Phoenix – Ein Jahr in den Niemandslandschaften

von 
Reportage
zuerst erschienen 2006 in Süddeutsche Zeitung
Eine Langzeitbeobachtung der großen französischen Popband

Köln, April 2005

Backstage-Räume sind die Ausnüchterungszellen des Pop. Der hier ist vielleicht zwölf Quadratmeter groß, dunkler Boden, dunkle Wände, zwei Sofas, ein Kühlschrank, ein Tisch, darauf ein zerrupfter Obstteller und ein paar aufgerissene Plastikpackungen mit Industrie-Essensresten. Glamour sieht anders aus. Spaß auch.

Es ist gegen elf Uhr abends, das Konzert ist eben vorbei, die letzte Zugabe gegeben, draußen leert sich der kleine Saal langsam, wird das Stimmengewirr leiser. Es herrscht Feierabendstimmung im Backstage-Raum des Kölner Prime Club, Ende eines normalen Tages auf Tour: Ankommen, Soundchecken, Spielen, Abgehen (auf der Bühne), Abgehen (von der Bühne), noch ein Bier mit der Crew und ein paar Gästen, bevor es ans Zusammenpacken geht, ans Weiterfahren.

Tourneen haben kein Ziel. Sie haben nur einen Anfang und ein Ende. Diese hier wird noch vier lange Monate weitergehen. Bald ein Jahr vorher hat sie angefangen. Eine unfassbare Zeit eigentlich.

Auf einem der beiden Backstage-Sofas sitzen Christian Mazzalai und Laurent Brancowitz, die beiden Gitarristen der französischen Popgruppe Phoenix. Eben noch haben sie auf der kleinen Bühne ein paar Meter weiter vorn gestanden, jenseits der Wand, und haben die Lieder ihrer bis dahin zwei Alben gespielt, die „United“ und „Alphabetical“ heißen und sie international bekannt gemacht haben. Die beiden Platten waren große Erfolge bei den Kritikern. Bei den Käufern eher mittlere.

Phoenix sind bekannt, nicht berühmt. Aber besonders. Phoenix haben das, was man im Englischen ein cult following nennt. Die Leute, die die Band kennen, mögen sie nicht bloß. Sie lieben sie. Weil ihre Musik, die man entsprechend der Fächerordnung der Plattenläden früherer Tage Poprock nennen mag, etwas Seltenes verspricht: Liebe, Hoffnung, Trost, die Erinnerung an brennende Sehnsucht und ein besseres, schöneres, leichteres Leben, ein Zurück also in die traumhaften Niemandslandschaften der Jugend, ohne dass man die Gegenwart dafür verlassen müsste. „Too Young“ und „If I Ever Feel Better“ heißen die bekanntesten Lieder von Phoenix, zu „Too Young“ tanzten Scarlett Johansson und Bill Murray in „Lost In Translation“. Einen besseren Film für Phoenix-Musik kann man sich nicht vorstellen.

Mazzalai spielt Brancowitz auf der Akustikgitarre jetzt eine Melodie vor. Brancowitz nickt im Takt, Mazzalai schaut ihn fragend an, Brancowitz lächelt. Daraus könnte etwas werden, soll das wohl heißen. Dann nehmen sie ihr Bier und prosten den anderen zu, dem Bassisten Deck D’Arcy, der sich gerade angeregt unterhält, und dem Sänger Thomas Mars, der etwas verloren im Raum steht. Aus der Melodie aber wird kein Lied werden. Jedenfalls keines, das auf dem neuen Album wäre, das in diesem Moment weder einen Namen hat noch überhaupt aus mehr als einer Idee besteht. Der Idee, es sofort nach dem Ende dieser Tournee aufzunehmen.

Berlin, Oktober 2005

Wenn Thomas Mars durch das große Panoramafenster vor Tisch im ersten Stock von Planet Roc sieht, auf dem seine Textkladde liegt und ansonsten nicht viel mehr als ein Aschenbecher steht, kann er unter sich die Spree sehen. Seit August, seit dem Tag nach dem letzten Konzert dieser endlosen Tournee, sind Phoenix jetzt in Berlin. Gekommen sind sie buchstäblich mit nichts. Aber das war auch der Plan. Drei Monate wollten sie bleiben, zum ersten Mal wollten sie ein Album nicht zuhause aufnehmen, in ihrem Studio, das sie in Jugendtagen im Elternhaus von Thomas Mars in Versailles eingerichtet haben. Sie wollten weg, auch weg von Paris, von Saint Germain, wo sie heute alle leben. Weil diese Platte anders werden sollte als die anderen zuvor.

