Ein Nachtclub, der Deutschland heißt

Portrait
zuerst erschienen am 24. Oktober 2004 in Welt am Sonntag
Fassung des Autors
Auf der Suche nach der Jugend: Ein Abend mit Joachim Lottmann, dem Patenonkel und großen Außenseiter der deutschen Popliteratur

„Lottmann? Kenne ich nicht“, sagt die sehr schlanke, großäugige Bedienung und wirft ihre braunen Haare zurück. Eigentlich hätte man sich die Frage sparen können. Um 18 Uhr, an einem Mittwoch, ist das „Kurvenstar“ noch leer. Die Bar in Berlin-Mitte ist Ausgangspunkt der immer wieder grandios zu nichts führenden Ausflüge in Lottmanns neuem Roman „Die Jugend von heute“. Hier verkehrt „Onkel Jolo“, Beobachter und Freund der Jugend, in diesem Haus lebt er mit seinem Neffen Elias und dessen Freunden.

In diesem Haus lebte auch der echte Lottmann. Als kaum beachteter Autor, der einst furios gestartet war: Sein Debüt „Mai, Juni, Juli“, ein Pop-Roman im Ich-Plauderton, stieß 1987 auf Haß und Begeisterung. Lottmann hatte im Umkreis des Poptheoretikers Diedrich Diederichsen begonnen, nie richtig dazugehört und wurde vergessen. Nun ist er auf einmal wieder da: Mit seinem dritten, einem bösen und komischen Zeitgeistroman, einer hyperrealen Szene-Story. Sie lebt von der Spannung zwischen dem Onkel und seinem Neffen. Der ist Vertreter der neuen deutschen Jugend, einer dreisten Ableitung der Metrosexuellen - schön und unberechenbar.

Der echte Lottmann ist verläßlich, er kommt doch noch. Man erkennt ihn am Rattern des Zweitaktmotors, sagte er am Telefon. Ein beigefarbener Wartburg Tourist hält vor der Tür, umständlich schnallt ein Herr sich Hosenträger an. Er hat ein rundes Gesicht, er lächelt freundlich, er ist 48 - wirklich ein „Onkel-Typ. Ein Szene-Onkel? Lottmann setzt sich auf eine Lederbank. Er hat mir ein Geschenk mitgebracht, zerrt sein vorletztes Buch aus einer Plastiktüte: „Für meinen kompromißlosesten, treuesten Fan“ steht als Widmung drin. Für die erste Begegnung nicht schlecht. Ich aber habe Fragen zu seinem neuen Roman: Sind alle Personen real? Warum kommt Rainer Langhans im Buch vor, und warum so schlecht weg?

Lottmann lächelt und sagt: „Das sind Reporterfragen.“ Die könne er nicht beantworten. Er will mich lieber fotografieren. Und dann - wir sitzen gerade zweieinhalb Minuten - müssen wir los. Sein Wartburg vibriert, wir fahren durchs Bötzowviertel, die schönste Gegend Berlins. Dort wohne er für 99 Euro monatlich. Ich frage nach der Wunderdroge Samsunit. Im Roman zunächst Lösung, dann Katalysator aller Probleme, vom Neffen „aus dem Internet geholt“. Wollen Sie eine, fragt Lottmann und reicht mir eine gläserne Ampulle. Sieht aus wie Natriumchlorid-Lösung. Ich bekomme sie nicht auf.

Es hat keinen Zweck mit dem Fragen, also erzähle ich ihm etwas. Von meinem Freund Simon. Der ist fast dreißig, benimmt sich wie sechzehn. In seiner Wohnung im Berliner Friedrichshain hängen meist drei bildhübsche Mädchen rum, alle sind blond, eine modelt. Simon hat keinen Sex, er kuschelt mit ihnen, manchmal zu dritt. Letztens berichtete er mir besorgt, er habe beim Schmusen mit Marie oder Stella eine Erektion gehabt. Was nun dagegen zu tun sei?

Lottmann freut sich. Um diese Menschen geht es in seinem Buch. Der 26jährige Neffe Elias ist der Prototyp. Er bringt immer neue Freundinnen mit, will aber nie Sex. Er kifft und nervt mit seinem „berüchtigten Laber-Flash“. Immer wieder flieht der Erzähler, nach München, Zürich, immer will er zurück nach Berlin, in die Clubs: „Das Schöne an dieser Art Nachtleben war ja, daß es keine Einschränkungen mehr gab. Jeder war ein Mensch, ein Geistwesen, nicht behindert durch Alter, Hautfarbe oder jedwede sonstige Zugehörigkeit.“

Lottmann hat inzwischen herausbekommen, daß ich aus seiner Lieblingsheimat Hamburg stamme: „Das merkt man gleich. Sie tragen keine Army-Hose.“ An einer Straßenbahnhaltestelle wechseln wir grundlos das Verkehrsmittel. Ich spreche ihn auf die Autorin Alexa Hennig von Lange an. Deren Karriere stieß er mit einem großen Artikel in der „Zeit“ mit an. Sie verriet mir einmal, daß dieser Artikel ihr viel bedeutet habe und sie ihm noch lange dankbar war. Das wußte Lottmann gar nicht. Er grinst. Später wird er noch zweimal sagen, daß er es nicht wußte und es ihn beglückt. Nun aber wird er wütend.

Alexa Hennig von Lange habe ein unglaublich interessantes Leben und mache den Kardinalfehler aller jungen Autoren: nicht eben darüber, sondern über erfundenes, langweiliges Zeug zu schreiben.

