Mike Tyson – Die Ruhe in ihm

Interview
zuerst erschienen im März 2011 in GQ, S. 127-131
Mike Tysons ärgster Feind war immer: er selbst. Besuch bei einem, der seinen Frieden gefunden hat

„In the Clearing Stands a boxer (…) and he carries / the reminder of every glove that layed him down“ Simon & Garfunkel

Mike Tyson duscht noch. „Das kann dauern“, sagt einer der Hausangestellten. Davon gibt es  ein paar, die Familie Tyson lässt sich offenbar ganz gern umsorgen, hier in der Villa nahe las Vegas. Die Familie, das sind: Ehefrau Kiki, die gemeinsame Tochter Milan, Mikes Schwiegermutter – und seit 25. Januar der neugeborene Morocco Elijah.

Das Haus hat die in Entertainment-Kreisen übliche Ausstattung, Wasserfälle am Eingang, Pool, geschätzte 30 Zimmer im oberen Stockwerk, Flatscreen-Irrsinn. Beim Betreten wird man auf eines gleich hingewiesen: Mike möge es nicht, wenn Gäste mit Straßenschuhen auf seinem weißen Teppich herumlaufen, und was Mike mag und was nicht, das ist Gesetz. Man will es sich ja nicht gleich mit ihm verderben. Also zieht man weiße Hotellatschen extra fürs Wohnzimmer an. Dort sieht es aus wie in einem Privatmuseum: Tyson-Statuen, Tyson-DVDs, Tyson-Bücher. Alles Erinnerungen an große Zeiten. Von denen man bei Mike Tyson eigentlich von Anfang an nie wusste, ob sie nicht immer gerade vorbei waren, so oft hat er sich in Schwierigkeiten gebracht. Tyson, der härteste Boxer der Welt, genannt „bösester Mann des Planeten“ – er war sich selbst stets der ärgste Feind.

Tyson schlug zu wie jemand, der nicht aus menschlichen Molekülen bestand; der seine Gegner nicht einfach besiegen, sondern zerstören wollte. Wie so viele Boxer vor ihm strauchelte er jedoch außerhalb des Rings, im echten Leben, und auch das tat er härter: Die schlimmsten Abstürze, die heftigste Verschwendungssucht, der größte Selbsthass.

Tyson schien nur in Extremen zu existieren, und dann war da noch der Knast, wegen Vergewaltigung. Tysons scheinbar letztes großes Drama spielte wieder im Ring, am 28. Juni 1997: der zweite Kampf gegen Evander Holyfield, der Biss ins Ohr. Tyson war auf Antidepressiva, „ich war der mit Medikamenten am meisten vollgestopfte Boxer der Welt“, wird er später sagen. und dann, bis 2005: die quälend lange Zeit des Abschieds vom Boxsport.

Die Welt liebte ihn lange trotzdem. Für seine Härte und seine Siege. Erst wollte sie ihn wie ein Tier kämpfen sehen – und dann hasste sie ihn genau dafür, später.

Die kleine Madam Tyson betritt nun das Wohnzimmer. Milan, Mikes zwei Jahre alte Tochter, trägt Mini-Doc-Martens und ein Leopardenprint-Kleidchen. Milan hat Mikes Augen, sie schreit: „Kick-kick! Fight-fight!“ dann rennt sie mit ihren Stiefelchen über den weißen Teppich. Niemand sagt etwas. Milan darf das, Milan ist Mike heilig. Denn es hörte nicht auf mit den Dramen. Tysons andere Tochter Exodus, damals gerade vier Jahre alt, strangulierte sich im Mai 2009 im haus ihrer Mutter in Phoenix an einem Fitnessgerät zu Tode, ein furchtbarer Unfall. Jeden Tag seither muss Tyson die tote Tochter in Milan wiedererkennen.

Nun kommt Mike Tyson die Treppe hinab und auf einen zu, man weicht automatisch drei Schritte zurück. Wegen der noch immer puren physischen Präsenz dieses Körpers. Tyson ist höflich, seine Hand riesig. Er schaut seinem gegenüber in die Augen und dann keine Sekunde weg. er bleibt an den Augen des anderen kleben wie beim Boxtraining. Wenn eine Frage kommt, zieht er die Brauen zusammen, sein Gesichtstattoo verrutscht dabei ein bisschen. Entspannung: null. er braucht Fragen, er redet nicht von allein. Im Ring hat er meist selbst die Initiative übernommen. Im Leben, so scheint es: eher nicht. Das Leben: es passiert ihm.

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Mister Tyson, sehen Sie sich noch als Boxer, als Athlet?

Nein. Ich bin jetzt Comedydarsteller.

Wegen Ihrer Rolle in „Hangover“?

Absolut. Wir drehen jetzt den zweiten Teil in Thailand, und ich spiele mich wieder selbst.

Ist Ihr neuer Job eine Ablenkung?

Nein. Es ist einfach das, was ich jetzt mache. Die Leute mögen es, wenn ich merkwürdige Dinge im Film veranstalte.

