Nachtsonne über L.A.

von 
Reportage
zuerst erschienen im April 2012 in Du Nr. 825 (Los Angeles. Von Kunst und Künstlichkeit), S.11-27
Los Angeles galt lange als Synonym für Hollywood, Blendwerk und Oberflächlichkeit. Doch in keiner anderen Stadt der Welt lässt es sich kreativer und intelligenter im Schutz der Lüge arbeiten. Wir nähern uns der Stadt, die soeben aus dem kulturhistorischen Schatten von New York tritt, auf eine Art, die zu ihr passt, in einem Gemisch von Wahrheit und Fiktion.

Polizeihubschrauber über Beverly Hills: Die „Nachtsonne“ schiesst einen Suchstrahl Richtung Erde. Der Lichtkegel gleitet über Dächer und Palmen der ehemaligen Villen von Bruce Willis und Demi Moore, dann weiter über die legendären Grundstücke von Gary Cooper, Kirk Douglas und Paris Hilton: Dort gibt es zwei Swimmingpools, einer ist abgelassen, voller Schutt und leerer UPS-Express-Päckchen. Der zweite Pool leuchtet abwechselnd türkisblau, golden und blutrot. Auf der Treppe zum Pool sitzt Tinkerbell, der Chihuahua von Paris Hilton und spielt müde mit einem Gummiball im Wasser. Ein Hausangestellter steht mit einem Frottiertuch bereit. Er blickt jetzt hoch zur „Nachtsonne“ und hält schützend seinen Arm vors Gesicht. Das ist alles.

Es gibt 45 000 Swimmingpools in Los Angeles. Das sind etwa 35 Pools pro Quadratkilometer mit einer durchschnittlichen Grösse von 15 Quadratmetern. In keiner anderen Stadt der Welt gibt es mehr Pools. Viele sind bloss Dekoration, werden irgendwann trockengelegt, von Skateboardern befahren oder dienen als exklusive Spielzonen für verwöhnte Haustiere wie Tinkerbell. Zu jeder Tageszeit patrouillieren durchschnittlich 15 Polizeihubschrauber den Luftraum über Los Angeles. Dazu kommen noch ein gutes Dutzend Hubschrauber der Fernsehanstalten, Boulevardblätter und der Verkehrsüberwachung. Ein Leben ohne Flugbeobachtung ist in Los Angeles längst nicht mehr auszudenken. Die Realität der Polizeiarbeit hat die Fiktion des Zukunftsfilms von Ridley Scott, Blade Runner, fast schon eingeholt. Was der Polizeihubschrauber in dieser Nacht über der Villa von Paris Hilton zu finden hoffte, bleibt unklar. Hilton wurde dafür berühmt, berühmt zu sein, und perfektionierte diese Rolle. Sie hat mittlerweile ihre Macht als It-Girl am sensibelsten Seismografen für gesellschaftliche Deformationen, im Unterleib von Los Angeles, verloren.

Der Lichtkegel wandert weiter. Über schlappe Kronen von Giraffenpalmen, die sich sanft im Rhythmus biegen, über Liegestühle mit zerrissener Schnürung, über Seitenstrassen, die zum Sunset Boulevard führen, über die grössten Privatvillen der Welt im sogenannten Platinum-Dreieck von Bei Air, Beverly Hills und Holmby Hills. Unter uns Amerikas teuerste Villa, the Manor (123 Zimmer), die 1991 vom Fernsehproduzenten Aaron Spelling (u.a. Denver Clan) auf dem ehemaligen Gelände der Bing-Crosby-Villa erbaut und die kürzlich von der 22-jährigen Petra Ecclestone, Tochter des Formel-1-Bosses, für 150 Millionen Dollar erworben wurde. Riesenhafte Poolanlagen mit fantastisch beleuchteten Wasserfontänen strahlen hier Richtung Himmel. Wir gleiten weiter, über die Liegenschaft eines Saudi-Prinzen aus Katar, der erst kürzlich das Prestigelabel von Hollywood, Miramax, von Disney gekauft hat. Von hier oben erkennt man nichts von der Götterdämmerung in Hollywood: Die Studios siechen, MGM ist gerade an der Pleite vorbeigeschrammt. Wir schweben über eine 35-Zimmer-Villa in Brentwood, die vielleicht schon bald von Lady Gaga bewohnt werden soll. Dann über das angrenzende, noch von Kojoten und Klapperschlangen besiedelte Grundstück - 12 700 Chalon Road -, das sich der momentane Boss der Hollywood-Bosse, Jim Gianopulos, für einen gigantischen maurischen Tempelbau mit dem womöglich grössten privaten Pool der Welt reservieren liess. Der Mann hat Avatar produziert, der mit 2,8 Milliarden Dollar globaler Einnahmen erfolgreichste Film der Filmgeschichte. So einer sagt gerne Dinge wie: „Das Kino war die Kunstform des 20. Jahrhunderts. Wir sind aber im 21. Jahrhundert. Jetzt fängt was Neues an.“ Viele wissen noch nicht, wie das aussieht.

Von hier oben im Himmel sind Hollywoods Stellungskriege nicht erkennbar. Bloss erahnbar, wenn die Stadtlichter - diese unabsehbare, leuchtende, geometrische Unendlichkeit – plötzlich in einem Wolkenspalt explodieren. Der französische Philosoph Jean Baudrillard schrieb mal ganz entzückt vom Nachtflug über Los Angeles: „Nur die Hölle von Hieronymus Bosch vermittelt einen ähnlichen Eindruck von Glut.“ Die Anhöhe der Chalon Road bei Nacht ist der Blickwinkel eines Weltraumbewohners auf den Planeten Hollywood - oder der Blickwinkel auf einen apokalyptischen Themenpark.

In den letzten Jahrzehnten wurde Los Angeles von einer Katastrophenserie heimgesucht. Sturmfluten, Erdbeben, Dürre, Grossfeuer und bürgerkriegsähnliche Unruhen. Gleichzeitig haben unzählige Kinofilme den Untergang der Stadt inszeniert. Wahlweise sind es Ausserirdische, Kometen, Erdbeben, Sintfluten, Vulkane. Man könnte sich fragen, wieso eine Stadt so viel Pech hat. Ist L. A. bei Gott in Ungnade gefallen? Hat es ein schlechtes Karma? Manche halten L. A. für zu jung, um ein echtes Karma zu haben. Haben sich die Elemente aus irgendeinem Grund verschworen, um Los Angeles zu zerstören. Fest steht, schon am 8. September 1781, vier Tage nach der Gründung der Stadt, wurden sämtliche Baumaterialen der Siedler von einer Springflut weggeschwemmt. Kein Jahrzehnt vergeht seither ohne verheerendes Feuer, Erdbeben oder Überflutungskatastrophe. Die 1990er-Jahre gelten als das schlimmste Katastrophenjahrzehnt in der Geschichte von Los Angeles.

Selbst in den besseren Viertel, den sogenannten Gated Communities, ist niemand sicher vor der Apokalypse oder der technisierten Luftaufklärung zum Wohle der Informationsgesellschaft: Luftbilder von Polizeiverfolgungsfahrten wechseln sich in den Abendnachrichten mit Bildern von Prominenten ab, die vor dem Bodenpersonal der Unterhaltungsindustrie, den Paparazzi, flüchten. Nehmen wir das Beispiel des prominentesten Bewohners der Chalon Road in Brentwood: Arnold Schwarzenegger. Kein anderer Mensch symbolisierte die Menschwerdung des Fremden exemplarischer, die drohende Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Alien, menschlichem Bewusstsein und Computer. Arnold Schwarzenegger, der Moviestar, setzte den Humanismus unter Definitionszwang.

Arnold stand kürzlich alleine in seinem Garten. Keine Maria. Keine Kinder. Keine Bodyguards. Niemand weit und breit. Er kniete auf dem weichen grünen Moos und schaute seine Hände an. Er schaute die Bäume an, deren Zweige von jungen Blättern und Knospen strotzten. Er sprach scheinbar mit den Sträuchern und Bäumen. Dann berührte er zärtlich eine rote Rose. Er nahm eine Harke. Er rechte Zentimeter um Zentimeter eines Stückes Rasen, wie ihm das seine österreichische Yoga-Trainerin als Entspannungstherapie verordnet hatte. Er harkte mit dem Rechen tief in den Rasen. Dann zog er fest und blickte hoch gegen den Himmel, in Richtung einer „Nachtsonne“. Arnold nennt seine Gartenarbeit gerne auch „a Flucht vorm Reality“. Das ist alles.

