Die Unschuld des Bösen

von 
Essay
zuerst erschienen am 17. August 2014 in Welt am Sonntag, S. 44
Erstmals zeigt eine TV-Reportage den „Islamischen Staat“ (IS) von innen. Bester Laune planen seine Bürger die grausamsten Gräueltaten. Notizen zu einer Ästhetik des Wahnsinns

Das Erstaunlichste an der Reportage aus dem syrischen ar-Raqqa, de facto Hauptstadt des Islamischen Staats (IS), die einem Reporter des Internetmagazins „Vice“ sensationellerweise gelang, ist die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen. Das Kind, das angibt, später einmal lieber Dschihadist als Selbstmordattentäter werden zu wollen, lächelt scheu-kokett. Sein Vater, genannt der Belgier, weil er dort lange lebte, bevor er nach ar-Raqqa kam, um einen Gebetstruck zu fahren, muss gerührt weinen, wenn er verspricht, die Ungläubigen in aller Welt auszurotten. Der offizielle Pressesprecher von IS - ja, auch den gibt es -, ist ein netter Typ im grauen T-Shirt, den man mit seiner Ray-Ban-Wayfarer-Brille und dem Fusselbart für einen Hipster halten könnte. Ganz offen erzählt er davon, dass seine Familie, seine Frau und die Kinder, „das Unwichtigste überhaupt“ seien und er sie so gut wie nie sehe, das letzte Mal vor Monaten. Es gebe schließlich Wichtigeres, die Verteidigung des Islam zum Beispiel.

Ein Scharia-Polizist patrouilliert im Auto durch die Straßen, um hier und da die Scheibe herunterzukurbeln und zu sagen, na, na, auf diesem Sonnensegel prangt ja ein Popstar, das geht leider gar nicht, oder, lieber Herr, ist Ihnen entgangen, dass unter dem Kleid Ihrer Frau die Unterwäsche hervorblitzt, ist sie denn eine Ware, die Sie hier ausstellen wollen? Dazu lächelt der Milizionär hilfsbereit, fast schon unterwürfig. Er erkundigt sich beim Metzger nach den Preisen für Rind und Schaf: Aha, Schaf für neun Dollar das Kilo und Rind für acht, aber gemischt auch sacht, ist das denn ein gutes Geschäft? Na, Gott mit Ihnen. Währenddessen saust das Hackebeil, von munteren Wonneproppen kundig geführt, geschäftig rauf und runter, der Sittenwächter lächelt, und vage liegt ein namenloser Schrecken in der Luft. Vielleicht denkt ihn sich der Betrachter aber auch nur hinzu, so wie den süßlich-schweren Geruch der frisch geschlachteten Lämmer.

Ein paar Ecken weiter im Gericht gibt ein Mann mit stahlgrauen Haaren und Sonnenbrille Auskunft. Er sei hier, um seinen Cousin anzuzeigen. Der wolle die Ernte nicht teilen. Nein, er sei zum ersten Mal da. Sogar in die Zellen lässt der IS-Pressesprecher, der offenkundig Prokura hat, den britischen Journalisten Medyan Dairieh. Da ist es, als hätte Kafka, bisher höchstens ausführender Produzent der Geschichte, vollends die Regie übernommen. Die folgenden Begegnungen und Dialoge stehen mehr oder weniger genauso im „Prozess“ und vor allem in der „Strafkolonie“. Alle freuen sich, dass sie ausgepeitscht werden. Der liebe Gott sieht es schließlich so vor. Vater und Sohn, die ihr Leben bisher mit dem Verkauf von Alkohol bestritten, scheinen erleichtert, dass es damit nun ein Ende hat. Ein älterer Mann, ebenfalls wegen eines Drogendeliktes hier und offenbar ein wirklich netter Kerl, sagt: „Es gibt nichts Schöneres, als hier im Herzen des Islamischen Kalifats zu sein.“ Er meint das Gefängnis. Auf Verstöße, die mit Drogen zu tun haben, steht die Todesstrafe.

Draußen auf dem Marktplatz hängt ein Gekreuzigter, keine Jesusfigur, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut, das heißt mittlerweile mehr Fleisch als Blut. Er hat die Augen verbunden und ist tot. Als Abschreckung taugt er vielleicht noch. Milde lächelnde Menschen drängeln sich davor und machen Fotos mit Telefonen.

