Die Schlampe im Mittelpunkt
Was sieht diese Frau, wenn sie an einem bösen, sonnendurchfluteten Morgen in den Spiegel schaut? Zunächst einmal ein Barbie-Gesicht: perfektes süßes Näschen, große Augen, sinnliche Lippen. Dazu ein harter Zug um den Mund, der sagt: Meinen Sonderpreis aus der Gen-Lotterie geb‘ ich nicht wieder her. Und dann ist da noch diese fettige Säuferblässe, die langsam durch die Sonnenbankbräune hindurchsickert. Das Haar - ein Wischmop. An den Brüsten klebt noch der Plastik-BH, den Atem möchte man lieber nicht riechen. Das ist Mavis Gary.
Schon hier balanciert der Film „Young Adult“ auf einem dünnen Drahtseil, aufgespannt zwischen Neugier, Abscheu und Faszination. Und die Schauspielerin Charlize Theron, die diese Mavis verkörpert, steht da ohne Netz und doppelten Boden, ohne einen Hauch von Distanz zu ihrer Figur. „Sie kann ihre innere Strahlkraft und Schönheit wie eine Glühbirne ausschalten“, sagt der Regisseur Jason Reitman. Ein privilegierter Spross aus altem Hollywood-Adel, der Zottelhipsterbart schon leicht angegraut, die Hände weich wie die eines Zehnjährigen - so sitzt er da. In seiner Stimme klingt höchster Respekt. „Ich habe sie gebeten“, sagt er, „Mavis möglichst hinterfotzig zu spielen.“
Das sichere Ding mal ausschalten. Sich etwas trauen, wofür die anderen gerade zu feige sind. Den Mundgeruch sichtbar machen - darum geht es hier. Ein filmisches Experiment für alle Beteiligten, das nun bemerkenswert quer in den Hollywood-Mainstream hineinragt. Reitman hatte schon immer diesen Drang, auch mal unbequem zu werden: Mit seinem gnadenlos smarten Tabak-Lobbyisten in „Thank You For Smoking“; mit seiner altklugen Teenage-Mom in „Juno“; mit seinem supergetriebenen Entlassungsspezialisten George Clooney in „Up In The Air“. Er riskierte was und gewann eigentlich immer: Am Ende fanden alle seine Filme böse und trotzdem sehr nett. „Young Adult“ geht nun einen definitiven Schritt weiter.
Mavis Gary - die sich viel darauf einbildet, eine Erfolgsautorin zu sein, tatsächlich aber nur Trashromanserien für Schulmädchen schreibt, die in Amerika „Young Adult Fiction“ heißen - bekommt an diesem bösen, sonnendurchfluten Morgen eine Mail. Buddy, ihr alter Kleinstadt-Lover - jener Buddy, mit dem sie König und Königin der Highschool gespielt hat, noch so ein Hauptgewinn aus der großen amerikanischen Genlotterie - ist Vater geworden. Und Mavis springt in ihren rosafarbenen Juicy-Couture-Jogginganzug und braust zurück nach Mercury, Minnesota. Sie will ihren armen Exfreund aus seiner Geiselhaft als Familienvater befreien - so sieht sie selbst das zumindest. Der Rest der Welt sieht allerdings etwas anderes: eine eiskalte, zu allem entschlossene Familiensprengerin, eine Hexe auf der niedrigsten Stufe der Weiblichkeit, räudiger als die räudigste Hündin. Welcome Home, Psychotic Prom Queen Bitch.
Das Schöne aber ist: Man will sehen, was diese Schlampe anstellt. Man folgt ihr, ob man will oder nicht. Sie macht sich gut im Zentrum des Films, man muss sie nicht bemitleiden. Und es ist schon faszinierend, „Young Adult“ mit einer Gruppe von Amerikanerinnen im Alter zwischen zwanzig und vierzig anzuschauen. Ein Raunen geht da durch die Reihen, als Mavis sich im viel zu tief sitzenden Kleid dem besagten, leicht unbedarften, in seiner Vaterrolle durchaus glücklichen Buddy nähert, um ihn zum Schnapstrinken und später zum Ehebruch zu überreden. „That’s me“, hört man flüstern. Die Schlampe Mavis verfügt über eine Menge Identifikationspotential.
Auf der folgenden Pressekonferenz haben diese Frauen dann dringende Fragen: Wird Mavis verrückt oder wieder okay? Wird sie untergehen, muss sie sich ändern? Ein blondes Mädchen im hellblauen Kleid kriegt sich gar nicht mehr ein: Jemand müsste Mavis doch retten, sonst würde sie vor die Hunde gehen! Charlize Theron, die ihre innere Strahlkraft und Schönheit nun wieder angeschaltet hat, sitzt auf dem Podium. Aber für die Figur, die sie mit dieser bemerkenswerten Performance in die Welt entlassen hat, kann sie inzwischen nicht mehr sprechen. Sie hoffe einfach das Beste für Mavis, sagt sie.