Sie spielen da Klavier, einmal auch Luftschlagzeug zu „In The Air Tonight“ von Phil Collins – und hauen zwischendrin einem der Typen richtig eine rein.

Ja, und da lachen die Leute.

Finden Sie sich komisch?

Andere finden mich komisch – dann bin ich wohl komisch. Ich liebe das Schauspielern, Es ist meine neue Karriere, ein neues Gebiet, auf dem ich der Beste werden kann. Und ich versuche, der Beste zu werden.

Was ist Ihr größter Kampf derzeit?

Was normale Leben. die Frage: Wie geht ein normaler Tag? Wie halte ich ihn aus?

Wie geht also ein normaler Tag bei Ihnen?

Ich füttere die Tauben, frühstücke, trainiere, spiele mit den Kindern, telefoniere mit Agenten wegen neuen Filmen, abends füttere ich wieder die Tauben. ungefähr so.

Klingt nach dem Gegenteil Ihres früheren Lebens. Sie haben mal gesagt, dass Sie wohl bloß 40 werden. Nun sind Sie 44.

Erstaunlich, nicht? Ich hätte Schlimmes verdient. Ich habe keine Sekunde auf mich oder die anderen Rücksicht genommen.

Denken Sie oft an die Vergangenheit?

Ich versuche, es möglichst wenig zu tun. Ich denke an die Zukunft, und die beinhaltet meine Familie, meine Kinder. Was früher war, soll dort bleiben, in der Vergangenheit.

Verfolgt Sie die in Ihren Träumen?

Es gibt Szenen. Aber ich will meinen Kopf anders programmieren. es ist wie mit TV-Programmen: Ich will zwischen Showtime und HBO wechseln können. Mein Gehirn soll wie ein Fernseher funktionieren.

Mittagspause. Mike Tyson braucht Pausen. Kiki, seine Frau, achtet darauf. sie sieht, wenn Mike müde ist. oder wenn Mike sich umziehen soll. sie passt auf, dass nicht allzu viele Leute um Mike herumtanzen. Tyson ist immer noch jemand, von dem sich Leute Geld, Ruhm oder irgendwelche Sensationen erhoffen. ein älterer Herr zum Beispiel schaut nun vorbei, Typ heruntergekommener Gouverneur, irre schlechter Anzug. er hat wohl Geschäfte mit Tyson laufen. Der Mann stellt sich neben Mike und schüttelt dessen Hand, jemand macht ein Foto. So muss es früher andauernd gewesen sein: Alle fünf Minuten kam jemand vorbei und schüttelte Tysons Hand, weil er was von ihm wollte.

Tyson sagt, er möchte jetzt Boxbotschafter in China werden, er möchte dort den Box-Sport nach vorn bringen. seine Vorstellungen davon, was ein Botschafter an sich so tut, klingen jedoch nach dem alten Tyson: „da denke ich zunächst mal an jemanden, der Staatsgelder verprasst und ein Jetsetleben mit Mädchen führt.“ diese Zeiten aber sind für Tyson vorbei. heute gibt es die Familie und die Tauben. es scheint, als brächten sie ihm Frieden. Und Frieden hatte er nie. nicht mal als Kind. Besonders nicht als Kind. sein Vater war Zuhälter, doch Mike wusste gar nicht genau, wer sein Vater war, zu Hause liefen ständig zwei, drei Männer herum. Als Mike 16 war, starb seine Mutter. Da wurde sein Boxtrainer Cus d’Amato zum Vormund bestellt und wurde endgültig zum Ersatzvater.

Als Mike seine ersten Titel gewann, lief er mit dem Siegergürtel durch sein altes Viertel in Brooklyn und warf die Fäuste in die Luft – jeder sollte sehen, was für ein verdammter Gewinner er war. Da hatte der junge Mike Tyson zum ersten Mal seinen Frieden gefunden: jedoch im Kämpfen, im Siegen; darin, es den anderen mal so richtig zu zeigen.

Raus zu den Tauben. Mike und die Tauben, das war immer schon ein besonderes Verhältnis. Tauben bescherten ihm als Junge einen Moment größter Erkenntnis. ein Nachbarjunge namens Gary Flowers, der ein wenig älter war als Tyson, schaute eines Nachmittags mit ein paar Freunden vorbei. Mike war gerade dabei, eine Taube zu versorgen, die er verletzt auf der Straße gefunden hatte. Gary nahm sie und drehte ihr den hals um. Da schlug Mike dermaßen zu, dass Gary und dessen Freunde verstummten. und vergaßen, Mike im Gegenzug zu verprügeln. Der junge Mike machte sich selbst zu so etwas wie dem Patron der Tauben, er ist es bis heute geblieben, am 6. März startet seine Realityshow „Taking on Tyson“ auf dem Animal Channel. da läuft Tyson durch seine alte Heimat Brooklyn und zeigt, wie er Tauben trainiert. Es ginge, sagt er, in der Show an ein paar „dunkle Orte aus der Vergangenheit“. Mikes Tauben zu Hause in las Vegas leben [129] beinah luxuriös, ihre Käfige könnten direkt aus „Wallpaper“ stammen. Helles Designerholz, weiße Näpfe, blitzsauber das Ganze. Tyson muss die Tauben wirklich lieben; und sie ihn, sie sitzen auf dem dach und warten auf ein Zeichen von ihm. Er hebt die Hände, wie zu einer Art predigt. gehört Tyson zu den Stars, die am Ende mit Tieren auf ihrer Farm besser zurechtkommen als mit Menschen? Wie Brigitte Bardot? Nein, das dann doch nicht.