Wieder im Auto macht der zuvorkommende Pressesprecher einen Ausflug in eine vom „Regime“ kontrollierte Gegend. Da hinten, auf der Zuckerfabrik, sitze ein Scharfschütze. Deshalb könne man leider nicht näher heran. Es spricht aber nichts gegen einen Abstecher in einen Schützengraben für ein paar Maschinengewehrsalven in Richtung der Ungläubigen. Die tun der Dramaturgie den Gefallen und schießen zurück.

Im Euphrat - zusammen mit dem Tigris verantwortlich für die Bezeichnung Zweistromland, weithin bekannt als Wiege der modernen Welt - baden junge Gotteskrieger. Ein Neunjähriger kann es gar nicht abwarten, ins Trainingslager zu kommen, wo es dann wieder Unterricht „am Russen“ gäbe - nicht in Russisch, sondern in Kalaschnikow. Die Sonne scheint, das Wasser plätschert, der Muezzin ruft, alle sind wahnsinnig gut drauf.

Es ist zum Wahnsinnigwerden. Oder ist man selbst der Wahnsinnige? Immerhin sitzt man ganz allein vor dem Computer, flankiert nur von der eigenen Fassungslosigkeit. Auf der anderen Seite des Bildschirms sind so viele. Nach dem Bad im Euphrat werden sie wieder ausschwärmen, Christen und Jesiden abschlachten. Oder auch Muslime, die sich auf die Frage, ob sie nicht vielleicht Schiiten sind, verplappern. Nach der Eroberung von ar-Raqqa im März letzten Jahres schnitten die Kämpfer - die sich damals, vor dem prägnanten Rebranding in IS noch ISIS nannten - fünfzehn syrischen Soldaten die Köpfe ab und spießten sie auf Zaunpfähle. Als hätten sie „Game of Thrones“ geguckt, und wer weiß, vielleicht haben sie ja.

Wie aber ist das zu erklären? Die Entgrenzung der Gewalt, die Ekstase des Schlachtens, die Explosion des Hasses -bei gleichzeitiger Gottesfurcht und dem eindeutig ernst gemeinten Versuch, eine Gesellschaft aufzubauen? Massenhysterie? (Unwahrscheinlich, dafür ist das alles zu gut organisiert; sogar eine eigene Zeitschrift gibt der Islamische Staat heraus, „Dabiq“, was das islamische Arma-geddon meint, eine prophezeite siegreiche Schlacht gegen die Kräfte Roms und Konstantinopels. In toller Druckqualität sind Gräuel an Schiiten zu bewundern und auch ein paar politische Ziele von IS werden formuliert, in verschiedenen westlichen Sprachen: „Millionen Dollar in Dienstleistungen zu pumpen, die für Muslime wichtig sind.“ Oder: „Ausreichend Essen und Waren im Handel“) Einschüchterung? (Dafür sind die Leute eindeutig zu gelassen, selbst wenn der Sittenwächter rechts ranfährt; das sieht in Texas ganz anders aus.) Dummheit als ansteckende Krankheit? (In der Medizin bislang unbekannt.) Mit gesundem Menschenverstand kommt man anscheinend nicht weiter. Das Verstehen stockt wie vor einer Straßensperre. Um sich der Ideologie und dem Erfolg des Islamischen Staats zu nähern, muss man - wie seine Armeen, die ihre Grenzen unablässig weiter ausdehnen - schwerere Geschütze auffahren. Womöglich gar die Philosophie?