Paparazzi und Sensationsreporter der Fernsehsender haben längst eine neue Regel des Konsums geschaffen: betrachten, was man nicht betrachten würde, hören, was man nicht hören würde, auf das Banale achten, auf das Gewöhnliche, auf das Infra-Gewöhnliche. In Los Angeles finden täglich zwanzig Autoverfolgungsjagden, zwei Banküberfälle und fünfzehn gemeldete Belästigungen von Sensationsjournalisten gegenüber Berühmtheiten statt.

Der Pilot taucht jetzt seinen Hubschrauber durch einen Wolkenspalt, wir schweben über dem Anwesen des Milliardärs Richard Rosenblatt, des ehemaligen Gründers von My Space und ultimativen Internet-Geek. Er hat seine zukünftige Nachbarin Lady Gaga mit Programmierern bekannt gemacht, ihr die Scheu vor Algorithmen genommen. Für viele aus der alten analogen Welt Hollywoods sind Leute wie Rosenblatt eine Bedrohung, weil sie sich Dinge einfallen lassen, die Angst machen. Sie haben diese Idee, dass es im Netz keine Geheimnisse gibt, geben darf. Alles ist da, alles ist abrufbar, kopierbar, und genau das ist das Prinzip, das Lady Gaga zu einer neuen Art Popstar gemacht hat. Sie versteckt sich nicht wie einst Michael Jackson auf einer Ranch oder wie Rock Hudson, Charles Bronson oder Marilyn Monroe in ihren Villen – Lady Gaga ist immer da, im Netz.

Wir rotieren über dem Mandeville Canyon und einem dunkelblau leuchtenden Pool, der zum Anwesen von George Clooney gehört. Der Garten ist voller fluoreszierender Rosen, und vor hohen Hecken spielen gerade zwei Kinder in Tommy-Hilfiger-Safarihemden mit einer leeren Flasche Stolichnaya, die sie über einen weiten, plüschweichen Rasen kicken, bis zu einer hohen Hecke, die das Clooney-Grundstück von seiner Nachbarin, Jodie Foster, trennt. Zwei Schwimmerinnen tauchen jetzt in den Pool, schwimmen durch das tiefblau leuchtende Wasser bis zur Unterwasserbeleuchtung. Sie verharren dort eine Weile. Sie starren durch das klare, glitzernde, blau chlorierte Wasser ins Licht. Einfach glücklich in die Poolbeleuchtung starren. Das ist alles, was zählt.

Circa 1500 Menschen haben sich im Grossraum Los Angeles auf das Säubern von Pools spezialisiert. Pools gibt es in den ärmeren Vierteln von Los Angeles genauso wie in Beverly Hills oder Pacific Palisades. Wie die meisten Giraffenpalmen, die Anfang des 20. Jahrhunderts massenhaft nach Los Angeles importiert wurden, so entstammt die Swimmingpool-Kultur der Idee von Immobilienspekulanten, die mit Pools und Palmen den Wert ihrer Liegenschaften steigern wollten. 2011 wurden 43 Ermordete in Swimmingpools zurückgelassen. Los Angeles hat pro Jahr durchschnittlich 333 Sonnentage. Jeder Bürger von Los Angeles besitzt im Durchschnitt 8,3 Badeanzüge und konsumiert im Durchschnitt 127,2 Lakritzstücke. Europäische Einwanderer, wie etwa der britische Maler David Hockney, waren nach ihrer Ankunft in Los Angeles bezaubert von der Poolkultur und dem sich im Wasser reflektierenden kalifornischen Licht, sodass sie sich für Monate nicht mehr vom Anblick ihrer Feuchtzonen trennen konnten. Der Wert eines Hockney-Gemäldes vom im Pool reflektierten Sonnenlicht wird mittlerweile auf 5 bis 10 Millionen Dollar geschätzt.

Samstagnachmittag, kurz vor Weihnachten: Brad Pitt verlässt den Privatflugplatz in Santa Monica durch einen Hinterausgang. Brad taucht in einer Limousine unter. In seinen Armen hält er Knox, das ist sein dreijähriger Sohn. Er wird abgeschirmt von einem Bodyguard, der gleichzeitig Pitts Dackel McQueen an die Brust drückt. Der Blitzlichtorgie der Paparazzi können sie nicht entkommen. Die ersten Bilder von Knox kurz nach seiner Geburt verkaufte das Ehepaar für 14 Millionen Dollar an People beziehungsweise Hello. Das Geld spendeten sie an die Jolie-Pitt Foundation.

Im Wageninneren umarmt Brad jetzt seinen Jungen. Er öffnet das Sonnendach. Er legt sich und seinem schlafenden Jungen einen Schal über den Kopf. Am Himmel über der Limousine rotiert ein Hubschrauber mit ausgeschalteter „Nachtsonne“. Die Limousine fährt Richtung Küstenstrasse, den Telefonmasten des Pacific Coast Highway und den Stämmen der Palmen entlang, die sich im Rhythmus beugen, während ihre Kronen kreisförmig schwanken.

Brad Pitt schliesst die Augen. Er hat in den letzten zwanzig Jahren gelernt, über den Rand seiner Gefühle hinauszublicken: Er hat sich von seinem alltäglichen Stardasein losgelöst, um MEHR zu sein als ein Hollywood-Posterboy. Brad Pitt adoptiert Kinder, sammelt zeitgenössische Konzeptkunst aus Los Angeles: John Baldessari, Mike Kelley, Ed Ruscha, Paul McCarthy, Jason Rhoades, er gilt als Liebhaber von Mid-Century-Architektur und -Design - Neutra, Lautner, Charles and Ray Eames. Er spendet mehr Geld als jeder andere Hollywood-Star. Nächstenliebe steht im Zentrum seiner Sehnsucht, er setzt sich gegen Aids und den Welthunger ein, vielleicht liest er sogar ägyptische Gnostiker. Brad Pitt führt eine stille Hollywood-Revolution an: Die Errettung der Welt mündet in ein Szenario posthumanen Glücks und posthumaner Nächstenliebe, das von den Superstars selbst gestaltet wird. Dieses MEHR ist eine Rolle, die heute viele junge Stars der Unterhaltungsindustrie zu ihrem Lebensinhalt erklären wollen. Sehnsucht: WIRKLICH leben! Emotionalität und Denken als Leitmotiv. Distanz zur medialen Figur schaffen. Überleben! Vielleicht ist aber auch alles bloss ein Realismus der gespielten Lügen - entworfen von cleveren Agenten und Beratern -, in dem sich das Gute und Schöne dieses Konzepts längst von dem Wahren verabschiedet hat. Brad Pitt und Angelina Jolie gelten heute als die beliebtesten, kultiviertesten und bestbezahlten Superstars von Hollywood. Natürlich wird auch ihre Wahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit von der Richtigkeit der Lüge bestimmt, die sich an der PR-Funktionalität bemisst. In keiner anderen Stadt der Welt lässt es sich besser im Schutz der Lüge gedeihen und leben.

Der Pilot zieht jetzt seinen Hubschrauber auf 1500 Fuss hoch, er schwebt Richtung Süden. Der Pilot heisst Officer Carl, er kommt aus New York, ging mit achtzehn nach Los Angeles, um Kameramann zu werden. Er wurde dann Stuntman, unterrichtete Karate, nahm Flugunterricht, ist jetzt vierzig, arbeitet für das Los Angeles Police Department und fliegt Hubschrauber über Los Angeles. „Nachtsonne“, Bordkamera und Richtmikrofon werden von Officer Mark bedient. Er kommt aus Boston, arbeitete zuerst auf einem Golfplatz, verlor seine Frau bei einem Drive-by-Shooting, wurde dann Polizist und Co-Pilot. Seither beobachtet er Los Angeles von oben, bedient die „Nachtsonne“, richtet den Suchstrahl auf verdächtige Autos, verdächtige Passanten, verdächtige Villen, verdächtige Pools, verdächtige Stars. Manchmal lässt er den Strahl auch grundlos eingeschaltet. Wieso tut er das?

Der Suchstrahl durchlöchert die stadthistorische Dunkelheit. Spendet Officer Mark Licht für die Inner City im Gedächtnis an alle Bewohner von Los Angeles? Dabei ist diese Stadt kulturhistorisch längst bestens ausgeleuchtet und voller fantastischer Farben: die Schatten der Unterkühlung im Film noir, die futuristische Kälte des Science-Fiction, die bunte Verrücktheit der blaxploitation, die Düsternis der Krimis von Raymond Chandler, Ross McDonald und James Ellroy, der goldene Schimmer der alten, toten Hollywood-Studios. Vielleicht ist das Licht der einzige Kompass, nach dem das Leben in dieser Stadtwüste ausgerichtet ist.