Was geben die Tauben Ihnen? Ruhe? Trost?

Ich muss sie um mich haben. Dann fühle ich mich besser. Ich habe sie mein ganzes Leben lang gezüchtet.

Haben die Tauben Namen?

Nein. Sie kommen und gehen. Aber durch sie habe ich gemerkt, dass mir Kampf etwas bedeutet. damals, als die Sache mit Gary passierte. Ich war als Kind nicht besonders selbstbewusst. Damit war dann Schluss.

Sie sagen, Ihr größter Feind war die Perfektion. Und gleichzeitig die Gefahr, immer ins völlige Chaos abzudriften.

Die Zeiten sind vorbei, ich gebe heute einen Scheiß auf Perfektion. Sie brachte mich fast um. Ich habe wegen ihr viele Fehler gemacht. Ich bin jetzt ein sehr einfacher Typ, nicht mehr der irre Kämpfer von früher.

War Muhammad Ali härter als Sie?

Am Ende: ja. Ich habe von ihm diese einzigartige, spezielle Fiesheit im Kampf gelernt. Er war gleichzeitig wahnsinnig elegant. elegant und fies zur selben Zeit. das ist Perfektion. er sah nicht mal aus wie ein harter Typ, sondern wie ein hübscher Schauspieler.

Schauen Sie sich noch Boxkämpfe an?

Nein. das heißt: So gut wie nie. Ich will das nicht mehr sehen.

Vermissen Sie den Kampf ? Das Siegen? Die Gefahr zu verlieren? Das Adrenalin im Ring ? Das alles muss einen doch völlig abhängig machen.

Ich habe mich entschieden, diese Welt hinter mir zu lassen. Es gab zu viele Leute, die mich kontrollieren wollten. Als mein Trainer Cus d’Amato starb, hatte ich niemanden mehr, dem ich noch vertrauen konnte. Ich war erfolgreich, aber schoss wie eine Pistolenkugel umher, von einem extrem ins andere. Cus d’Amato hat mich aufgezogen, er war mein Trainer, er war alles in einem. Nach seinem Tod musste ich mein eigener Trainer sein. Das hat nicht immer funktioniert.

Wer unterstützt Sie heute dabei, Ihr eigener Trainer zu sein?

Wieder: meine Tauben. Und meine Kinder. Ich habe sieben, bald acht Kinder. Sie spielen eine große Rolle in meinem Leben. Mein Verhältnis zu ihnen ist heute ganz gut. Trotz des unfassbaren Mists, den ich gebaut habe.

Ihre Tochter Milan hat uns mit den Worten „Kick-kick! Fight-fight!“ begrüßt. Sie ist zwei Jahre alt, trägt Springerstiefelchen – man will echt keinen Stress mit ihr haben. Wie finden Sie das?

Ich bin in erster Linie froh, dass sie nicht das leben führen muss, das ich in ihrem Alter hatte. das ist alles, was mich interessiert. Ich [130 ] bin in New York aufgewachsen, in einer Drecksgegend. klar, heutzutage sieht es da anders aus. Aber ich vermisse das leben dort wirklich nicht. Ich habe hier alles, was ich brauche. Ich lebe mit menschlichen Wesen, das war in New York nicht immer der Fall.

Was ist mit dem Gesichtstattoo? Daran erkennt man noch den alten Tyson.

Das bleibt. Ich habe es schon eine Weile.

Tat Ihr Gesicht sehr weh, als Sie es machen ließen?

Nein. Dort tut mir eh nichts mehr weh. Mögen Sie das Tattoo?

Ja, es gefällt mir. Sie haben auch noch eines mit dem Bild Che Guevaras.

Ich liebe ihn. Obwohl er auf den ersten Blick ein schwächlicher Typ war, hat er allen gezeigt, wo es langgeht. Er inspiriert mich. Ich wollte wichtige und große Leute aus der Geschichte ganz nah an mir dranhaben, also habe ich mir Che in die Haut ritzen lassen.

Die Zeit ist um. Auch nach Stunden: kein Moment, in dem man bei ihm Bitterkeit verspürt. Es sieht so aus, als ob Mike Tyson seine eigene Geschichte überleben wird, seinen Mythos, seinen Fluch. Falls das mit einer Taubenshow und Komikerauftritten sein wird – bitte. Soll ihm recht sein. Solange er Milan, Kiki und die Tauben um sich hat. Und, hey: Er ist immer noch Mike Tyson. Der Gute. Der Schreckliche. Und der, der sich selbst heute nicht mehr ernst nimmt.