Ende der Siebzigerjahre fuhr der französische Philosoph Michel Foucault im Auftrag der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ in den Iran, um über die Revolution sogenannte Ideenreportagen zu schreiben. In einer heißt es, die Menschen im Iran, die von einer islamischen Regierung sprächen, sie „unter der Drohung der Kugeln auf der Straße hinausschreien“, dächten an eine Wirklichkeit, die ihnen nahe sei, weil sie selbst als Akteure in ihr vorkämen. „Es handelt sich um eine Bewegung“, schreibt Foucault, „die versucht, den traditionellen Strukturen der islamischen Gesellschaft eine dauerhafte Rolle im politischen Leben zu geben.“ Es sei eine Bewegung, die dafür sorgt, dass das „politische Leben nicht wie bisher ein Hindernis der Spiritualität bleibt, sondern ihr Schlupfwinkel, ihre Gelegenheit, ihr Ferment.“

In einem Essay über das Phänomen, das vor ein paar Jahren als Arabellion bekannt wurde und inzwischen schon fast wieder in Vergessenheit geraten ist - die vielen Aufstände im Süden und Osten des Mittelmeers, wo sich vor allem Jugendliche per Facebook und Twitter auf öffentlichen Plätzen zu einer Revolution verabredeten, deren Energie bald verpuffte - schreibt Foucaults slowenischer Kollege Slavoj Zizek, man müsse sich unbedingt klarmachen, dass es den Demonstranten gar nicht um irgendein wie auch immer identifizierbares „echtes Ziel“ gehe. Die Proteste richteten sich nicht „wirklich“ gegen den Kapitalismus, nicht „wirklich“ gegen religiösen Fundamentalismus und nicht „wirklich“ gegen bürgerliche Freiheiten und Demokratie. Vielmehr handle es sich um ein diffuses Gefühl, dass die Dinge nicht in Ordnung seien. Wer also nachzuvollziehen versuche, was da eigentlich los sei, der sei angeschmiert, wenn er sich an einer Erklärbarkeit festklammere. Philosophisch gesprochen sei das Problem kein epistemologisches, also erkenntnistheoretisches, sondern ein ontologisches. Es gehe mithin um das außersprachliche Ding an sich, das sich jeder Festlegung entzieht.

Das ist das Stichwort für einen dritten Theoretiker, den Literaturwissenschaftler Peter-Andre Alt, der vor ein paar Jahren eine „Ästhetik des Bösen“ vorgelegt hat. Sie handelt von der jahrhundertealten Faszination von Künstlern und Schriftstellern für das Unfassbare, Mitreißende, Perverse, Böse sowie von ihrem Versuch, es ästhetisch erfahrbar zu machen, in Bildern, Gedichten und Romanen. Im Zentrum all dieser Werke steht Alt zufolge ein ungelöster Konflikt. Wie bei Zizek prallen zwei unvereinbare Systeme aufeinander: die „Zeichensprache des Triebs“, ungeschlacht, exzessiv und gewaltig, sowie die innere Logik des Kunstwerks. Dabei sei der Trieb dem, was wir das Böse nennen, auffallend ähnlich, weil beide dieselben, jedem Versuch einer Ästhetisierung vorausgehenden Assoziationen aufriefen: „Die Dynamik des Überwältigenden, die Vorstellung einer dunklen Bedrohung und nicht beherrschbaren Gegenmacht, den Effekt der Ordnungsstörung und das dramaturgische Muster des Kampfs, das eine Konfrontation der Leidenschaften mit den Abwehrkräften der Ratio abbildet.“

Sieht man sich den Islamischen Staat im Flutlicht dieser drei Ideen an - Foucaults Inthronisierung der Spiritualität als Primat der Politik, Zizeks Rat, es mit der Rationalisierung nicht zu übertreiben, und Alts Beschreibung eines Triebhaften, das noch seine künstlerische Bewältigung überfrachtet -, ahnt man allmählich, womit man es zu tun hat. Es geht um keine Massenhypnose, auch um keine Dummheit, sondern um ein gänzlich Anderes der Vernunft. Der Islamische Staat, das vom Prediger Abu Bakr al-Bagdadi ausgerufene Kalifat, ist in der Menschheitsgeschichte kaum ein Sonderfall. Nur ist er uns nach zwei Jahrhunderten Moderne, in der Gott seit dem Erdbeben von Lissabon zweifelhaft wurde und von Nietzsche schließlich beerdigt, bis zum Wahnsinnigwerden fremd.