Wie unter einem Brennglas repräsentiert Los Angeles heute ein städtisches Modell, an dem sich die wesentlichen Trends, Möglichkeiten und Risiken moderner Stadtentwicklung erkennen lassen: Neben der Katastrophenhauptstadt ist L. A. auch Welthauptstadt der Gettoisierung, der Strassengangs, der Freeways, der Rüstungs- und Flugzeugtechnik, der Pornoindustrie, der Fitnessindustrie, der Schönheitschirurgie, der Shoppingmails, der Einwanderer, der Verrückten, der Schönheitskönigin-sucht-Ruhm-und-Reichtum-Industrie, der Surfund Skateboardindustrie, der Zersiedelung, der Segregation, der Verelendung, des verheimlichten Rassismus und der Luftüberwachung. Keine andere Stadt in Literatur und Film ist so eindeutig zur Ikone einer verstörenden Gegenwart und finsteren Zukunft geworden. Das postapokalyptische L. A., heimgesucht von Terminatoren, Androiden, Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Gangs, ist inzwischen genauso Klischee wie Philip Marlows schäbige Strassen, Strandpartys, Surfer- und Skateboardfilme wie The Endless Summer oder Dogtown and Z-Boys oder die subtil-schöne und wunderbar irritierende Endzeitstimmung bei David Lynch. Die Unterhaltungsindustrie hat den verblassten Glanz der Stadt aus alten Zeiten zu einem neuen Glanz des Niedergangs aufpoliert. Hinter dieser schaurig-schönen Massenvernichtung steckt die perverse Logik eines Dr. Seltsam. Und schafft für die Bewohner von Los Angeles doch als historisches Bezugssystem so viel Intimität, Wärme, Wahrhaftigkeit, Vertrauen, was auch immer man dagegen sagen mag.

Dass Stadtgeschichte „lesbar“ ist, Orientierung und Erinnerung möglich ist, das gilt in europäischen Städten mit Altstadt und einer sogenannten Stadtmitte als Normalfall. Los Angeles dagegen ist ein von der rasenden Bodenspekulation immer wieder neu erschaffenes und zerstörtes und von Hollywood mythologisiertes Niemandsland. Seine Bewohner haben irgendwann die Fähigkeit verloren, ihre Stadt, die zum Moloch herangewachsen war, zu lesen. Das Interesse an der Realität dieses Ortes mit seinen besonderen historischen Schicksalen, Menschen und Architekturen schien verloren. Die Stadtgeschichte von L.A. lässt sich seither nur noch durch einen fiktiven Schleier betrachten, den Filmindustrie, Celebrity-Hysterie, Fernseh- oder YouTube-Kultur über sie gebreitet hat. Radikale Erinnerungsarbeit ist nötig, um Gegenwart zu fühlen: Autoverfolgungsfahrten live am Fernsehen können das Vergessen bezwingen. Originalschauplätze von Kinofilmen verwandeln sich zu neuen Zeichenträgern. Das gilt auch für Grundstücke, wo Stars leben oder gelebt haben! Landschaften, Strassenzüge und Gebäude aus TV-Serien wie Detektiv Rockford - Anruf genügt, Columbo oder neuere Erfolgsserien wie Entourage. Drehorte aus Filmklassikern wie Point Blank, Heat, Blade Runner, Escape from L. A., Chinatown, Mulholland Drive, The Usual Suspects, Batman Forever, Seven, Independence Day, die Liste ist lang. Filme und Fernsehbilder bieten uns ein Referenzsystem, das historische Bedeutung erfährt. Dazu zählen auch die guten alten Paparazzi-Bilder, Helikopterverfolgungsfahrten mit „Nachtsonnen“, im Fernsehen direkt übertragen, auf YouTube abrufbar, berühmte Gerichtsverfahren wie der Fall O. J. Simpson, der Fall Lindsay Lohan, der Fall Phil Spector, das unerklärliche Verschwinden von Demi Moore, die abgehackten Körperteile in den Hollywood Hills, der Tod von Whitney Houston, die unerklärliche Macht des Kardashian-Clans. Motive, Tatorte, Gerüchte, Wertvorstellungen und Legenden aus der Kulturgeschichte der Unterhaltungsindustrie (wie sie zum Beispiel im legendären Buch Hollywood Babylon von Kenneth Anger aufgelistet sind) müssen in der Wirklichkeit von L. A. gewürdigt und wenn möglich besichtigt werden. Auch wenn dort heute vielleicht bloss ein von Stacheldraht umschlossener leerer Parkplatz zu finden ist. Erinnern ist das letzte verbliebene Mittel gegen die Entleerung der Gegenwart. In Los Angeles ist es ein gesellschaftliches Projekt von historischer Bedeutung.

Officer Carl durchfliegt jetzt ein Bündel Lichtstrahlen, abgeschossen am Wilshire Boulevard, direkt neben dem LACMA (Los Angeles County Museum of Art). Es sind acht riesige weisse Strahler, die gegen den Himmel gerichtet sind und um die eigene Achse rotieren, als ob es im Himmel Kunstfreunde oder Feinde aus fernen Galaxien zu empfangen gäbe. Gewöhnlich wollen diese Strahler bloss Aufmerksamkeit für etwas ganz Irdisches erzeugen: Filmpremieren oder angesagte Partys. Jede Nacht strahlen im Grossraum Los Angeles durchschnittlich über dreihundert Lichttürme gegen den Himmel - fast so viele, wie die englische Flak-Abwehr im Zweiten Weltkrieg über London eingesetzt hat. Aber diese Strahler beim LACMA sind auf einer höheren Mission, sie sollen die Schwärze von Los Angeles durchlöchern, die absolute Dunkelheit der Kulturlosigkeit, ein kulturhistorisches Black Hole am Pazifik - von New York und Europa oft verhöhnt und mitleidig belächelt.

Die Lichtbündel werben für die grösste Kunstausstellung, die Los Angeles jemals gesehen hat: Pacific Standard Time: Art in Los Angeles 1945-1980, benannt nach der Westküsten-Zeitzone, soll zugleich eine neue Zeitrechnung der Kunst markieren. PST zeichnet die Entstehung der schillernden Kunstszene von Los Angeles nach. Es ist die grösste Retrospektive in der US-Geschichte. Das rotierende Scheinwerferlicht soll bis in die endlosen Vorstädte sichtbar sein, vielleicht sogar bis weit nach New York leuchten. PST ist ein enormes Unterfangen mit enormen Hoffnungen. L.A. war immer eher ein Synonym für Hollywood, Blendwerk und Oberflächlichkeit, aber kaum für Kunst. Doch nun wollen es die Südkalifornier dem Rest der Welt zeigen. Der Moloch L.A. mutiert dabei zu einem riesigen Museum, mit den Freeways als Fluren zwischen den Ausstellungssälen.

Eine Reise im Polizeihubschrauber über die Flure der Kunst, der Apokalypse und der optimistischen Helligkeit der Nacht wird dabei zu einer fantastischen Reise ins neue ICH von Los Angeles: Da unten, in dieser geometrisch glühenden Endlosigkeit, gibt es 10 000 Skandale, Verschwörungstheorien und Konzepte für ein Leben als Star. Es gibt Millionen Gerüchte und Sehnsüchte, aber es gibt eben auch 500 Kunstgalerien. Hier unten leben mehr als 50 000 Künstler. Rechnet man noch Schauspieler, Schriftsteller, Musiker, Pornostars wie Sasha Grey, Karosseriekünstler aus East L. A., Zuhälter als Musikproduzenten, Gangsta-Rapper, Graffitikünstler, Surf- und Skateboarddesigner, korrupte Detektive der Rampart Division, die nebenbei als Polizeifilmberater dienen, oder Medienphänomene wie Paris Hilton hinzu - man kommt leicht auf mehr als eine halbe Million Kreative. Und L.A.s etablierte Künstler machen Kunst längst zur Geldsache - ob sie es wollen oder nicht. Der Kunsthandel in Los Angeles setzt jährlich rund 750 Millionen Dollar um. Das höchstdotierte Werk von Mike Kelley, Multimediakünstler aus Los Angeles, erzielte kürzlich einen Auktionspreis von 2704000 Dollar. Paul McCarthy, Performancekünstler/Bildhauer: 1496 600 Dollar. Raymond Pettibon, Maler: 744000 Dollar. Charles Ray, Bildhauer: 2 206 000 Dollar. John Baldessari, Konzeptkünstler/Fotograf: 4408000 Dollar. David Hockney, Maler: 5407407 Dollar. Edward Kienholz (verstorben) Bildhauer: 176000 Dollar. Sam Francis (verstorben), Maler: 4048000 Dollar. Richard Diebenkorn (verstorben), Maler: 6760000 Dollar. Die Liste ist lang. Viele L. A. -Künstler, ganz im Gegensatz zu ihren Kollegen in New York, empfinden ein gewisses Unbehagen bei diesen Zahlen. Etablierte Künstler aus dieser Stadt verhalten sich grundsätzlich scheuer, zurückgezogener und beobachten Kunstszene und Kunstmarkt mit grösserem Misstrauen als ihre Kollegen in New York oder Europa. Was sonst noch?

