedanken schalten nach einer Stunde ab. Woran liegt das? An den Marihuanawolken, die ab und zu vorbeiziehen? Die eigene Person zerfällt. Wer bin ich, und wo geht’s hin, wenn ich aus dem Wasser komme? Vermutlich dahin zurück. Seit den frühen 50er Jahren ist dieser Strand berühmt.
Hier surften die ersten Helden einer neuen Sportkultur. Doch hier war nie der Ort für geschäftstüchtige Profisurfer wie Laird Hamilton, die lässig zwischen Hawaii und Malibu hin und her pendeln. Der Strand ist kein Ort für nette Typen aus Kalifornien oder Hippies. Es war immer der Strand für Soziopathen. Ein Menschentyp frei von Mitgefühl oder Weltverbesserungsideen. Die meisten Jungs stammten aus reichen, aber kaputten Beverly-Hills- und Hollywood-Familien. Sie flüchteten an den Strand, um hier ihre Alkoholikermütter und unterkühlten Väter zu vergessen. Tom Wolfe schrieb 1961 über die Surfjungs: „Beinahe jeder kommt aus einer guten Familie.“
Nicht ganz. Auch Immigrantenkinder ohne Finanzbackground surften hier. Hier ging es um die Wellenperformance. Um Surfen, Parties, Sex, Trinken und Surfen. In den 50er Jahren gehörte der Strand der dunkelsten Seele von Malibu: Miklos Sandor Dora aka Miki Dora. Miki trug den Namen „Da Cat“, die Katze, weil er auf dem Brett so leicht und elegant aussah. Niemand verstand die Wellen besser als Miki, Sohn ungarischer Immigranten.
Woher Miki kam und warum, spielte hier keine Rolle. Miki galt als der König von Malibu, als der schwarze Prinz vom Surfrider Beach. Miki hatte drei grundlegende Eigenschaften neben seinem Surftalent. Er war unfreundlich, aggressiv, er galt als Ladykiller. Wenn er nicht surfte, arbeitete er erfolgreich als Kreditkartenbetrüger. Miki trug Haare auf den Schultern und jede Menge auf der Brust, sein James-Garner-Lächeln, sein V-förmiger Oberkörper ließen die blonden Jungs und Mädchen aus den WASP-Haushalten an Verbotenes denken. Das klingt nach Drehbuchmaterial und Leonardo di Caprio hatte sich vor Jahren sogar überlegt, Dora zu spielen. Doch daraus wurde nichts. Eventuell war Miki zu düster, zu psycho für die Leinwand. Und für Typen wie Miki wartet nie ein gutes Ende.
Hollywood hat es nie bis zum Surfrider Beach geschafft. Hier war nie ein Ort für Aufsteiger. Wer arm war, erwartete hier niemanden, der ihn reicher machen könnte. Milliardäre und Obdachlose treffen sich an diesem Strand, sie surfen im selben Wasser, ab und zu tauschen sie ein paar Worte. Dabei bleibt es.
Damals galt das Milliardärsdasein ohnehin nicht erstrebenswert, dafür das leicht zu finanzierende Wellenleben. Man arbeitete drei Stunden am Tag als Gemüseauspacker beim Safeways Supermarkt und lebte von 18-Cent-Cheeseburgern. Alles egal. Der Surfrider Beach war es wert. Die Wellen diktierten das Leben, nicht der Berufsberater oder die glänzende Zukunft im Job. Dann, Anfang der 60er Jahre, entdeckt das LIFE Magazin den Strand und dessen Könige. Solche Typen hatte Amerika bisher nirgends gesehen. Surfer waren keine Superathleten, die Republikaner wählen, sondern schöne, ungesunde Outlaws. Autisten mit eigener Sprache. Ende der Fünfziger gehörten das Surfen und der Beach-Aufenthalt dann zur Popkultur. Bücher und Filme über Surfen machten die Runde. Am Surfrider Beach wurde es voll. Die Welt kam vorbei. Das passte nicht allen. Die Stimmung im Wasser war ein wenig gereizt. Besonders gegen Mittag.