Die späte Sonne des fabelhaften Oktobers 2005 scheint nun durch das Panoramafenster vor Thomas Mars’ Schreibtisch, aber gut ist nichts. Nach zwei Monaten ist immer noch kein Lied wirklich fertig. Dabei hätten sich Phoenix auch gedanklich gar nicht weiter von Saint Germain wegbewegen können als in den tiefsten Osten Berlins, nach Oberschönweide, dahin wo früher einmal für den DDR-Rundfunk Hörspiele aufgenommen wurden.

Der Bauhaus-Architekt Franz Ehrlich hat den Komplex an der Nalepastraße in den fünfziger Jahren gebaut, heute wirkt er vergessen, obwohl es Mieter gibt für die vielen kleinen und die paar großen Studios. In einem nimmt das Deutsche Filmorchester Babelsberg auf, aber das wird bald zurückkehren an den Ort, der ihm mal den Namen gab. Planet Roc heißt ein anderes großes, kommerziell genutztes Studio auf dem Gelände, dessen Aufnahmeraum im Erdgeschoss eine wahre Ingenieursmeisterleistung ist. Durch Form und Ausbaumaterial ist er künstlich schalltot gemacht. Jeder Ton, jedes Wort verebbt schon im Moment der Klangwerdung, ohne Nachhall. Phoenix haben sich deshalb hier eingemietet, denn Phoenix sind, auch wenn man es ihren Platten mit ungeübtem Ohr nicht gleich anhört, ziemliche Klangfetischisten.

Ihr Sound ist trockener als fast alles, was man heute sonst so in jenem Pop zu hören bekommt, der noch mit natürlichen Instrumenten eingespielt wurde, unschepperig sozusagen, extrem konzentriert, rund, weich, nein: soft. Ihre Lieder sind, oder sie waren es zumindest bis zu diesem Punkt, auch komplizierter, komplexer strukturiert als üblich im Pop, regelrecht muckerhaft. Phoenix sind, bei aller Sehnsucht, bei aller hingeworfenen Lässigkeit, ungezwungenen Coolness, die sie umgibt, im Grunde Nerds: Musikmodellbauer der kleinen Großgefühle.

Aber jetzt sind sie alle irgendwie krank, sagt Thomas Mars, sie wechseln sich ab mit den Arztbesuchen und den komischsten Diagnosen, und das Album, ach: Besser nicht nach fragen. Das muss erst noch werden. Zwei Monate Arbeit reichen nicht, wenn man alles neu machen will, und doch nichts wirklich Neues. Bloß das Allergrößte: Nichts als die Wahrheit sagen, wie Laurent Brancowitz das nennt.

Versailles, Anfang März 2006

Thomas Mars und Laurent Brancowitz sind zum Empfang am Bahnhof von Versailles mit einem räudigen alten Opel vorgefahren. Doch nun, da Mars mit einer Fernbedienung das schwere Eisentor zu seinem Elternhaus öffnet, tut sich jenseits der hohen Mauern ein imposanter Blick auf. Auf dem Schottervorplatz haben reichlich ein Dutzend Autos Platz, dahinter reckt sich eine steinalte Villa empor. Eigentlich wollen Phoenix das Haus nicht mehr vorzeigen, in dem Mars groß geworden und das längst unbewohnt ist, doch in dem noch immer unten im Keller ihr Studio eingerichtet ist. Früher hat man sie auch wegen des Studios in diesem Haus Schnösel genannt und Söhne reicher Eltern. Nicht unbedingt der Ruf, den man haben möchte als Band.

Unten warten schon die anderen, Laurent Brancowitz und Deck D‘Arcy. Außerdem Drummer Thomas Hedlund, Percussionist Thomas Amethyste und Soundmann Cedric, die offiziell zwar nicht zur Band gehören, aber immer und überall dabei sind. Phoenix sind in der Probenphase für ihre neue Tournee, vor knapp zwei Monaten haben sie hier, in ihrem alten Kellerstudio, wo schon die beiden ersten Alben entstanden, ihre neue Platte zuende gebracht, oder eher zuende gezwungen. Aus Berlin hatten sie nur die Rohentwürfe der Lieder mitgebracht.

