Reise zum Mittelpunkt der Stadt

Essay
zuerst erschienen am 21. Oktober 2012 in Die Welt
Berlin, Alexanderplatz. Zehntausend Menschen pro Stunde, ein sinnloser Tod, und in der Bierbar Alkopole spielt die Jukebox Silly. Sieht so die berühmteste No-go-Area der Republik aus? Notizen zu einem Nichtort mit Geschichte

Beginnen wir diese Geschichte mit einer Kapitulation: Wir haben den Alexanderplatz nicht gefunden. Dabei haben wir alles versucht, sind ausgeschwärmt, haben Passanten befragt, Spuren verfolgt, Satellitenbilder und sogar die Karten des Katasteramts ausgewertet. Das Netz zog sich zu, der Ort war schon eingekreist, wir wussten, dass er sich irgendwo hier befinden musste.

Am Ende aber standen wir vor dem Nichts. Der Wind war kalt und kam von weither, über der Weltzeituhr drehte sich das Aluminiumgestänge des Planetensystems, der Schriftzug der Galeria Kaufhof leuchtete einsam, und die Plattenbauten an der Karl-Liebknecht-Straße ragten als düstere Antimaterie in einen Nachthimmel, an dem die Kugel des Fernsehturms hing wie ein viel zu nah an die Erde geratener Zwillingsplanet.

Selbst wenn man mitten auf dem Alexanderplatz steht, menschenleer wie die technische Zeichnung eines Stadtplaners, ist man nicht dort angekommen: Das ist das Wesen dieses Ortes, der fremd wirkt wie der Pluto, obwohl er doch genau in der Mitte der deutschen Hauptstadt liegt, im Zentrum des Zentrums des Zentrums, obwohl der schmale Umriss seines Wahrzeichens auf Tausenden von Kaffeetassen und T-Shirts abgebildet ist, obwohl es einen Klassiker gleichen Namens gibt, Alfred Döblins Roman von 1929. Ein deutscher Topos, über den wir weniger wissen als über den New Yorker Times Square in New York oder den Markusplatz in Venedig.

Seit ein paar Tagen ist der Alexanderplatz zum Gegenstand der Nachrichten geworden, weil dort binnen einer Woche ein Mann von Unbekannten niedergeschossen und ein zweiter zu Tode getreten wurde. In fast allen Berichten rückt der Hintergrund in den Vordergrund, der Tatort erscheint als Mittäter, von dem man nun herauszufinden sucht, wie er auf eine so schiefe Bahn geraten konnte.

Doch wer ermitteln will, was diesen Platz von anderen Plätzen unterscheidet, der wird zurückgestoßen wie von einem negativen Magnetfeld. Und das liegt nicht nur daran, dass man den Alexanderplatz, der eher eine vage Gegend als ein umgrenztes Areal bezeichnet, schon geographisch kaum definieren kann, ja dass man manchmal, wenn man über irgendeine Treppe aus dem blaugekachelten Labyrinth der U-Bahn emporsteigt, das Gefühl hat, es gäbe ihn in mehreren, um jeweils neunzig Grad zueinander gedrehten oder über die S-Bahnlinie gespiegelten Parallelversionen.

Der Alexanderplatz gilt als Musterbeispiel des Nichtorts, jener Kategorie, die der französische Ethnologe Marc Augé für die Transiträume der Moderne erfand, für Autobahnkreuze also, Parkhäuser oder Flughafenterminals. „Alexanderplatz - stündlich bis zu 10.000 Passanten“, steht auf einem meterlangen Banner an einem Bauzaun geschrieben, was unwahrscheinlich wirkt, wenn man allein daran entlanggeht. Dieser sonderbare Werbeslogan, der jedenfalls nicht zum Bleiben auffordert, sagt viel über den Platz: Er verkörpert als nackter Infrastrukturkomplex all das, was Großstadtromantiker hassen.

Der kitschnahe Urbanismus, den Walter Benjamin mit seinem „Passagenwerk“ über das Paris des neunzehnten Jahrhunderts geprägt hat, betrachtet die Stadt als zweite Natur, die sich dem Flaneur erschließt wie einst Feld, Wald und Flur dem Wandersmann. Am Alexanderplatz aber kann man sich selbst an einem mildsonnigen Herbstnachmittag nicht in der Menge verlieren, denn es gibt keinen Sog der Vorübergehenden, bloß Rentner, die mit ihren Rossmann-Tüten mühsam eine verdreckte Betonplatte nach der anderen überqueren, shoppende Frauen mit Auberginetönen im Haar und Reisegruppen in Windjacken, die vor den Kreidetafeln der Lokale die Preise für Eisbein und Bier oder die ewigen Cocktail-Happy-Hour-Angebote vergleichen. Selbst die Skater gähnen, während sie lustlos auf die flache Bodenstufe zurollen, an der ihnen dann sofort das Brett wegspringt.