Zwölf Uhr. Lunchbreak. Ein paar Banker nutzen die Mittagspause, die Welle zu erwischen. Man erkennt sie leicht, ihr Wet-Suit ist zu weit, der Haarschnitt zu gepflegt. Mädchen mit Victoria’s-Secret-Model-Hintern, auf dem blonde Härchen flimmern, hängen herum. Dann laufen die Chefs vom Surfrider Beach auf. Ihr Alter ist unbekannt. Die Augen hängen auf Halbmast. Klassischer Kifferblick. Ihre Haut ist verbrannt, beinahe geröstet. Ihr Köper ist verwittert, aber stolz. Er hat schon wahnsinnig viele Wellen besiegt. Das macht die Strandkönige mächtig. Hier heißen sie „Beach Bum“, also Strandobdachlose, aber keiner hat etwas von einem schwankenden Penner aus einer Vorabendserie. Die Beach Bums kontrollieren den zwei Meter breiten Durchgang zum Strand. Man muss an ihnen vorbei. Sie begutachten jeden, sie kennen jeden. Fremde sind nicht gern gesehen. Allein schon aus dem Grund, weil sich kein Beach Bum ins Wohnzimmer schauen lassen will. Es liegt im Hinterteil ihres Pick-up-Trucks: Sessel, Schlafsachen, Surfzeug, aus einigen Wagen dudelt Reggaemusik. Die Polizei fährt vor. Keine Panik. Ein Beach Bum bleibt immer cool.
„Die suchen jemand, der seit Monaten hier auf dem Parkplatz im Auto lebt. Aber der ist gerade im Wasser.“ Sagt Daddy. Das ist nicht sein richtiger Name, aber er passt zu Daddy. Daddy ist riesig, ungesund gebräunt, ein Typ, mit dem man sich nicht anlegen will. Noch vor einer halben Stunde lag er im Wasser und hat Walrossgeräusche gemacht. Seine hellgelben Haare hängen jetzt nass über den Ohren. Daddy surft hier, und er ist „Voll-Amerikaner“ wie er sagt. „Das bedeutet, ich habe alles unter Kontrolle.“
Daddy sieht schwanger aus, so dick ist sein Bauch. Eventuell Resultat seines Cheeseburger-Konsums. Er surft trotzdem. Er trägt eine sehr kleine Badehose, und das soll jeder sehen. Er setzt sich breitbeinig auf seinen grauen Campingstuhl. Ein Parkplatzjunge gesellt sich jetzt zu Daddy. Die Augen des Jungen sind trüb, er könnte Schlaf gebrauchen, er kratzt an seinen Tattoos, bevor er an seiner Zigarette zieht, und dann kratzt er wieder am Tattoo. Der Junge ist nicht ganz da. Er trägt kein Surfbrett. Jetzt klingt es so, als ob Daddy an den Jungen eine Einladung ausspricht. Nichts Direktes. Ein bisschen Beachtalk. Daddy und der Junge einigen sich. Daddy nickt und zeigt Richtung Parkplatz.
Ein hübsches, schwules Pärchen in Ralph-Lauren-Shorts guckt dabei zu, wie Daddy die Sache anstellt, aber so einfach ist das mit der Surfrider-Sprache nicht. Man muss sie lesen können, ihre Regeln kennen. So wie die Regeln der Beach-Economy. Geld kommt von überall, sagen wir von da, wo es gerade liegt. Man muss es nur bewegen. Wie beschaffst du dir Drogen, Zigaretten und Surfwachs? Oder ein Auto, wenn deins sterben muss? Es gibt Wege. Verschiedene. Sichtbare dunkle und richtig finstere.
Das verlorene Surfkind Miki verstand, wie die Beschaffungsökonomie funktionierte, wie man gestrickt sein musste, um sogenannte Arbeit nicht tun zu müssen. Miki war ein Paradox, wie sich ein alter Weggefährte erinnerte, „zurückgezogen, autistisch und flamboyant. Die Leute gaben ihm 500-Dollar-Tickets für eine A-List-Party in Hollywood, Miki verkaufte sie vor der Tür und ging durch den Hintereingang hinein“. Niemand hätte ihn aufgehalten. Im Zentrum der Party angekommen, suchte Miki nach den Zimmern mit Handtaschen und leerte erstmal alle Geldbeutel. Angeblich stahl Miki sogar die Juwelen der Gastgeberinnen und einen Oscar. Die Polizei fand ihn nicht unter Doras zerfetztem Autositz.
Dora war der surfende Andreas Baader von Malibu. Seine Asozialität wirkte auf die reichen Kinder wie ein Lockmittel. Sie gaben untereinander damit an, was Miki ihnen alles gestohlen hatte. Je mehr, umso besser. Surfwachs, Essen, Geld, Autos. Hauptsache, man hatte irgendwas mit Miki zu tun.
Miki lebte das Leben gratis. Er führte vor, wie das geht. Keine Schule, keine Arbeit, keine Beziehungen, keine Ehe. Nur der Surfrider Beach zählte. Miki legitimierte diesen Lebensstil vor den reichen Kindern, obwohl er keines von ihnen war. Damit sie sein Surfbrett im Wasser erkannten, malte er ein Hakenkreuz darauf. Damals das Erkennungszeichen der härtesten Surfer, um Leute „anzupissen“, um die Jungs mit dem College-Abschluss auszuschließen. Niemand hielt Miki für einen Nazi, sondern für ein Idol. Die surfenden Söhne des Hollywood-Adels kopierten sogar seine Handbewegungen. Dora stemmt oft die Hand in die Hüfte. So wie das sonst nur Frauen tun. Miki verhexte alle. Sobald er auftauchte, war jedem klar, wer den Surfrider Beach regierte. „Der Strand teilte sich wie das rote Meer, wenn er zum Wasser ging“, erzählt ein ehemaliger Jünger.