1. Es gibt in Los Angeles mehr Selbsthilfegruppen für UFO-Entführungsopfer als im ganzen restlichen Land zusammen. 2. Die Jagd auf Motten im Lichtkegel von Strassenlaternen ist verboten. 3. In Los Angeles werden mehr Unternehmen von Frauen und Angehörigen von Minderheiten geführt als in jeder anderen Stadt der USA. 4. Jedes Jahr lassen sich circa 100 000 Frauen die Brüste vergrössern. 5. Es leben hier 56 Menschen, die legal auf den Namen Jesus Christus getauft sind. 6. Wenn man alle Polizeikräfte des Los Angeles County zu einer Armee zusammenfassen würde, wäre sie die fünftgrösste der Welt. 7. Los Angeles bewegt sich pro Jahr ungefähr einen Zentimeter nach Osten

Morgendämmerung. Zwei Tage später. Officer Carl fliegt seinen Helikopter über das San Fernando Valley. Er hat einen Notruf aus South Pasadena empfangen. Selbstmord im Prominentenumfeld. Details sind noch nicht bekannt. Er nimmt einen zweiten Notruf an. Drive-by-Shooting im Rampart-Distrikt. Fluchtwagen fährt jetzt auf dem Highway 101 Richtung Norden. Officer Mark gibt sein Okay und steigt höher. Wir sind noch weit im Westen, über der Ranch der Jackson-Familie in Encino, unter uns liegt die Magnolia Avenue, fünfzehn Meilen lang, sie führt ans östliche Ende, zu den Bürotürmen von Universal, Disney, NBC - und zur legendären US 101, oder Santa Ana/Hollywood /Ventura Highway oder die 101. Dieser Highway ist so verdammt cool, dass er fünf Namen hat. Unter uns beginnt der Asphalt zu glänzen. Wir schweben über endlose Einfamilienhaussiedlungen, billige Motels und Lagerhallen, Studios, wo Künstler wie Jason Rhoades, Ed Ruscha, Mike Kelley oder Chris Burton am Anfang ihrer Karriere Werke produzierten, über eine endlose, meist unter einem sonnendurchfluteten Leichentuch von Dunst liegenden Ebene.

Das San Fernando Valley ist das glanzlose Hinterland Hollywoods, Suburbia in quintessenzieller Langweiligkeit, berühmt aus Filmen wie Chinatown und E.T., berüchtigt aus Millionen Pornosequenzen, die von mehr Menschen auf der Welt gesehen werden als alles, was Steven Spielberg je gedreht hat. Das Tal der Pornos ist ein unendliches Netz aus sich rechtwinklig kreuzenden Strassen. Man kann hinter dieser monotonen Schuhschachtel-Landschaft eine Umkehrung des amerikanischen Traums erkennen, so wie Kritiker in den Werken von Mike Kelley und Paul McCarthy die dunkle Seite des amerikanischen Traums erkannten, die sie albtraumartig mithilfe verschiedener Medien aufsuchten. Oder auch die Coolness des poetisch-glamourisierten Grauens, wie sie uns in Boogie Nights, dem besten Film über die Pornoindustrie von Paul Thomas Anderson, präsentiert wurde. An die 90 Prozent des amerikanischen Pornofilm-Business sind im biederen San Fernando Valley angesiedelt, hier werden mehr Pornos produziert als in der ganzen restlichen Welt zusammen, und mit halb nostalgischer, halb ironischer Unverschämtheit hat Boogie Nights mit Mark Wahlberg deren heimlichen Horror wie deren entschwundenen Siebziger-Jahre-Glanz noch einmal heraufbeschworen. Aber das ist alles lange her.

Officer Mark nimmt jetzt mit seiner Bordkamera einen silbergrauen Chevy Malibu ins Visier. Es ist ein tiefergelegtes Massauto. Die möglichen Täter des Drive-by Shootings in Rampart District stammen aus der Low-Rider-Szene. Sie nennen sich mittlerweile auch Karosseriekünstler, seit ein Kunstkritiker des Magazins Bomb die besten Prachtexemplare mit der spanischen Bildhauerkunst verglich. So ein Massauto wie dieser Chevy Malibu, der jetzt vom 101er auf den 170er eingeschwenkt ist, verfolgt von einer kleinen Armada Streifenwagen, ist also mit einer Menge geistigem und spirituellem Gepäck belastet: mit alter technischer Kunstfertigkeit, Kraft, Mystik, Speed, Chronic-Marihuana und dem guten alten politisch gefärbten HipHop von Cypress Hill. Vielleicht gehört das Autoveredeln zur authentischsten Kunst aus Los Angeles!

So ein Wagen fährt selten schneller als 50 Stundenkilometer. Schliesslich ist es eine Skulptur, womöglich mit prächtig verziertem 350-PS-Motor, der gefährlicher funkelt als sämtliche Schaukästen bei Tiffany. Der sexy Glanz der Kühlwasserleitung lässt in den Augen Sonnenkugeln explodieren. Das verchromte Luftfiltergehäuse verwandelt sich zur skulpturalen Übergrösse. Aber jetzt ist dieser Chevy eingekreist von drei Hubschraubern der drei grossen lokalen Fernsehsender, einem Polizeihubschrauber und sechs Streifenwagen. Sie werden an ihm kleben, bis der Fahrer aufgibt, das Benzin ausgeht, der Traum vom besseren Leben notfalls im Kugelhagel und einer Blutlache endet.

Max Weber schrieb einmal: „Mit dem Verlust eines Sinnes für das Heilige wird die Realität bedrückend, nichtssagend und alltäglich.“ Karosseriekünstler aus Los Angeles haben den Glauben an das Heilige in der Kunst wiedergefunden. Doch mit dem Erfolg hat der Konkurrenzkampf zugenommen. 80 Prozent aller Autokünstler sind Gangmitglieder. In Los Angeles gibt es über 1500 Strassengangs mit circa 200000 Mitgliedern. Sechzig Prozent aller in Los Angeles County begangenen Morde finden im Gangmillieu statt, ungefähr 700 pro Jahr.

Der massgeschneiderte Chevy Malibu gleitet jetzt über den Golden State Freeway nordwärts, Richtung Wüstenvorstädte, 30 Kilometer von Downtown Los Angeles entfernt, mit 10 000 parzellierten Fertigheimgrundstücken, inklusive Klimaanlage, Swimmingpool und Sicherheitsmauern. Der Ort, den wir anpeilen, heisst Valencia, Heimat der grössten Achterbahnen der Welt, Magic Mountain, und der legendärsten Kunstschule Amerikas: California Institute of the Arts, angeführt von einem ihrer einflussreichsten Kunstprofessoren und Künstler, John Baldessari. An dieser Schule ist die Lehre von Warhol oder Beuys genauso wichtig wie das Studium der Manson-Morde oder des psychedelischen Sounds von Sky Saxon and The Seeds. Hier studiert man Hintergründe und Einfluss von Hippiekultur, Guerillaaktivitäten der Black Panther Party, Eldridge Cleaver, den Sound der eventuellen Erfinder des Heavy Metal, Blue Cheer, oder die Qualitätsunterschiede von bestimmten LSD-Sorten genauso intensiv wie Adorno, Berliner Dadaisten, Pop-Art, Op-Art, Frank Stella, Barnett Newman, Post-Painterly Abstraction und die manipulierende wie unendlich raffinierte Doppelzüngigkeit der New Yorker Kunsttheorieschule von so legendären Kritikern wie Clement Greenberg oder Harold Rosenberg, sagen wir mal, anno 1961.