Die Einbildungskraft unserer Hirne, an eine Wirklichkeit als pragmatisches Chaos gewöhnt, reicht nicht aus, um uns in die perfekte kosmische Ordnung hineinzudenken, die einen einfachen Gerichtsdiener in Dairiehs Dokumentation sagen lässt, selbstverständlich kümmere man sich hier nicht um internationale Gesetze, man befolge schließlich diejenigen Gottes. Der Gerichtsdiener guckt ein bisschen verdutzt, als er das erklärt, als merke er erst jetzt, dass er ein unwissendes Kind vor sich hat.

Diese Welt muss eine der permanenten Verzückung sein, was in der Reportage ja auch dauernd vor Augen geführt wird: der ergriffen weinende Belgier, der die Ungläubigen in einem Streich von der Erde tilgen will, die Gefängnisinsassen, die ihrer Auspeitschung, gar ihrer Hinrichtung, ohne Arg entgegensehen. An einem ähnlich hermetisch-emotionalen System, das, egal, was man eingibt, immer die eigene Überlegenheit ausspuckt, versuchten sich hierzulande zuletzt die Nazis. Ihre Ideologie krankte aber daran, dass sie doch eine weltlich-immanente war und keine göttlich-transzendente. So musste sich die verquaste Genetik dem wissenschaftlichen Fortschritt genauso geschlagen geben wie die vermeintlich überlegenen arischen Generäle ihren slawischen Kollegen. Selbst Hitler soll das am Ende eingesehen haben, auch wenn ihn das nicht milder, sondern noch wütender stimmte.

So eine Einsicht scheint in der Welt von IS unmöglich. Sie ist komplett auf ein Jenseits ausgerichtet, auf ewiges Märtyrertum mit willigen Jungfrauen. Wie sonst sollte ein Vater seinen Sohn strahlend vor die Wahl stellen, Dschihadist oder Selbstmordattentäter zu werden, als seien das Berufe wie Jurist und Unternehmensberater? Ein Fahrer des Pressesprechers erklärt einmal: „Wir wollen kein glückliches Leben, ganz im Gegenteil, so was entfernt uns von Gott.“

Nie hat Karl Marx‘ Diktum, die Religion sei das Opium des Volkes, mehr überzeugt als bei Ansicht dieser Bilder. Opium selbst ist auf dem von IS beherrschten Gebiet, das wie ein gigantisches Spinnennetz vor der Karte des Mittleren Ostens hängt, selbstverständlich verboten. Die Gottdroge erlaubt keine anderen Drogen neben sich. Dort gibt es kein richtiges Leben im falschen. Alles ist gut. Das Euphratbad, die Panzer, die verlassene Familie, Mikrofone, Turnschuhe, Ventilatoren, die Treueschwüre in Popkonzert-Atmosphäre. Alles Signaturen göttlicher Harmonie. Alle zwei Minuten redet sich einer in Rage, gern Minderjährige, aus dem Off von Erwachsenen souffliert. Egal, wohin der Wahnsinn wabert, es gibt immer eine Pointe: „Takbir!“, die Aufforderung, Gott zu preisen. Worauf alle einstimmen: „Allahu Akbar!“ Gott ist groß. Ein bisschen hat das was von einer Dauersitzung der Anonymen Alkoholiker - totale Gemeinschaft, kollektiver Stolz, nur ohne alte Sünden und Gewissensbisse.

Foucault musste nach seinen Reportagen aus dem Iran heftige Kritik einstecken. Er verherrliche das Spirituelle und verkenne die Gnadenlosigkeit der politischen Realität. Gekränkt versetzte er, das sei keine normale Revolution, da werde nichts auf die Füße gestellt und aufgerichtet. „Es ist die Erhebung von Menschen mit bloßen Händen, die den ungeheuren Druck aufheben wollen, der auf uns allen lastet. Es handelt sich vielleicht um die erste große Erhebung gegen die globalen Systeme, die modernste und die verrückteste Form der Revolte.“

Dairiehs Film trägt den schlichten Titel „Der Islamische Staat“. Den perfekten Untertitel könnte er sich von Georges Bataille borgen, Vorbild von Foucault und zeitlebens fasziniert von der schmalen Grenze zwischen Vernunft und Irrsinn, Askese und Orgie. Der Exzess hebt die Begründung auf, hat Bataille gesagt. Und, an einer anderen Stelle: „Gott ist schlimmer oder ferner als das Böse, er ist die Unschuld des Bösen.“