Tollerweise hat Reitman trotzdem keinen Film nur über Frauen gedreht. Es geht eher um Kinder in den Körpern von Erwachsenen, um den totalen Realitätsverlust einer Generation, die mit nie hinterfragter Anspruchshaltung in die Sinnkrise taumelt. Nach einer endlosen Reihe von Kindmännern, die in ihrem selbstbezogenen Egowahn seit Jahren die neuen Hollywood-Komödien dominieren, sind nun endlich einmal die Frauen dran - gleiches Recht für alle. „Ich bin selbst Mavis Gary“, sagt Jason Reitman. „Und ehrlich gesagt kann mir immer noch niemand erklären, was Erwachsensein überhaupt ist.“
Reitman zeigt in „Young Adult“, dass nicht einmal harte Realitätserfahrungen, die Einsicht bringen, an denen man wachsen könnte, zwangsläufig zu einer „Besserung“ führen. Mavis macht sich auf der Babyparty ihres Exfreundes zum Volltrottel. Mit Rotwein auf der weißen Bluse und angetrunken muss sie es mit Buddys ganzer Familie und seiner neuen Frau aufnehme - die selbstverständlich brünett ist, ein guter Kerl und wahnsinnig nett. Mavis, die Blonde, die Wahnsinnige, die Betrunkene, die Nicht-Verheiratete, hat keine Chance gegen all die jungen Smalltown-Mütter voller Mitgefühl und Unverständnis.
Doch auch nach dem finalen Desaster passiert mit Mavis eigentlich überhaupt nichts. Keine Veränderung, keine Einsicht, kein Anruf beim Therapeuten. Reitman wollte das so. „Ich glaube nicht daran, dass Leute sich in wesentlichen Dingen verändern. Die Einzigen, die das tun, sind Ex-Junkies, Ex-Alkoholiker und Leute, die ein Twelve-Steps-Entzugsprogramm machen. Alle anderen bleiben Kinder.“ Und Frauen, das sagt er dann doch, sieht er aktuell noch einmal in einer besonders prekären Lage. „Ich erlebe es bei meinen Freundinnen. Alle Frauen um die dreißig bis vierzig haben mit einer Identifikationskrise zu kämpfen. Sie sind sie Mutter? Sind sie Frau? Sind sie Mädchen? Sind sie karrieregeil und sollen sie sich doch lieber wie Kim Kardashian benehmen? Sollen sie zu Hause bleiben, eine Familie gründen oder doch lieber in die große Stadt gehen und versuchen, „es“ zu schaffen?“ Ich glaube, der Feminismus hat den jungen Frauen, die etwas wollen, keine Antwort auf diese ganzen Konflikte gegeben. Und erst recht nicht Mavis.“
Aber haben wir es bei Mavis überhaupt mit einer Feministin zu tun? Immerhin verließ ja ihre Kleinstadt, um Autorin zu werden, und heiratete nicht mit zwanzig. Oder ist sie eben doch die Anti-Feministin, die mit alten, miesen Verführungstricks arbeitet, gefangen ist in Frauenzeitschriften-Theorien über „Soul-Mates“ und in der Überzeugung, die richtige Unterwäsche löse dann doch jedes Problem? Eine, die im Kardashian-Müll lebt und ohne Realityserien nicht einschlafen kann, die zum Frustfressen bei Kentucky Fried Chicken vorbeischaut?
Das Interessante an Mavis und „Young Adult“ ist eben, dass man diese Unterscheidungen zwischen Feministin oder Nicht-Feministin kaum noch treffen kann. Und wann ist eine Frau heute Feministin? Wenn sie sich an alle Feminismusregeln hält? Oder wenn sie eigentlich überhaupt keine existierende Moral oder Regel anerkennt - und genau deshalb wirkt wie die größte Außenseiterin von allen? Eine Frage, die dann vielleicht doch eine Frau beantworten kann - die „Young Adult“-Drehbuchautorin Diablo Cody, die für Reitman auch schon das Drehbuch zu „Juno“ schrieb.
Cody schlug sich einst mit einer ähnlichen Fragestellung zu Feminismus und Schlampentum herum. Sie zog mit Anfang zwanzig nach Minneapolis, wie nun Mavis. Wie diese wollte sie schreiben, aber damit ließ sich erst einmal kein Lebensunterhalt verdienen. Also heuerte sie in der „Skyway Lounge“ als Stripperin an. Der Job gefiel ihr, sie begann, Vollzeit dort zu arbeiten. Mit 24 veröffentlichte sie „Candy Girl“ einen Erfahrungsbericht über dieses Jahr. Heute kann man sich die Stripperin Cody nicht mehr vorstellen - sie hat gerade ein Baby bekommen, an das Pole-Dance-Leben erinnert nichts mehr. Selbst ihr rotes Leopardenkleid wirkt an ihr heute züchtig. Auch im Gespräch ist sie bemüht, sich von Mavis zu distanzieren - fast so, als spreche sie über Frankenstein. „Ich treffe immer mehr Frauen, die unsicher und emotional instabil sind. Ich frage mich, woran das liegt. Frauen sind heute finanziell unabhängig, sie können leben wie Männer. Sie können egoistisch und rücksichtslos sein. Und mit dieser neuen Freiheit kommt die Möglichkeit, für immer Kind zu bleiben.“
Da ist sie wieder, die ewige Mahnung: Eigentlich sollten wir erwachsen werden. Aber den vernünftigen und gutherzige Frauen, denen das gelingt - wie Buddys patenter Ehefrau - möchte man trotzdem am liebsten die Gurgel umdrehen. War es das, was die Mädchen bei der Pressekonferenz so aufrührte? Was sie für Mavis beten ließ, damit die blonde Hexe wieder gut draufkommen möge? Am Ende wird man das Gefühl nicht los, dass diese seltsame Mavis uns näher ist, als wir alle wahrhaben wollen.
[Bildunterschrift:] Das ist Mavis Gary, die Heldin von „Young Adult“ - gespielt von Charlize Theron. „Sie kann ihre innere Strahlkraft und Schönheit wie eine Glühbirne ausschalten“, sagt der Regisseur Jason Reitman über sie. Foto: Paramount