Hier wurde das Fundament geschaffen, das zum heutigen Siegeszug der Kunstszene von Los Angeles führte. Vor 31 Jahren verbrannte John Baldessari seine Werke der letzten 13 Jahre und deklarierte die Feuerbestattung zum künstlerischen Akt. Dem Cremation Project fiel ein ganzer Bilderberg zum Opfer. Der Künstler hatte Angst, unter seinen Gemälden, die keiner haben wollte, begraben zu werden. Ohne Baldessaris Befreiungsschlag, ohne seinen Pioniergeist wäre die Kunstwelt heute ärmer. 1970 gründete er den Lehrstuhl für Post-Studio Art und inspirierte Künstler wie Mike Kelley, Richard Prince, Matt Mullican, Jim Shaw, Raymond Pettibon und eine ganze Generation, die aus den medialen Resten, dem Hässlichen, Brutalen der amerikanischen Gesellschaft die Funken ihrer Kunst schlagen.

Der Chevy Malibu stoppt seine Fluchtfahrt. Wir rotieren parallel zu den Fernsehhelikoptern von WNBC und Fox über einer Strasse mit dem Namen Avenue X - ein befestigtes Niemandsland mit eingeschossigen Einfamilienhäusern im Ranchhausstil mit gelbbraunen Rasenflächen und Sträuchern aus der Alten Welt. Aus Wassermangel müssen hier fast jeden Sommer die Pools geleert werden. Ein glatzköpfiger Latino im weissen Unterhemd steigt jetzt mit ausgestreckten Armen aus seiner Autoskulptur, sechs LAPD-Polizisten mit gezogener Waffe brüllen ihn an, fordern ihn auf, sich flach auf den Boden zu legen. Er drückt seinen kahlgeschorenen Schädel auf den Asphalt und kichert dazu Richtung Fernsehhelikopter. Dass er sich „live“ auf eine waghalsige Verfolgungsfahrt mit dem LAPD eingelassen hat, ist bloss weiterer Beweis, wie cool und gnadenlos sie sind. Schon in den nächsten Stunden werden Hunderttausende auf YouTube Bilder seiner Verfolgungsfahrt geniessen können. Vielleicht hat sein Grinsen aber auch mit dem Marihuana zu tun, das er am Morgen rauchte und das Teil des Gesamtkunstwerks Träume von einem besseren Leben ist.

Der Mann, der die Vorstadt von Los Angeles seit Anfang der 1960er-Jahre flächendeckend bewirtschaftet hat und für einen Grossteil des rechtwinklig parzellierten Niemandslandes verantwortlich ist, gilt als einer der grössten Kunsthändler weltweit. Eli Broad gibt jährlich gut 250 Millionen Dollar für die Kunst aus. Seine Kunst ist in der ganzen Stadt verteilt, steht und hängt in Museen, in seinem Wohnhaus, in seiner Galerie. Überall auf der Welt bitten Museen um Leihgaben, in der Hoffnung, dass er ihnen die Werke irgendwann überlässt. Niemand weiss, was nach seinem Tod damit geschehen wird. Er weiss es selbst nicht, und im Augenblick beschäftigt ihn diese Frage auch nicht. Für ihn zählt nur, dass er verliebt ist, dass er sich der Kunst mit Haut und Haaren verschrieben hat. Sein Vermögen beträgt 14 Milliarden Dollar. Er hat es mit Immobilien sowie Bank- und Versicherungsgeschäften verdient. Er hat diese Schuhschachtellandschaft und den Traum davon erschaffen. Sein Unternehmen Kaufman and Broad hatte dabei eine besondere Böswilligkeit gegenüber der kalifornischen Wüste entwickelt. Die Zerstörung der Joshua Trees, die sorglose Wasserverschwendung, die klaustrophobischen, mit Mauern und Stacheldraht gesicherten und befestigten Mini-Banlieues für den Chardonnay-Lebensstil in der Wüstenvorstadt: mit Klimaanlagen, mit satten Rasenflächen, riesigen Pools, Sträuchern, Giraffenpalmen, Pseudo-Mansardendächern und neureichen, parfümierten Titeln wie Chateau, Fox Run, Bravo, Cambridge, Sunburst, New Horizon usw. Viele Verfolgungsfahrten enden in Eli Broads Wüstenvorstadt.

Er ist nicht der Einzige, vor ihm gab es andere. In Malibu gab es Getty, dessen Haus zu einem Museum und dessen Stiftung zu einer Institution wurde. Es gab Norton Simon in Pasadena, der seine Sammlung der Öffentlichkeit überliess. Unterhaltungsmoguln, Studiobosse und Chefs von Agenturen und Schallplattenfirmen waren auch auf der Jagd nach schönen Dingen. Ja, Eli Broad ist nicht der Einzige, aber niemand ist noch heute so besessen und hingebungsvoll, so reich und kunstverliebt wie er. Er wurde der grösste Kunstsammler weltweit. Der berühmteste Architekt der Welt entwarf ein neues Haus aus Titan, Glas und Beton für ihn. Nebenan liess er eine Galerie erbauen, auch aus Titan, Glas und Beton, in der er abwechselnd seine Meisterwerke zeigte. Berühmte Künstler suchten ihn auf und schufen Dinge für ihn, weil er sie liebt. Er häufte die grösste Kunstsammlung der Welt an. Alles aus Liebe zur Kunst.

Aus Liebe zur Kunst hat sich Mike Kelley nicht umgebracht. Es ist der traurigste Tag in der Geschichte der modernen Kunst von Los Angeles. Mike Kelley ist tot! Wir überfliegen jetzt Highland Park und South Pasadena. Hier unten war sein Studio, inmitten eines legendären Gangterritoriums, wo sich 18th-Street-Gangster, Big Top Locos und Krazy Ass Mexicans bekämpften. Ich hatte Mike Kelley dort im Jahr 1994 besucht und ihn später in einer Geschichte für das Magazin der Süddeutschen Zeitung den „Schreck der Kuscheltiere“ genannt. Er war damals noch nicht so bekannt. Kelley galt als freundlicher, aber extrem scheuer Mensch. Er lebte weiter bescheiden, auch als sich seine Werke für Millionen verkauften. Und das hatte nichts mit einem aufgesetzten Underdog-Bewusstsein zu tun. Er konnte nicht anders. Legendär ist seine Angst vor dem Autofahren. Er war Punk, und er liebte die Isolation, die „innere Vereinsamung“ in dem Riesenmoloch Los Angeles, die ihm mit jenen Kräften versorgte, um die scheussliche Kehrseite Amerikas in Kunst umzuwandeln – und Kunst heisst dann: Schock. Er zeigte mir damals, wie er Teddybären an Augen und Armen verletzt, an Zimmerdecken aufknüpft oder wie er sie auf seinem Torture-Table aufreiht – wie im Leichenschauhaus. Menschen dagegen zeigte er in seinen Arbeiten fast ausschliesslich in nacktem und entwürdigendem Zustand, mit Schmutz, Speichel oder Wunden im Gesicht. Auf die Robe Benjamin Franklins zeichnete er einen Riesenpenis, auf die Stirn von Lincoln ritzte er ein Hakenkreuz. Die schönen Künste hat Kelley attackiert wie kein Künstler von ihm. Aufgewachsen ist er im katholischen Arbeitermilieu eines Vororts von Detroit. Geprägt von repressiver Erziehung, späterer Erleuchtung im Anarcho-Umfeld der White-Panther-Bewegung und vom Sound der Detroiter Rockmusik: MC5, Iggy Pop and The Stooges oder Alice Cooper. Er verglich die Möglichkeit der Asozialität und Hemmungslosigkeit als Künstler in Los Angeles mit der des Kriminellen. Das Boulevardblatt The Sun behauptete, Kelley-Kunst entstamme „dem kranken Hirn eines Kindermörders“. Gemässigtere Stimmen halten ihn heute für den einflussreichsten Künstler Amerikas. Manchmal sprachen wir stundenlang über solche Dinge wie Dadaismus der Hippiekultur, Dichotomie zwischen guten und bösen Hippies, wieso er Hippies schon immer für antirevolutionär hielt, und manchmal fiel auch der Name: Charles Manson. Aber das ist eigentlich eine ganz andere Geschichte.

