Rauschgift und Jazz

Essay
zuerst erschienen im August 1959 in Twen
Marihuana ist etwas Sonderbares - wenn man es zu rauchen anfängt, sieht man alles zuerst in einem wunderbar beschwichtigenden, angenehmen neuen Licht. Die Welt ist plötzlich gar nicht mehr schmutziggrau, sondern ein einziger großer Bauch voll Gekicher, sphärisches Gelächter, gebadet in funkelnden Farben, die wie eine Hitzewelle treffen. Die ersten Züge sind toll. Marihuana erhebt einen Musiker in die Sphäre des Meisterhaften, und darum waren ihm so viele Jazzleute verfallen. - Mezz Mezzrow

Dick Twardzik war als Mitglied des Chet-Baker-Quartetts Europa gekommen. Eingeweihte kannten ihn aus Aufnahmen, die er mit Musikern seiner Heimatstadt Boston gemacht, oder aus der Jazzsatire „The fable of Mable“, die er für den Baritonsaxophonisten Serge Chaloff geschrieben hatte. Ich hörte Dick im Mainzer Schloß. Wir alle, die ihn dort hörten, waren fasziniert von ihm. Chet Baker sagte: „Er ist uns allen weit voraus.“ Es war viel von Thelonius Monk in seinem Spiel, aber technisch ordentlicher und überschaubarer. Nach dem Konzert fragte ich ihn, warum er gerade von Monk beeinflußt sei. Dick antwortete, ohne näher darauf einzugehen: „Mein Gott ist Arnold Schönberg!“

Drei Wochen danach fand man Dick Twardzik in einem Hotelzimmer in Paris tot auf seinem Bett liegend. Er war an einer Überdosis Heroin gestorben. Er war ein kluger und beweglicher junger Mann, war liebenswürdig und zuvorkommend, und war der Musik verschrieben wie wenige. Er lebte mit der Musik, und wenn er zu spielen hatte, arrangierte oder komponierte er oder er studierte Harmonielehre, übte oder las Bücher über Johann Sebastian Bach und Arnold Schönberg oder besuchte Symphoniekonzerte und Kunstausstellungen.

Warum wird ein solcher Mensch rauschgiftsüchtig? Warum überhaupt werden Jazzmusiker rauschgiftsüchtig? Es gehört unter Jazzfreunden nachgerade zum guten Ton, über solche Fragen hinwegzusehen. Auf daß man die Jazzmusik bei denen, die keine Jazzfreunde sind, nicht in Verruf bringe! Viele Jazzmusiker nehmen Rauschgift. Und zwar nicht erst im modernen Jazz. Schon im alten New Orleans-Jazz gab es Musiker, die sich durch Rauschgift zugrunde richteten; etwa der Klarinettist Leon Rapollo. Um Mezz Mezzrow, den Klarinettisten des Chicagostils der zwanziger Jahre, rankt sich ein berühmt gewordener Rauschgiftskandal. Viele Titel der alten New Orleans-Musik deuteten darauf hin, wie beliebt schon damals das Rauschgift war: „Muggles“, „Sending the Vipers“, „Texas Tea Party“, „Chant of Weed“ - Anspielungen auf Marijuana und Marijuana-Parties in Dialekt und Jargon.

Texas Tea for two

Das Marijuana - auch Marihuana geschrieben - ist ein Rauschgift, das dem Haschisch ähnelt. Es wird aus einer unkrautartigen Pflanze gewonnen, die zunächst in Mexiko wuchs, dann nach Texas verpflanzt wurde (deshalb auch Texas Tea genannt) und heute in ganz Amerika - vor allem im Süden der Staaten - auf versteckten Plantagen für die große Sekte der Süchtigen gebaut wird. Marijuana wird zumeist in Form von Zigaretten genossen. Es ist das Rauschgift des klassischen Jazz. Im modernen Jazz ist neben Marijuana immer häufiger das stärkere und gefährlichere Heroin getreten, das subkutan gespritzt wird. Die Liste der Jazzmusiker, die zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Laufbahn mit dem Rauschgift in Berührung gekommen sind und in vielen Fällen deshalb verhaftet, ins Gefängnis gesteckt oder Zwangs-Entwöhnungskuren unterzogen wurden, ist einigermaßen erschreckend. Sie reicht - das wissen, zumindest was die beiden ersten Namen betrifft, oft nicht einmal die Kenner - vom King of Jazz, Louis Armstrong, und von Duke Ellington über Billie Holiday und den vielleicht bekanntesten Schlagzeuger der Jazzmusik, Gene Krupa, bis zu Stan Getz und Chet Baker. Die Weichheit und Sensibilität, aus der heraus der moderne Jazz gespielt wird, hat die modernen Musiker weniger widerstandsfähiger gegen das Rauschgift gemacht, als es die älteren Musiker waren. Es gibt viele berühmte Jazzmusiker der älteren Stile, die ein Leben lang Rauschgift genommen haben, ohne daß sie irgendeinen Schaden gehabt hatten. Und es gibt andererseits viele moderne Musiker, denen der Rauschgiftgenuß nach wenigen Jahren im Gesicht geschrieben steht.

