Landkarten sind die besseren Reiseführer

Essay
Zuerst erschienen am 21. April 1997 in jetzt-Magazin der Süddeutschen Zeitung
Sie bilden ein Land nicht nur ab, sondern erfinden es gleichzeitig auch.

An der Wand meines Zimmers hängt ein drei Quadratmeter großer Stadtplan von Paris aus dem 18. Jahrhundert, eine Photokopie natürlich. Der Kartograph Michel Turgot hat den Süden in die rechte obere Ecke gelegt, so daß das Rive Gauche auf der rechten Seite ist. Man kann die Fenster in jedem Haus der Stadt zählen. In meinem obersten Bücherregal stehen über fünfzig Landkarten: unter anderem eine zerrissene und mit Saft bekleckerte Tourist Map of Belize, eine von der Provinz Fujian nur mit chinesischen Schriftzeichen und ein Falk-Plan von Leverkusen (keine Ahnung, wo der herkommt).

Auf meiner Karte des indischen Subkontinents fehlen die offenen Grenzübergänge nach Bangladesch und die Paßhöhen. Aber dafür enthalten sie die „Soda Plains“, ein indisch-chinesisches Grenzgebiet. Wo die Grenze genau verläuft, ist umstritten, und in den meisten Atlanten ist sie in die Ecke gedrängt, so als wollten sich die Kartographen um eine klare Aussage drücken. Unklar ist, ob man als Tourist diese Grenze passieren kann. Denn der einzige Überlandweg weiter nach Osten, die legendäre Stillwell Road, wurde gleich nach ihrer Fertigstellung im Jahr 1942 gesperrt. Das war die teuerste Straße der Welt damals, 137 Millionen Dollar für 430 Kilometer. Seitdem liegt sie nutzlos rum, die arme Straße.

Straßen sind großartig. Die berühmte Transamericana von Alaska nach Feuerland fährt jeder Abenteurer per Auto, Motorrad oder Fahrrad von Norden nach Süden, nur weil einem die Karte suggeriert, man müßte von oben nach unten fahren. Aber plötzlich hört die Traumstraße in der Mitte auf. Peng, in Panama, da fehlt ein Stück. Plötzlich sieht man nur noch Sumpf und Urwald. Man kann dort einen Führer anheuern, geht zu Fuß weiter, und irgendwann kommt man – weit entfernt von der eigentlichen Grenze – an einen Posten, zeigt seinen Paß vor und ist in Kolumbien. Panama, das ist vielleicht auch noch interessant, gehört nicht zu Mittelamerika. Aber auch nicht zu Südamerika. Panama ist nur Panama. Erstaunlich, wie unordentlich die Welt noch ist, wenn man weiß, wo man auf der Karte hingucken muß.

Landkarten strahlen träumerische Realität aus. Wenn man sie öffnet, rieselt Sand raus, und wie der Geist aus Aladins Wunderlampe steigt eine Fata Morgana empor, die Ferne. Dabei gibt es ja Timbuktu wirklich, auch Kashgar und Kiribati, wo nicht nur eine bekannte deutsche Seemannsschule die Kiribaten zu Matrosen ausbildet, sondern auch gleichzeitig Samstag und Sonntag ist, da mitten durch diesen pazifischen Ministaat die Datumsgrenze verläuft. Leider Gottes fehlen Kiribati und andere Inseln Mikronesiens auf meinem neuen Hundert-Mark-Atlas; ich hätte doch den für 280 Mark kaufen sollen. Im Diercke-Schulatlas fehlt sogar Rodrigues (64 Grad östliche Länge, 20 Grad südliche Breite). So testet man übrigens einen guten Atlas: Ist Pitcairn verzeichnet? Und Bosnien unabhängig? Findet man die gemeinsame Landgrenze zwischen Frankreich und den Niederlanden auf Sankt Martin in der Karibik?

Früher, als man noch Angst vor dem Ende der Welt hatte, malten die Kartographen Ungeheuer an den Rand, die jeden Seefahrer zu verschlingen drohten, der sich ihnen leichtsinnig nähern sollte. Im 18. Jahrhundert, zu Zeiten der Aufklärung, stach man statt dessen weiße oder schwarze Flecken in die Kupferplatten, wenn die Gegenden noch unbekannt waren. Deshalb, nicht wegen der stärkeren Hautpigmentierung ihrer Bewohner, hieß Afrika der „Dunkle Kontinent“. Diese leeren Flecken sollten die Menschen nicht abschrecken, sondern sie sollten sie dazu reizen, hinzufahren und endlich Australien zu entdecken oder die Quellen des Nils.

Landkarten sprechen die Sprache der Macht. Die Kolonialherren Frankreichs und Großbritanniens haben schnurgerade Grenzen durch Afrika gezogen, die heute noch Bürgerkriege verursachen. Und selbstverständlich liegt Europa in der Mitte jeder Weltkarte. Osten und Westen werden vom englischen Greenwich gemessen und nicht auf Samoa, denn dann würde ja die Datumsgrenze bei Würzburg liegen. In Nürnberg wäre dann heute schon Dienstag. Das Deutsche Reich hatte mal eine Kolonie in China, die nannten sie Tsingtau. Dort brauten sie ein Bier, welches bis heute Tsingtao heißt. Die internationale Schreibweise der Stadt und ihrer Provinz wurde aber, als die Deutschen nichts mehr zu sagen hatten, Qingdao. Leider weigert sich die deutsche Rechtschreibung, internationale Ortsnamen zu modernisieren und besteht auf ihrer alten kolonialen Schreibweise. So muß es also korrekt heißen: „In Tsingtau, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Qingdao, wird das Bier Tsingtao gebraut“ (gesprochen übrigens immer „Dschingdao“).

Aber manchmal haben deutsche Kartographen auch Glück. Wer wüßte das nicht besser als Martin Waldseemüller aus Radolfzell am Bodensee. Ende des 15. Jahrhunderts schrieb er auf eine neue Landkarte, die ein paar Küsten zeigte, eine Verdeutschung des italienischen Vornamens des Forschers Vespucci. Hätte Martin Waldseemüller den Nachnamen genommen, hieße die Gegend heute Vespuccia. Oder vielleicht, da Waldseemüller Badenser war, allemannisch Weschpuschia. So aber wurde es Amerika.