Charlie Manson kam nach Los Angeles und wollte, wie so viele, sofort Popstar werden. Er schaffte es, zuerst als Komponist von Cease to exist auf die B-Seite einer Beach-Boys-Single. Dann wurde er der berühmteste Serienmörder und berühmteste Häftling Amerikas. Guns N‘ Roses coverten seine Songs, und T-Shirts mit seinem Porträt verkaufen sich bis heute millionenfach. Dabei dauerte Charlie’s Magical Mystery Tour nur drei Jahre, von 1967 bis 1970, genauso lange wie Aleister Crowleys Thelema-Abtei. Der Höhepunkt war Heiter Skelter, die Höllenfahrt, wie er den Beatles-Song interpretierte. Aber noch was passierte 1969, als Charlies Family durch die Hollywood-Nacht schlich, Menschen erstach, unter anderem Roman Polanskis Freundin, die schwangere Sharon Täte, mit elf Messerstichen: Das Internet wurde 1969 erfunden, die Beatles lösten sich auf und im selben August, als Charlie durch die Hills zog und Menschen aufschlitzte, landete nicht irgendeine Apollo auf dem Mond, diesem bisher verbotenen Territorium: Es war Apollo 11. Die Elf ist eine okkulte Zahl, sie ist die Sünde, denn sie überschreitet die Zehn Gebote … alles freakish wahr!

Tage vor seinem Selbstmord war Kelley depressiv. Das behaupten Freunde. Er sei deprimiert gewesen - wegen der Trennung von seiner Freundin. Wenn ihn seine Freundin nicht mit ihrem Wagen abholte, verliess er sein Studio nicht mehr. Er habe sich schon seit Monaten total isoliert, auch wegen seiner Angst, in Los Angeles Auto zu fahren, auch wegen seiner Unfähigkeit, sich überhaupt an die Vermassung seiner Kunst und seines Erfolges anzupassen. Für Kelley verkam der Kunstbetrieb immer mehr zum Grosskonzern. Er hatte es immer wieder im engeren Kreis seiner Kollegen ausgesprochen: Hätte er nochmals die Wahl, er würde niemals Künstler werden!

Zwei Tage später. Ein brauner Undercover-Polizeiwagen der Marke Chevy Caprice gleitet jetzt durch das Sicherheitstor der Rampart-Polizeistation, 1401 West, 6th Street. Im Wagen sitzen zwei Officer, die sich Johnson und Daily nennen. Womöglich sind es nicht ihre richtigen Namen, den sie gehören zur CRASH- Abteilung der Rampart Division, der berüchtigtsten Anti-Gang-Abteilung von Los Angeles. Keine andere Abteilung in der Geschichte der Polizeiarbeit inspirierte Hollywood mehr als die legendärste und korrupteste Polizeiabteilung der USA (u.a. Adam-12, die erste realistische Polizeiserie im US-Fernsehen von 1965 bis 1975. Colors, 1988, von Dennis Hopper. Grand Theft Auto, Videogame. The Shield, Krimiserie. Rampart, 2011, ein Polizeifilm basierend auf einem James-Ellroy-Drehbuch. Die Liste ist lang.)

Tatsächlich gleichen Officer Johnson und Daily den Schauspielern Denzel Washington und Ethan Hawkes aus dem Film Training Day (2001), vielleicht der beste aller Rampart-Filme. Johnson und Daily sind Freunde, manchmal gönnen sie sich nach Schichtwechsel ein Bierchen in der Bar Frank N Hanks, 518 South Western Avenue, im angrenzenden Koreatown. Beide grinsen gerne, haben einen scheinbar ruhigen Blick, obwohl sie den ganzen Tag durch die Frontscheibe in eine verstörende Welt starren. Ihr Revier – Rampart, Mid-City und Koreatown – ist eine riesige Mietplantage: der grösste Mietkasernenbezirk westlich des Missisippi. In Rampart ist die Bevölkerungsdichte höher als in New York City (100 000 Menschen, die meisten Zentralamerikaner aus El Salvador und Guatemala, leben im Radius von einer Meile). Daily erzählte mir mal im Hank N Frank von seinen Gehirnfilmen. Von seiner Schlaflosigkeit. Von Träumen der Schwerelosigkeit, die meistens in Albträumen enden. Nur eine Tiefenströmung seines Bewusstseins würde dann den Deckel auf den Albträumen halten. Manchmal, wenn er erwache, schmecke er Blut im Mund. Um die Macht der Albträume zu begrenzen, schläft er meist bei Licht, und wenn er im Laufe der Nacht aufwacht, geht er zu einem mannshohen Spiegel an der Badezimmertür und starrt seinen Körper an.

Auch Johnson spricht davon, dass der am heftigsten unterdrückte Bereich seines Gehirns manchmal die Fähigkeit entwickelt, ohne seine Zustimmung Filme laufen zu lassen. Dazu grinst er. Wenn die „Filme im Kopf“ ablaufen, dann beruhigen sie sich mit dummen Spässchen, und dazu reden sie wie John Travolta und Samuel L. Jackson in Pulp Fiction. Johnson sagt dann vielleicht, dass er sich morgen in Beverly Hills einen neuen Anzug kaufen will, er möchte endlich einen schönen, perfekt sitzenden, teuren Anzug. Er macht dann eine kleine Verschnaufpause und richtet seinen Revolvergurt. Einen Anzug möchte er kaufen, in dem er so heiss aussieht, dass ihn sogar Heteros ficken würden, huh, huh. Daly grinst ein bisschen nervös und blickt sofort zurück auf die Strassen von Rampart. Er winkt jetzt einem illegalen Strassenverkäufer zu. Das ist alles.

Hollywood nutzte schon immer die verstörende Realität ihrer psychisch gespaltenen Gesetzeshüter. Privatdetektiv Philip Marlowe (Humphrey Bogart) und der Film noir machten den Anfang, prägend für Los Angeles wurde später die Blade-Runner-Ästhethik mit Detektiv Deckhard (Harrison Ford). Die Stadt wird da längst ein rechtloses und schier auswegsloses Labyrinth durch den sich der moderne Protagonist nur mit miesen Tricks bewegen kann. Eines der letzten klassischen Vorbilder für den Polizistenentwurf in Hollywood-Krimis war der gerade verstorbene LAPD-Detektiv Phillip Vannatter, verantwortlich unter anderem für die umstrittenen Verhaftungen von Roman Polanski, 1975, und O. J. Simpson, 1994. In beiden Fällen gab es den Verdacht der Manipulation am Tatort. Vannatter hat seine Rolle als „korrupter“ LAPD-Cop schlecht vertragen. Er galt als letzter Repräsentant der „schiesswütigen Ritter“ oder „der Redneck-Besatzungsarmee“, wie das LAPD des legendären Polizeichefs William Parker Anfang der 1950er-Jahre wegen pathologischem Rassismus und Schiesswütigkeit genannt wurde. Vannatter starb kürzlich vereinsamt auf einer kleinen Ranch im Mittleren Westen.

Das Rampart-Revier liefert seit Mitte der 1980er-Jahre den „besten“ Hollywood-Stoff. Es hat die höchste Mordrate im Land, es ist ein riesiges, mit Crack überschwemmtes Gebiet westlich von Downtown, beherrscht von der 18th Street Gang, der grössten Strassengang der Welt mit ihren 5000 bis 10 000 Vatos. Die Rampart -Divisison verursachte den grössten Polizeiskandal in der Geschichte der USA. Der Skandal betraf über 70 Officers, denen Korruption, sexueller Missbrauch, Folter, Schusswaffenmissbrauch, Drogenhandel und vieles mehr vorgeworfen wurden. Kollegen von Johnson und Daily standen auf der Lohnliste von Hip-Hop-Mogul Marion „Suge” Knight von Death Row Records, einem bekennenden Mitglied der Strassengang „Bloods“. 1997 wurden CRASH-Officer verdächtigt, den Rapper Notorious B.I.G. bei einem Drive-by-Shooting ermordert zu haben.

In dieser Landschaft westlich von Downtown entstanden die „authentischsten” Los-Angeles-Filme der jüngeren Filmgeschichte: Heat und Coüateral von Michael Mann oder Drive von Nicolas Winding Refn. Darin soll die andere Realität von Los Angeles gezeigt werden, ausserhalb der Studios. Vielleicht sogar so etwas wie das echte L. A. Die Inner City im bleichen Licht. Die Industriegebiete, die endlosen Parkplätze, das Niemandsland, die Leere der Nacht. Die Helligkeit und Heiligkeit der Nacht. In Collateral hat Regisseur Michael Mann mit neuester HD-Technik operiert, und es ermöglichte ihm einen Blick in die Dunkelheit von Rampart, wie es für das blosse Auge nicht möglich ist, in die Tiefe endloser Strassenzüge, tief in die Schwärze von Los Angeles und seinen Menschen. Ein ahnungsloser Taxifahrer lässt einen Auftragskiller einsteigen, gespielt von Tom Cruise Sein Motiv ist die Selbstzerstörung, und er sagt irgendwann einmal diesen Monumentalsatz: „Wichtig ist doch bloss, dass das ICH in der endlosen Selbstfixierung immer Fragment bleibt - wie ein entfernter Gegenstand der eigenen Beobachtung.”