Genialität aus dem Rausch 

Bei den derberen Musikern des früheren Jazz, war es mitunter üblich, daß man sie Marijuana rauchen ließ, damit sie keinen Alkohl tranken. Leonard Feather berichtet von einem Bandleader, den er sagen hörte: „Stell dir vor, ich hab‘ dem Burschen ein ganzes Pfund ‚tea‘ gekauft - es hat mich 120 Dollars gekostet - und ich hab’s ihnen gegeben und ihnen gesagt: ,Hier, raucht das und laßt dafür den Whisky stehen‘ . ..“ Zugrunde liegt dabei die Überlegung, daß sich ein Betrunkener schlechter benimmt als jemand, der unter dem Einfluß von Rauschgift steht.

Rauschgiftgenuß - sowohl in Gestalt des relativ harmlosen Marijuana (Jazzmusiker rauchen es mitunter, weil es womöglich gerade einfacher ist, eine Marijuana-Zigarette zu bekommen als eine Lucky Strike oder Camel) wie in Gestalt des Heroin - hat sich in den letzten Jahren sehr verbreitet. Fachleute weisen darauf hin, daß der Prozentsatz an heroinsüchtigen Jazzmusikern annähernd dem Prozentsatz an Süchtigen in einigen anderen Berufsschichten entspricht, etwa unter Ärzten, Apothekern, Krankenhausangestellten, aber auch unter Architekten. Auch bei den Teenagers amerikanischer Hochschulen sind Rauschgifte der verschiedensten Art beliebt. Daß die Süchtigkeit bei Jazzmusikern besonders auffällt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sie durch ihren Beruf und durch ihre ständigen Reisen der Öffentlichkeit stärker ausgesetzt sind als Berufsschichten, deren Privatleben sich in den vier Wänden ihrer Wohnungen abspielt.

Natürlich ist das, was ein Jazzmusiker - und jeder andere - im Rausch erlebt illusorisch. Kein Jazzmusiker spielt besser, wenn er die Heroinspritze gebraucht hat. Aber viele glauben, besser zu spielen. Charlie Parker, der etwas von diesen Dingen verstand, hat das deutlich ausgesprochen: „Jeder Musiker, der sagt, er spiele besser, wenn er Marijuana genossen oder eine Spritze genommen habe, ist rundheraus ein Lügner… In der Zeit, als ich rauschgiftsüchtig war, mag ich gedacht haben, ich spiele besser, aber wenn ich heute die alten Schallplatten anhöre, weiß ich, daß ich in Wirklichkeit nicht besser gespielt habe.“

Damit sind wir bei der Praxis. Für einen Jazzmusiker ist das Gefühl, daß er auf seinem Instrument etwas zu sagen habe, eine Existenzvoraussetzung. Wenn er aber etwas zu sagen hat, dann hat er es Abend für Abend und Nacht für Nacht neu zu sagen. Er hat tagtäglich schöpferisch zu sein. Er kann nicht, wie irgendein „klassischer“ Musiker, eine Partitur aufschlagen und einen tausendmal gespielten Part zum tausendundeinstenmal abspielen. Er hat heute in diesem und morgen in jenem Nachtdub zu spielen, überall fünf oder sechs Stunden lang, jagt mit Konzertgruppen von Kontinent zu Kontinent und gibt an manchen Tagen zwei Konzerte in weit auseinanderliegenden Städten, dämmert auf der Fahrt von der einen in die andere Stadt für ein paar Augenblicke ein und ist, wenn er schließlich gespielt hat, so „aufgekratzt“, daß er nun, wo er endlich Zeit hätte, erst recht nicht ausruhen kann … aber die Menschen, die ihn hören, wissen das nicht und erwarten „den schöpferischen Jazzmusiker“. Wer aber schöpferisch ist, ist meist auch sensibel, und wer sensibel ist, kann, wenn er in der geschilderten Weise leben muß, nicht schöpferisch bleiben. Trotzdem weiß er, daß er der Erwartung seines Publikums entsprechen muß - ob er will oder nicht. So kommt ein Jazzmusiker fast zwangsläufig zum Rauschgift. Denn der Rausch gibt ihm das genialische Hochgefühl, aus dem heraus er glaubt, jeder Erwartung entsprechen zu können. Auch vergißt er im Rausch die erbarmungslose Gehtztheit des Lebens, das er zu führen hat. Der Rausch ist ein praktisches und einfaches, ständig in der Reisetasche wartendes Allheilmittel für alle Probleme.