Sonntagnachmittag. Der Komiker Adam Sandler wackelt mit seinem Brett Richtung Wasser, aber wo sind Mikis Erben? Dora selbst starb vor zehn Jahren an Krebs, im Haus seines Vaters Miklos in Montecito. Miki verließ in den frühen Siebzigern den Surfrider Beach. Er trug längst einen Vollbart, damals noch das Zeichen der Depressiven. Miki lebte in Südafrika, Australien und Frankreich, überall, wo es Wellen gab. In den 80er Jahren kehrte er kurz in die USA zurück und musste wegen seiner Kreditkartenbetrügerei in den Knast. Das interessiert bis heute niemanden. Was zählt, ist Mikis Bewegung auf einem Brett, Miki im Film „The Endless Summer“ von 1966, wie er aufs Meer schaut, wie er auf den Wellen steht wie andere Leute an einer Bar.
Es lohnt sich nicht, heute Mittag auf einen Dora-Klon zu warten. So einer hat kein geregeltes Leben. Niemand weiß, wann die jungen Mikis auftauchen. Heute schauen ein paar Touristen vorbei. Mit Kameras. Hier sollen doch die berühmten Surfer sein. Der dicke Daddy mag das nicht. Um drei packt er den Liegestuhl ins Auto. „Heute wird zu viel geglotzt. Und zu viele Verrückte sind hier.“
Daddy könnte recht haben. Ein Typ mit Rückentattoos und Pamela-Anderson-Stacheldrahtkranz am Arm wachst seit Stunden sein Brett. Seine Muskeln hängen ein wenig, der Mann selbst hängt irgendwo in seinen 50ern. Sein Köper scheint nur die Sonne zu kennen. Er singt, er tanzt, betet zu seinem Surfbrett. Auf welchen Drogen ist der Mann? „Ich glaube, er ist ganz normal stoked“, flüstert jemand vom Nebenhandtuch, Surfersprache für „stoned“. Aus dem Gesicht des Betenden spricht Freude. Eine undefinierbare, universelle Freude über den baldigen Besuch der Welle.
Der Mann schiebt sich ein blaues Plastikvampirgebiss in den Mund und rennt mit dem Brett Richtung Wasser. Niemand nimmt Notiz. Das wäre zu uncool für den Surfrider Beach. Surfclowns sind nicht gern gesehen. Die drei Vietnam-Veteranen direkt neben dem Eingang zucken nicht mal mit der Wimper. Sie sind gut in Form, nicht kaputt für Ex-Soldaten, tragen ein Lächeln auf den Lippen. Am Mittwoch waren sie auch schon da. Alle drei könnten theoretisch die Figur Lance aus „Apocalypse Now“ gewesen sein. Der wahnsinnige blonde Surferjunge auf Acid und Pott. Der selbst dann surft, wenn unter ihm oder neben ihm die Welt untergeht und der nichts mehr mitbekommt vom Krieg. Von Politik oder Richard Nixon. Wenn kümmert das, nachmittags um fünf, wenn das Pazifikblau sich langsam schwarz färbt?
Der Surfrider Beach muss über geheime Kräfte verfügen. Wer öfter herkommt und regelmäßig sein Brett ins Wasser legt, wird irgendwann mit Miki Dora Kontakt aufnehmen und lauschen, was Miki über Amerika zu sagen hat. Einige hören zu, und spätestens dann ist es zu spät, um aus dem Exil Malibu zurückzukehren. Immer wieder gab es Geschichten wie die eines berühmten, reichen Psychiaters aus Beverly Hills, der alles hinwarf, um Beach Bum zu werden. Man muss mit den Königen des Surfrider Beach jedoch vorsichtig umgehen. Sie können Revolutionen starten und zwar ganz reale. Eine beginnt vielleicht schon nächste Woche. Wer weiß. Der Nachbarstrand Malibu Lagoon direkt neben dem Surfrider Beach soll demnächst umgebaut werden. So wie die Stadt das geplant hat, wird der Umbau Miki Doras Welle stark beeinflussen. Einer der Beach Bums macht eine klare Ansage. „Wenn der erste Bagger anrollt, wird ein paar Stunden später die Occupy-Malibu-Bewegung vor Ort sein. Davon weiß noch niemand. Aber das wird kein Spaß.“