Lottmann führt uns durch den verregneten Prenzlauer Berg zum „NBI“, einem etwas düsteren Club voller Sessel. Sein Buch wird präsentiert. Die „Nichte Hase“ ist da, sie hat sehr tiefblaue Augen. Auch eine Figur aus dem Roman. Medienstars sieht man keine. Leute wie sein Lieblingsfeind Rainald Goetz seien „seit 20 Jahren im Overground“, erklärt Lottmann. Er sei „immer nur im Underground“. Und der sei hier.

Das Supatopcheckerbunny moderiert, eine Dunkelhaarige im engen Ringel-T-Shirt. Lehrerhaft, scheinbar ihre Masche, doziert sie: „Jugend findet man immer gut, Älterwerden nicht so.“ Dazu malt jemand ein Diagramm.

Dann liest Lottmann: Jolo verläßt Berlin „für immer“, ist nach zwei Seiten wieder da. Irgendwer ruft das „neue Neue Berlin“ aus. Immer wieder bekämpft der Protagonist den „Antisexismus“ des Neffen, der endlich eine Freundin finden und erwachsen werden soll: „So wie er war seine ganze verdammte Generation.“ Das Publikum lacht. Plötzlich unterbricht Lottmann. Vor der Tür wird englisch in ein Handy geredet. Ein Afro erscheint im Fenster. „Elias und seine Leute.“ Menschen, von denen gerade im Buch die Rede war, betreten die Bar. Angereist aus München, im schwarzen 5er. Elias heißt eigentlich Severin, kleidet sich wie ein Popper, sieht gut aus, nicht cool. Zwei schlaksige Schwarze begleiten ihn. Hip-Hop-Stil.

Nach der Lesung wird ein Film gezeigt, den Severin per Fotoapparat gedreht hat. Junge Mädchen rufen auf der Straße: „Arschwixer!“ Das Wort habe ich zuletzt auf dem Grundschulhof gehört.

Gegen zwölf sind Lottmann und ich beim „Du“. Die Jungs haben „was aufgestellt“, man soll zu einer Party. Nur noch vier Absinth-Sekt möge ich bitte ausgeben. Helge Malchow kommt, der Verleger. Er lehnt sich zu Lottmann herüber und sagt: „Joachim, dein Buch ist nicht nur grandios, sondern auch innig.“ Dann schweigt er. Also fahren wir auf die Party.

Eine Cluberöffnung im Haus der Plattenfirma Universal. Musik klatscht an kalte Wände. Kein Chill-out-Bereich, nur Kampfzone. „Hier sehen wir in die Fratze des Medienkapitalismus“, schreit Lottmann in mein Ohr. „Ein Gutes hat es für die Jungs“, zeigt auf Ausschnitte und nackte Haut, „man kann fette Bräute aufstellen. Denn keine von denen ist gern hier.“ Auf der Bühne steht ein Rentner im weißen Anzug, Louis aus Österreich, und brüllt der Menge Tanzbefehle zu.

Wir müssen raus, wir „cruisen“ wieder. „Solche Orte haben ihre Funktion im Rhythmus der Nacht“, erklärt Lottmann. Man muß in Bewegung bleiben. Wir fahren in zwei Taxen, fahren nebeneinander. Severin lehnt sich aus dem Fenster des einen weit herüber, um zu planen. Lottmann wird sentimental. Der Betrieb habe ihn nie akzeptiert. Gerade ihn. Im Roman nennt der Erzähler seinesgleichen „versprengte Außenseiter, sozial abgestiegene Bourgeois mit scharfem Blick für ökonomische Zusammenhänge. Leute, die ohne eigenes Zutun die gesamte Gesellschaft wie unter Glas sahen, diesen Kapitalismus.“

Schon 1987 hatte Lottmann seinen ersten Roman „Mai, Juni, Juli“ geschrieben, das tagebuchartige Umherschweifen eines Gammlers. Was etablierte Kritiker haßten, war vielleicht der letzte mögliche Realismus über das Leben in der BRD. Christian Krachts „Faserland“ erschien neun Jahre später und wurde als Urknall einer neuen Pop-Welle gefeiert. Lottmann mag niemand. Lottmann macht weiter. Er habe übrigens noch mindestens drei, vielleicht auch an die 20 weitere Romane geschrieben, die der Verlag aber nicht wollte.

Nun möchte er zu Udo Jürgens. Der feiert irgendwo seinen 70sten. „Der Ort heißt Al Qaida oder so.“ Unser Taxifahrer findet es nicht. „Dort ist es bestimmt richtig nett, so gemütlich und menschlich warm“, stellt Lottmann sich vor. Wir fahren durchs Brandenburger Tor, es ist hübsch orange erleuchtet, niemand ist in der Nähe. Vier Uhr nachts, mitten in der Woche. Also zurück in den Prenzlauer Berg. „Das junge Berlin. Man könnte gähnen, wenn es nicht so schön wäre.“

Wir sind wieder beim „Sie“. Ich sage: Bis bald mal. Er antwortet: Nicht so bald, aber gern. Joachim Lottmann ist in Form. Drei Bekannte haben zu mir gesagt, paß auf, irgendwann ist er einfach weg. Aber er sitzt da im Taxi und freut sich, vielleicht auf den Erfolg.

Was war mit den Reporterfragen? Ich habe nichts herausbekommen. Aber ich habe eine Laserleuchte in der Tasche, die die Uhrzeit an die Wand projiziert, von einer Zigaretten-Promodame. Und eine gläserne Ampulle, in der die Flüssigkeit glitzernd auf und ab perlt. Vielleicht ist nur Salzlösung drin. Oder ein Wundermittel, das jeden bekannten Rausch in den Schatten stellt.