Wöchentlich 500 Dollar für Heroin

Man hat in den letzten Jahren viel gegen den Rauschgiftgenuß der Jazzmusiker zu tun versucht. Man hat Musikerheime gegründet und kostenlose anonyme Entwöhnungskuren vermittelt und die Gefahren vor allem des Heroins in grellen Farben gemalt. Wenn aber wirklich geholfen werden soll, dann muß der Ansatzpunkt in der soziologischen Situation des Jazzmusikers liegen. Eine künstlerische Welt wie die der Jazzmusik einerseits und andererseits ein Musikgeschäft, dessen Menschen wie Räder einer Maschine sind, die zu funktionieren hat - das ist eine Gleichung, die nicht aufgeht. Wo sie scheinbar aufgeht, herrscht Illusion. Zu ihr verhilft das Rauschgift. Zuerst hilft und später ruiniert es. Fast alle Jazzmusiker, die in den letzten Jahren allzu plötzlich von der Jazzszene verschwanden, verschwanden in Sanatorien und Entwöhnungsheimen. Und oft in Gefängnissen. Wenigen gelang das Comeback, wie es vorübergehend Serge Chaloff, dem Schöpfer der Baritonsaxophonspielweise, oder dem Schlagzeuger Gene Krupa, gelang - letzterem kennzeichnenderweise durch seinen christlichen Glauben und seine Geborgenheitin der katholischen Kirche. Mary Ann McCall, die ehemalige Woody-Hermann-Sängerin, sagt:„Das Rauschgift ist trügerisch…es ist der schnellste Weg zum Ende. Sie werden sich erinnern, ich war Nr.-1-Sängerin in allen Polls des Jahres 1950. Schauen Sie mich heute an. Ich hatte ein Haus für 18000 Dollar. Es ist alles fort. Ich habe 400 bis 500 Dollar in der Woche für Heroin ausgegeben.“

Der bekannteste Rauschgiftskandal der letzten Jahre wurde durch Stan Getz verursacht, den Tenorsaxophonisten, von dem man sagt, daß sein Spiel die dritte Etappe des Tenorsaxophonspiels in der Jazzmusik darstelle: nach Coleman Hawkins und Lester Young. Als Stan im Gefängnis saß, schrieb er den folgenden Brief an Jack Tracy, den Chefredakteur von „Down Beat“, der bekannten amerikanischen Jazz-Zeitschrift… einen Brief, der über das Sachliche hinaus aufschlußreich ist wegen des fast kindlichen Stils, in dem er geschrieben ist, mit Naivität und Bewußtheit.

„Lieber Jack!