Ein schöner Satz. Denn in einer komplizierten, chaotischen Welt ist der einzige und nächstliegende Gegenstand, dem man noch Sinn zusprechen könnte, das eigene Selbst. Los Angeles ist Hauptstadt des totalen Individual-Anarchismus. Vernichte jeden, der bloss danach aussieht, aus strategischen Gründen den Gesellschaftsvertrag am Leben zu erhalten. DU BIST DU. Das IDEAL-ICH. Und so wird es wieder Nacht in Los Angeles.

Johnson und Daily gleiten jetzt an den Rampart-Slums vorbei, wo Latino- Einwanderer dicht gedrängt in winzigen, schlecht instand gehaltenen Wohnungen leben. Ein Gebäude mit 60 Wohneinheiten (und bis zu 400 Bewohnern), das einer klassischen Mietskaserne an der Ostküste so ähnlich sieht, dass Hollywood es häufig für South-Bronx-Aussenaufnahmen benutzt, bringt zum Beispiel alle zehn Monate seinen Schätzwert wieder hinein. Die Vermieter sind oft Koreaner, was die Spannungen am Kochen hält. Zuletzt explodierte diese Wut über die ungerechten Machtverhältnisse 1992 in den sogenannten L.A. Riots.

Johnson winkt jetzt illegalen Strassenverkäufern zu, die sie womöglich als Informanten nutzen. Sie gleiten die kilometerlange Vermont Avenue entlang, von zweistöckigen Mini-Mails gesäumt, wo die Neonreklamen der Banco Agricola de El Salvador gleich neben denen der Korea Airline hängen. Daily deutet auf ein riesiges Graffito an der Ecke Wilshire und Alvarado Street, das sie gestern auf ihrer Patrouille noch nicht gesichtet hatten. Muss letzte Nacht entstanden sein. Rampart und Mid-City gelten als erste Adresse der Streetart-Szene. Mittlerweile zieren die legendären Werke von Bansky, Above, Invader, Shepard Fairey, Mear One, BLU, D*Face, Deedee Cheriel, Mister Brainwash, Kofie und den vielen anderen die Häuserlandschaft und Flure zwischen den traditionellen Ausstellungsorten, von Downtown bis an den Pazifik.

Johnson hasst Graffitikunst, ihn stört, dass sich dieser „Kunstdreck”, wie er es nennt, mit den traditionellen Graffiti der Gangkultur vermischt, die den Undercover-Cops gute Hinweise auf gewisse Strömungen und Spannungen innerhalb der Gangkultur liefern.

Johnson biegt ab Richtung Westen auf den Santa Monica Freeway ab. Die beiden Cops stecken sofort im Stau fest, sie hören den Polizeifunk ab, grinsen in sich hinein, irgendwann kauft Daily Süssholzstengel von einem Strassenverkäufer bei der Autobahnausfahrt Crenshaw Boulevard. Vor ihm liegt jetzt sein Zuhause, South L.A., eines der grössten Schwarzengebiete Amerikas. Während der 1970er-Jahre war es überwiegend eine Mittelschichtsgegend, in den 1980er-Jahren wurde es von Gangs überrannt, von Crack aufgezehrt und zu einer der gewalttätigsten Gegenden im ganzen Land. 1992 wurde es durch Aufstände verheert, 1994 durch ein grosses Erdbeben schwer beschädigt und kurz darauf im Film Jackie Brown von Quentin Tarantino auf der Leinwand verewigt. Hier emanzipierten sich die Rapper der Westküste mit ihrer eigenen Spielart, dem Gangsta-Rap. N.W.A, die Niggaz with Attitüde, unterlegten ihre Rhythmen mit Maschinengewehrsalven, Reifenquietschen und dem Knattern von Hubschraubern. Ice Cube brüllte Hasstiraden gegen Koreaner, Weisse und Polizisten. Ice-T beschrieb bis ins Detail genau Schiessereien, Überfälle und Vergewaltigungen. Es waren diese Superstars, die Hip-Hop zur Minstrel-Show degradierten. Das weisse Vorstadtpublikum liess sich dagegen seine Gettoklischees bestätigen und kitzelte mit den Brutalotexten ihre Angst vor dem schwarzen Mann. Die durchgeknallte Inszenierung von Gangsta-Rap brachte erst das Auftauchen eines dünnen, hochgewachsenen Kiffers namens Snoop Doggy Dogg aus Long Beach zum Implodieren. Snoop und sein Produzentengenie Dr. Dre wurden die Retter des Rap, und Snoop verwandelte sich dabei zum amerikanischen Volkshelden, der heute immer noch bei Bill Clintons Geburtstagsfesten auftaucht, Softpornos für weisse Daddys auf Geschäftsreise dreht oder zur Einführungsparty für neue US-Postal-Briefmarken nicht fehlen darf. Das war gut. Doch dies alles hatte nur wenig mit der Realität zu tun, die die Menschen in den Schwarzenbezirken zwischen Inglewood und Compton eigentlich anstreben: ein ganz normales Leben.

Johnson fährt jetzt nach Norden, durch ein Niemandsland aus Fast-Food-Restaurants, Gebrauchtwarenhändlern und Parkplätzen, dann Richtung Glanz und Reichtum: Vor ihnen jetzt das Fantasieland Beverly Hills, dann auf den Wilshire Boulevard Richtung Westen, vorbei an der Gagosian Gallery, in der gerade die Werke des Schweizer Künstlers Urs Fischer dem Geldadel aus Beverly Hills angedreht werden sollen. Vorbei an den Glastürmen, die unzählige Talentagenturen, Talentmanagement-Firmen, PR-Agenturen und Anwälte beherbergen. Bis die Fahrt vor dem Beverly Hilton Hotel endet. Johnson blickt kurz hoch zu den Helikoptern über dem Hotel. Die „Nachtsonne” ist eingeschaltet Es ist der Tag nach den Grammys, der Tag nach Whitney Houstons Tod. Im Beverly Hilton wimmelt es von Stars mit ihren Entouragen. Draussen vor dem Hotel wimmelt es von Journalisten, Fans und Cops, die die Vorfahrten sperren und den Verkehr umleiten.

Johnson zeigt diskret seinen LAPD-Ausweis und stellt sich dann in die Reihe der Limos, die sich entsetzlich langsam die Hotelvorfahrt hinaufschieben. Manchmal, in Warteposition, durchlebt Officer Daily wie in Zeitlupe seinen persönlichen Zusammenbruch: wie ihn Los Angeles innerlich geformt, besessen und vertrieben hat. Und wie er hofft, seine Paranoia im Kopf irgendwie so weit bekämpfen zu können, dass er sich in den Undercover-Cop von böser Sachlichkeit verwandeln kann, den er zu sein trachtet.

Daily prüft jetzt seinen Revolver, bevor er aus dem Wagen steigt, einen roten Teppich betritt, einem Hotelangestellten mit Walkie-Talkie irgendetwas ins Ohr sagt und dann mit Johnson lässig hinter ein Absperrseil tritt, das von Fotografen und Gaffern umstellt ist. Eine Woge schwüler Luft fegt über die Menge der Fans hinter der Absperrung, einige wedeln mit Fotos von Whitney Houston. Noch ist nicht geklärt, was im Hotelzimmer geschehen ist. Johnson und Daily sind beauftragt, nachzuforschen, ob es eine Verbindung zwischen einem legendären Rampart-Dealer und Whitney-Houston-Vertrauten am Vortag gegeben haben soll. Es geht um Drogen, es geht um Medikamente, es geht um den Tod.