Man kann sich am Alexanderplatz auch nicht niederlassen und das Menschentheater beobachten, wenn man sich nicht zu den Rastalockenträgern in Schneeleopardenjeans auf den Rand des Brunnens der Völkerfreundschaft setzen will oder auf einen der lächerlich tiefen Liegestühle vor der Alex-Oase, wo Touristen ihre halbleeren Pilsgläser umklammern. Und wenn man die Ladenzeile in den Baracken unter dem Park-Inn-Hochhaus abschreitet, dann gibt es kein einziges Schaufenster, das die von Benjamin beschworene Verführungskraft der Warenwelt erahnen ließe: Reno-Schuhe, Mister Minit, Fielmann, Burger King, daneben eröffnet bald Primark, „der Mega Mode Store für Damen Herren Kinder Home“, und im Schaufenster des ehemaligen Asia Headshops, der in bester Geschäftslage leer steht, liegen nur verstaubte Bauarbeiterhandschuhe und eine leere Marlboroschachtel.

Um das Passagenwerk oder den Großstadtroman des Jahres 2012 zu schreiben, müsste man wohl eine geschlagene Woche im Foodcourt der 2007 eröffneten Shoppingmall Alexa verbringen, die mit ihrer rosaroten Art-déco-Baumarktverkleidung das aufregende Berlin der Zwanzigerjahre zitieren will, die Stadt von Döblin und Benjamin. Doch viel gibt es hier, wo Teenager aus den Ostbezirken bei Orsay einkaufen oder hinter Absperrgittern für Autogramme von DSDS-Kandidaten anstehen, nicht zu deuten.

„Am Alexanderplatz murksen sie weiter“, heißt es irgendwo bei Alfred Döblin, und es läge nahe, dieses auf Dauer gestellte Misslingen zur wahren Identität des Platzes zu erklären, zu seiner Seele. Immerhin hatte das städtische Nervenleben hier in der Zwischenkriegszeit seinen wichtigsten Knotenpunkt, an dessen Großbaustellen und Warenumschlagplätzen jüdisches Bürgertum, Proletariat und Halbwelt aufeinandertrafen. Und in den Sechzigerjahren schuf die DDR hier die Filmkulisse einer kommunistischen Weltmetropole, die mit der 365 Meter hohen Nadel des Science-Fiction-Fernsehturms unsichtbare Signale ins All sendete und mit der Weltzeituhr Kontakt zu unerreichbaren Orten wie Kamtschatka, Hongkong oder Halifax unterhielt.

Es gibt Momente, in denen der Platz die in seinem Stein gespeicherte Geschichtsenergie wieder abstrahlt, besonders in der frühen Abenddämmerung, wenn die neusachliche Kalksteinfassade des 1929 gebauten Berolinahauses bläulich schimmert, die braunrotgelbe S-Bahn über die Backsteinbögen rattert und die Sharp-Aquos-Leuchtreklame auf dem 1969 gebauten Haus des Reisens träge zu blinken beginnt, samt ihren aus den Neunzigern stammenden Pixelfehlern. Dann ist der Alexanderplatz wirklich Belgrad, Moskau oder Tokyo.

Von sich wegzuverweisen, in ganz andere Zeiten und andere Räume - das ist vielleicht die einzige Qualität, die derAlexanderplatz noch besitzt. Die Liegestühle am Rand, die einen Pauschalurlaub in den Tropen simulieren, obwohl die schwache Sonne den Horizont kaum übersteigt; die holzvertäfelte Bierbar namens Alkopole im S-Bahn-Bogen, wo die CD-Jukebox melancholische DDR-Hits wie „Bataillon d’amour“ von Silly spielt und die Kellnerin altmodische Wörter wie „Diskothek“ und „junger Mann“ verwendet; das hinter der Alexanderstraße in einem weißen Plastikkasten hochgezogene Hofbräu Berlin, das ganze Busladungen schluckt, die dann mit hochgekrempelten Karohemden auf die Tische hauen und nach ein paar Hellen wieder von den Türstehern nach draußen geschleppt werden - alles sehr weit weg, alles ganz fremde Orte.

Ist der Alexanderplatz jetzt, wo es dort nachts nicht mehr sicher ist, eine No-go-Area geworden, unbewohnbar wie der Mond? Am Bürohaus Alexanderstraße 6, wo nach der Wende die Treuhand residierte, hing als Installation einige Jahre lang Döblins Romankapitel „Eine Handvoll Menschen um den Alex“, Buchstabe für Buchstabe, eine irrsinnige Mitschrift des Lebens am Alexanderplatz. Heute steht dort, in derselben Technik, der Spruch des Immobilienunternehmens, das die leerstehenden Etagen vermietet: „Büro müsste man sein. Bei dieser 1a Aussicht.“

In der Antike haben sie über Diogenes gelacht, der am hellen Tag mit der Laterne über den Marktplatz lief, um einen Menschen zu finden. Vielleicht war der Philosoph nicht verrückt genug. Er hätte nach dem Platz suchen sollen.