Ich habe viel zu sagen, aber keine Entschuldigungen, kein Bedauern und keine Versprechungen. Mein Versprechen bedeutet im Augenblick nichts. Wenn ich entlassen bin, dann will ich neu anfangen, und dann werden meine Handlungen zählen. Was in Seattle geschah, war unvermeidlich. Ich hätte mich nicht des Rauschgiftes enthalten sollen, während ich arbeitete und herumreiste. Aber ich dachte, ich könnte es mit Hilfe von Barbituraten schaffen. Seattle war der achte Tag unserer Tournee, und ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich ging in eine Drogerie und verlangte irgendein Rauschgift. Ich sagte, ich hätte eine Pistole (aber ich hatte keine). Die Frau hinter dem Ladentisch glaubte mir nicht… ich verließ den Laden und ging zu meinem Hotel. Als ich in meinem Zimmer war, dachte ich, es sei richtig, den Laden anzurufen und um Entschuldigung zu bitten. Ich tat das, und es wurde festgestellt, woher der Telefonanruf kam. Das Nächste war meine Verhaftung. Vor der Fahrt ins Gefängnis schluckte ich 60 Tabletten eines langwirkenden Barbiturats, das ich noch bei mir hatte. Ich hatte genug von mir und meiner Verrücktheit. Als ich nach drei Tagen aus dem Koma erwachte, begriff ich, daß die Ärzte es anders wollten. Gott wollte mich nicht töten. Dies war seine Warnung. Ich war sicher, daß er mich beim nächstenmal nicht am Leben lassen würde. Ich lag lebendig, aber ich wollte nicht leben wegen der Dinge, die ich getan hatte - und die Krankenschwester kam und brachte mir viele Briefe und Telegramme und richtete Telefonanrufe aus - und alle sagten dasselbe: ich sollte nicht verzweifeln, und sie bewunderten meine Musik … Ich bin nie gewesen, was man religiös nennen mag. Aber diese Leute zeigten mir, daß es einen Gott gibt - nicht über uns, aber hier auf der Erde, in den schlagenden Herzen der Menschen. Ich begriff, daß das, was ich getan habe, der Jazzmusik geschadet hat. Es ist nicht genug, wenn ich sage, daß es mir leid tut … ich habe viel mehr zu schreiben, aber uns werden nur drei Seiten am Tag erlaubt. Ich will es morgen wieder versuchen. Stan.“ 

Das stärkste Vokabular ist angebracht, wenn von den negativen Wirkungen des Rauschgiftes die Rede ist: die Zersetzung und Demoralisierung, die Auflösung der Persönlichkeitscharakteristika und -werte und alles, was dazu gehört - nicht zuletzt auch die gesundheitliche Auszehrung und Ruinierung. Wer dem Laster des Rauschgiftes verfallen ist, kommt nur sehr schwer wieder für immer davon los, mag er auch gelegentlich rauschgiftfreie Perioden haben. Er ist dem Gift so sehr ausgeliefert, daß er jeden Sinn für moralische Werte verliert, wenn er nur neues Gift bekommen kann. Da sein Laster teuer ist, braucht er Geld. Diebstahl steht am Anfang, am Ende steht der Entschluß, selbst mit dem Gift zu handeln. Dadurch, daß man andere Menschen süchtig macht, finanziert man das eigene Bedürfnis. Es ist keinem Menschen, der Rauschgift gebraucht, klarzumachen, daß darin irgendwas Verwerfliches liege, Moral ist nicht in seiner Welt. Deshalb sind auch die Gefängnisstrafen, die fast jeder Süchtige alle paar Jahre erhält (denn irgendwo wird man eben doch mal erwischt), illusorisch. Man empfindet sie nicht als Strafen, denn Strafen kann man nur empfinden, wenn man moralisch empfindet. Man nimmt sie als eine Art Zahlungspflicht, der man von Zeit zu Zeit nachzukommen hat. 

Rauschgift im Vorübergehen

Früher oder später wird man - so lautet der Ausdruck - „fertig“. Der Reiz des Rauschgiftes ist so unverhältnismäßig stärker als alles andere, was das Leben an Reizen zu bieten vermag, daß das Leben „schal und leer“ wird. Also wird es sinnlos. Und also gibt es - zumal dann, wenn man als künstlerischer Mensch einen „Sinn“ braucht - Selbstmord oder Selbstmordversuche.

In Raymond Thorpes „Confessions of a Drug Addict“ schluckt der „Held“ Aspirin packungsweise; als er dann trotzdem nicht stirbt, sucht er sich jemanden, der ihm seine Story schreibt. Die Story muß schauerlich sein. Warum? Damit andere Leute abgeschreckt werden? Nein. Damit sie sich gut verkauft. Man braucht Geld für neues Rauschgift.

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daß fast alle Jazzmusiker die rauschgiftsüchtig waren, dies als vorübergehendes Stadium einer Krankheit bezeichnen. Noch nie ist selbst der süchtigste Musiker darauf verfallen, das Rauschgift etwa als integralen Bestandteil der Jazzmusik zu betrachten. Dazu gibt es viel zu viele vorzügliche Jazzmusiker, die in ihrem Leben Rauschgift nie angerührt haben…