Im grossen Empfangssaal stehen drei coole irische Bodyguards, die die Ankunft von Lady Gaga, Mary J. Büge und P. Diddy abwarten, jeder trägt Phat-Farm- Anzüge und hantiert mit übergrossen Walkie-Talkies. Johnson beobachtet jetzt eine kleine, improvisierte Pressekonferenz, die Kim und Khloe Kardashian am Rande des grossen Empfangsraumes geben. Wieso das berühmteste Geschwisterpaar von Los Angeles ausgerechnet hier aufgetaucht ist, muss mit den 200 Journalisten vor dem Hotel zu tun haben. Die Kardashians wollen so etwas wie einen „tieferen Schmerz” über den Tod ihres Idols Whitney Houston ausdrücken. Die Kardashian-Töchter sind immer dort, wo Kameras sind. Kim, Khloe und Co. sind bekanntlich in diverse Geschäfte mit Beauty-, Kosmetik- und anderen Lifestyle-Produkten verwickelt. Der Kardashian-Clan soll im vergangenen Jahr rund 85 Millionen Dollar umgesetzt haben. Unter anderem auch deshalb, weil allein die ominöse - und bis in die Hochzeitsnacht im TV und Print vermarktete – Eheschliessung mit dem Basketballspieler Kris Humphries rund 25 Millionen Dollar in die Kassen der geschäftstüchtigen Familie gespült haben soll. Die Ehe wurde nach 72 Tagen annulliert. Kim lächelt jetzt in die Kameras.

Es ist ein Lächeln der Macht. Ein perfektes Lächeln. Es existiert in dieser reinen Form nur in dieser Stadt. Und wer es in New York oder Europa, in Politik, Wirtschaft oder der gehobenen Kunstszene von Zürich, Berlin oder London beherrscht, muss es sich hier abgeschaut haben. Wobei perfektes Lächeln und Macht im Sinne von Kim Kardashian ein schillerndes Phänomen ist, das bei den gewöhnlichen Menschen natürlich ambivalente Gefühle auslöst. Wir bewundern und beneiden das Lächeln der Sieger, ihre Macht, und wir überschütten die Mächtigen mit Hohn, wenn die Macht verloren geht. Aber die Macht von Kim Kardashian ist so sinnlos, dass auch der Hohn nicht funktioniert. Es ist reine, unantastbare, sinnlose Macht. Die grösste Macht von Los Angeles.

Die Kardashians sind Teil eines Virus, der alle und alles befällt, was Aufmerksamkeit braucht. Die kalkulierte Selbstmediatisierung und Darstellung nach den Regeln theatraler Inszenierungslogik ist in der Politik, in der Wirtschaft genauso wie in der Kunstwelt zu einer der Hauptaktivitäten geworden. Der Virus Kim verkündet vom irrationalen Kern der Waren-, Medien- und Kunstwelt, und sein Ursprungsort und die Formel dazu wurden hier, im guten alten Hollywood der 1920er-Jahre, entworfen.

Das Wunder von Kim Kardashian ist also kulturhistorisch zu würdigen und blitzt jetzt auf als die Pathologie der Gegenwartskultur von Los Angeles. Natürlich gäbe es dazu noch Tausende von Fragen zur grossen Kultur des Selbst und des Ausverkaufs des Selbst, diesem komplexen Ineinanderwirken von Leben, Privatem, Innerem, Eigenem, Sinnlosem, Subjektivem, dem Ich und dem Räderwerk des Alltags aus öffentlichen Auftritten, Networking, Mordlust und Selbsttötung. Für die Officers Johnson und Daily stellen sich die Fragen ähnlich: Wer oder was hat Whitney Houston umgebracht? Und in welcher Falle sass sie fest?

Kim Kardashian nimmt jetzt einen Schluck aus einer Wasserflasche. Ihre Fingernägel sind mit zum Teil abgesplittertem braunem Nagellack überzogen. Das ist alles.

Am Hotelpool des Beverly Hilton sitzt zur gleichen Zeit der Schauspieler Sean Penn und raucht eine Zigarette. Er wartet mit seinem Assistenten auf eine Limousine, aber draussen bei der Vorfahrt herrschen Chaos und Rauchverbot. Für Sean Penn interessiert sich an diesem Abend niemand. Die Kameras sitzen dem Virus Kim auf, draussen bei der Vorfahrt schwenken Whitney-Houston-Fans Bilder der jungen Whitney. Eine zweite Gruppe protestiert gegen die Pharmaindustrie und skandiert „Medicine Murder”. Sie schwenken Bilder von Stars, die vermutlich an Medikamentensucht oder an der Einnahme falsch dosierter Mengen von Schmerz- und Beruhigungstabletten gestorben sind: Marilyn Monroe, Elvis Presley, Kurt Cobain, Chris Farley, Anna Nicole Smith, Heath Ledger, Farrah Fawcett, Michael Jackson, Amy Winehouse, Whitney Houston. Die Liste ist lang.

Sean Penn zieht seine Sonnenbrille vom Gesicht, er streicht sich mit einem weissen Taschentuch über die Stirn, tupft Schweiss aus dem Gesicht, dem Gesicht aus Mystic River, Dead Man Walking oder den anderen Penn-Filmen, in denen er verzweifelten Zorn und bösartige Trauer vermischt. Er schaut jetzt in Richtung des hellblauen Unterwasserlichts im Hotelpool. Dazu bläst er Rauch über die Raucherzone. Das Böse in seinem Gesicht ist auch an diesem Abend angenehm anziehend, sympathisch, auch schwach und verstört. Wie der junge Burt Lancaster in The Killers oder in CrissCross. Fred MacMurray in Double Indemnity, Alan Ladd in The Blue Dahlia oder Robert Mitchum in Out of the Fast. Die Umwelt ist düster und verschlossen. Am Ende wird das Böse aufgedeckt, aber das Überleben der Guten bleibt unklar und zwiespältig. Das war das Kennzeichen des Film noir - die grandioseste Kunstform, die Los Angeles jemals entworfen hat, mit einer Botschaft vernetzt, die jeder verstehen kann: diesem gnadenlosen Gefühl des In-einer-Falle-Sitzens.

Los Angeles hat uns die besten Bilder zu diesem Gefühl geschenkt. Niemand gewinnt wirklich, und doch muss jeder alles versuchen. Gefangen in Paranoia und Angst. Unfähig, Schuld von Unschuld zu unterscheiden, echte Identität von falscher. Es sind Filme, die nicht länger das Leben verklären. Sie bringen Geschichten ans Licht, die von der Nacht des Menschen erzählen. Erwachsene Geschichten mit erwachsenen Helden, die weisse Taschentücher tragen und womöglich auch einen Revolver. Wahre Geschichten aus Los Angeles.

Whitney Houston starb wie ein klassischer Hollywood-Star des Film noir: einsam in der Badewanne eines Hotelzimmers. Einsamkeit und Paranoia sind natürlich nicht nur das grosse Thema des Film noir, sondern auch das Thema des Los Angeles Police Department, der Kunst aus Los Angeles. Sean Penn kennt jene Lebensqualität, die auch Whitney Houston, Mike Kelley, Dennis Hopper, Jason Rhoades, James Dean, Jim Morrison und die vielen anderen Künstler in dieser Stadt kennengelernt haben, in der man immer tiefer in den Schmutz und in bezaubernde Abgründe vordringt und dabei immer mehr an Hochmut gewinnt.

Sean Penn zeigt es uns manchmal mit diesem kaputten, ausweglosen, todessüchtigen Gesicht, das dann wie ein letzter radikaler Anschlag auf den Mythos des jungen Siegers aus Hollywood erscheint. Penn trägt gerne weisse Hemden. Schön gebügelt. Mit Umschlagmanschette, kombiniert mit klassischem Anzug, Krawatte, Siegelring am Mittelfinger - es lässt die selbstzerstörerischen, paranoiden Tendenzen dramatischer erscheinen. Alain Delon spielt so einen Typ in Der eiskalte Engel, Tom Cruise in Collateral oder Sean Penns verstorbener Bruder Chris Penn als nice guy Eddie Cabot in Reservoir Dogs. Los Angeles hat uns viele dieser Typen vermacht. Und uns dabei eine künstlerische Freiheit geschenkt.

Als Sean Penn in der Limousine vor dem Beverly Hilton untertaucht, hängt sein ganzes Hemd aus der Hose, die vier oberen Knöpfe sind aufgerissen. Der Lichtkegel einer LAPD-„Nachtsonne“ gleitet über das Hotelgelände. Penns Hemd ist am Kragen verschmutzt Er nimmt jetzt nochmals seine ausgedrückte, verglühte Zigarette unter die Lupe, als sei etwas nicht mit ihr in Ordnung. Dann wirft er sie weg. Der Fahrer schliesst die Limousinentür. Es ist jetzt viertel nach zehn, Pacific Standard Time, der Nachthimmel über Los Angeles gleitet mit hoher Geschwindigkeit auf den Pazifik zu.