Das Kellerstudio ist ein mittelgroßer Raum, der Teppich ist ranzig, die Wände fast ganz beklebt mit Schaumstoff. Mit viel zuviel davon, sagt Christian Mazzalai. Im jugendlichen Eifer, als sie zur Band wurden, wussten sie nicht, dass in normalen Studios viel weniger davon benutzt wird zur Lärmdämmung und akustischen Wandverkleidung. So haben sie sich ungewollt schon damals mit ganz viel Schaumstoff ihren eigenen, aber nur beinahe schalltoten Raum geschaffen, der den speziellen Phoenix-Sound erst möglich werden ließ.

Nun proben sie ihre neuen Lieder durch, die klingen rougher, weniger soft als die alten, aber immer noch so unglaublich sehnsuchtsvoll, eingespielt haben sie es ohne die üblichen weichen Phoenix-Synthesizermelodien, sondern fast nur in klassicher Rockbandbesetzung, Gitarre, Schlagzeug, Bass. Das Album hat da auch schon einen Namen, „It‘s Never Been Like That“. Es ist nie so gewesen, kann das heißen, oder: Es ist wie nie zuvor. Phoenix stehen im Kreis, während sie die Lieder eines nach dem anderen durcharbeiten, und sie lächeln sich an.

Am Abend, zurück in St. Germain, treffen sie Roman Coppola. Er wird das Video drehen zu „Long Distance Call“, der ersten Single. Roman Coppola hat schon ein paar Videos für Phoenix gedreht, aber dieses müsste ein besonderes sein. In dem Lied geht es, wenn man den Text von Thomas Mars richtig, also richtig autobiografisch versteht, um Romans Schwester Sofia, die „Lost In Translation“-Regisseurin. Und um die interkontinentalen Telefonate, die Thomas Mars mit ihr, die in den USA lebt, führt. Die beiden sind ein Paar, sie erwarten ein Kind. Im Mai wird Thomas Mars in Cannes neben Sofia Coppola auf dem roten Teppich vor dem Festivalpalais stehen, ihr neuer Film „Marie Antoinette“ wird dort Weltpremiere haben, und die Fotografen der Weltregenbogenpresse werden sich fragen: Wer zum Teufel sind eigentlich Phoenix?

Berlin, Ende März, Anfang April

Thomas Mars und Christian Mazzalai sind zurückgekehrt ins Planet Roc. Sie geben Interviews, die anderen beiden Bandmitglieder tun das gleiche in einem anderen Land, sie haben sich aufgeteilt für die Promotion. Jetzt sollen sie sich und ihr Album erklären, sie sitzen im gleichen Raum, dem mit dem Spreeblick, in dem Thomas Mars die Texte für „It‘s Never Been Like That“ geschrieben hat, und die Worte fallen ihnen nun ebenso schwer, wie es wohl bei den Worten und Tönen war, die sie für ihre Platte finden mussten. Mars schaut seltsam abwesend, Mazzalai erzählt zögernd, wie er damals, zu Schultagen, in die Klasse von Mars kam, und dass er gleich wusste: An diesen Typen musst du dich halten, der ist wirklich cool. Mars sagt schließlich, dass er vor kurzem einmal allein in Venedig gewesen sei, und dass ihm dort noch einmal aufgefallen sei, wie sehr er die anderen Drei brauche zum Glücklichsein, denn: Ohne Freunde, mit denen man alles oder fast alles teile, sei das Leben doch nichts.

Zwei Wochen später sind Phoenix wieder in Berlin. Sie spielen im Keller des Club 103 ein Geheimkonzert. Die Lieder von „It‘s Never Been Like That“ klingen, bis auf eines, das „Lost And Found“ heißt, jetzt noch besser als auf dem Album. „Lost And Found“ war auch bei den Proben im Kellerstudio in Versailles schon ein Problem: Dem supersimplen Gitarrenakkord, der im Mittelpunkt des Stücks steht, fehlt es live im Gegensatz zur Plattenaufnahme an Direktheit, Wucht, Durchschlagskraft. Es war, als sei dieser Akkord zu schrammelig, zu einfach, zu grobschlächtig. Zu grobschlächtig jedenfalls für Phoenix, die Musikmodellbauer der kleinen Großgefühle.