Risse im Reich der Mitte
[82] Das Fremdsprachen-Institut am Rande von Kanton ist ein niedlicher Ort. Studenten in kurzen Hosen und Plastiksandalen schlendern zwischen den Bäumen, spielen Fußball, waschen Wäsche. Wir suchen einen Musiker, aber unser Fotograf ist sich nicht mehr sicher, in welchem Gebäude er wohnt An einer Wand hangt ein Plakat: „Willst du Gitarre wie Bob Dylan spielen lernen, dann komm in Zimmer 411, Haus 6.“ Das muß er sein.
Und wirklich, obwohl wir uns nicht angekündigt haben und Sonntag ist, treffen wir Lei Mu und ein paar Freunde in ihrem Zimmer. Die meisten Studenten sind zu arm, um irgendetwas in der Stadt zu unternehmen. „Es ist hier wie in einem Erholungsheim“ meint Lei Mu und schüttelt seine Mähne. „Ich mag es.“
Lei Mu wohnt mit sechs anderen Englisch-Studenten zusammen. An der Wand hängt ein Kalender mit dekolletierten Frauen, sieben Zahnputzbecher stehen Im Holzregal, zwei Akustikgitarren liegen unterm Bett, an der Wand im Innern des Stockbetts stapeln sich Bücher: James Joyce, Marcel Proust. Wir gehen Bier in der Cafeteria trinken. Davor warten Schneiderinnen an ihrer Nähmaschine auf Kundschaft. 3000 Studenten auf dem Campus, das ist ein sicheres Geschäft. „Zur Zeit haben wir leider keinen Bassisten und keinen Schlagzeuger.“ Nichtsdestotrotz tritt Lei Mus Band „Wan chi“ (Endstadium) hin und wieder auf. „Weil wir im Augenblick nur zwei Gitarristen sind, können wir auch ungestört üben. Unplugged“ Er summt vor sich hin: „Wir sind Fliegen. Niemand mag uns. Wir sind frei wie die Fliegen. Wenn wir tot sind, wird uns niemand begraben.“
Nächstes Jahr ist Lei Mu mit seinem Studium fertig. Er will Lehrer werden. „Da habe ich genug Freizeit für meine Musik. Lehrer verdienen zwar schlecht, aber wer braucht schon Geld?“
Wie sieht’s denn mit Frauen aus?
„Oh nein, nur unsere fünf Finger. Manchmal trinken wir mit ihnen Bier und reden Unsinn. Aber eigentlich kann man mit Frauen nicht reden.“
Lei Mu ist 20 Jahre alt. Wir trinken noch ein Bier. Es ist ruhig hier, wie auf einem anderen Planeten. Ja, es stimmt, wer braucht schon Geld, wenn man Gitarre spielen, Bier trinken und in Plastiksandalen rumlaufen kann.
Es ist nichtmal die schlechteste Idee, schon nachmittags Bier zu trinken; man kann nochmal ins Bett gehen, bevor das Nachtleben ruft. Die explodierende Club-Szene in Kanton ist eine Enklave im orthodoxen China; regelmäßig kommen selbst Zaungäste aus dem 140 Kilometer entfernten Hongkong. Wir nehmen ein Taxi, am Pearlriver leuchten riesige Neonschriftzüge. Selbst der zivilisationsmüde Nörgler, der der Neon-Ästhetik nichts mehr abgewinnen kann, wird schlichtweg überwältigt: Der ganze Fluß brennt, lila, magenta, als würden gleich Seejungfrauen aus den schlammigen Fluten steigen. Die Atmosphäre ist geradezu südländisch: Die Restaurants haben Tische rausgestellt, jetzt im Winter wird wieder Hund gegessen. Oder Schlange, Ratte, Katze.
Junge Geschäftsleute ziehen sich nach Feierabend die Lederjacke an und brausen mit geschmuggelten Motorrädern durch die Gegend. Die Honda wird mit Harley-Insignien aufgemotzt, im Schulterbolster steckt kein Revolver, sondern das Handy. In Kanton gibt es mehr Handies als in München, Kanton ist die reichste und liberalste Stadt Chinas. [84] Ein verlockender Reichtum. Aus den ärmeren Provinzen strömen Millionen in die Großstädte. Ein Drittel aller Bauern, 900 Millionen leben auf dem Lind, sind arbeitslos. Die größte Völkerwanderung tler Geschichte läßt die chinesischen Städte im Rekordtempo anschwellen. Die Industrialisierung und Urbanisierung, die sich im bevölkerungsärmeren Europa über hundert Jahre vollzog, explodiert in China innerhalb von 15 Jahren. Die Landflucht bringt neue Kulturen in die Städte. Bergstämme aus Yunnan verkaufen ihre Handarbeiten, musiemische [sic] Ügüren braten Shish Kebab am Straßenrand. So entstehen in den chinesischen Großstädten eigene ethnische Viertel: Chinatowns in Qiina.
In jeder Diktatur werden Gesetze gebrochen, aber nirgendwo so offensichtlich wie in Kanton. Das China-Bild der westlichen Medien wird von Korrespondenten aus Peking bestimmt, wo noch der alte stalinistische Geist herrscht, wo alles verboten ist, was Spaß macht. In Kanton kümmert man sich nicht um das, was „die da oben“ sagen. Schlimmstenfalls muß die hiesige Verwaltung mal eine Selbstkritik für Peking zu Papier bringen. Dann geht es weiter wie bisher.
In anderen chinesischen Städten kämpfen die Musiker mit der Zensur, hier streiten sie sich mit den Musikproduzenten, die ihre Stücke nicht hart genug abmischen und aus Grunge Love-Songs machen möchten. Kanton hat auch die offenste Schwulen-Szene. Da Homosexualität in China verboten ist, sei auf eine Nennung von Namen und Adressen verzichtet. Jedes Wochenende aber strömen, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, Hunderte von Gleichgesinnten in eine bestimmte Discothek. Keine Ahnung, wie ein Chinese, der eines Tages verstört aufwacht und feststellt, daß er lieber Männer mag, überhaupt hierherfindet.
An der Decke hängt eine Discokugel, der DJ singt den Refrain mit, suchende Blicke mustern die Körper auf der Tanzfläche. Die internationale gay culture streckt vorsichtig ihre zarten Wurzeln aus: Einer trägt seinen Schlüsselbund am Gürtel, ein anderer hat zuviel Rasierwasser aufgelegt, ein dritter flattert kichernd durch den Raum. Aber die meisten haben sich keiner „Schule“ angeschlossen, sondern tragen ein blütenweißes Unterhemd statt Calvin Klein.
Bis Mitternacht werden die schnelleren Rhythmen gespielt, etwa Mainstream-Techno, das in Kanton beliebter ist als in Hongkong, wo man Soft-Pop bevorzugt. Nachdem der „YMCA„-Refrain der Village People verklungen ist, kommen wir zum gemütlichen Teil: Engtanz. Ein einziges heterosexuelles Paar und zwei junge Frauen tanzen Schieber, ansonsten ziehen nur Männer-Paare über die Tanzfläche. Und in den dunklen Sofa-Ecken wird heftig geschmust.
In einem anderen Club führen reizende Transvestiten ihre Phantasiekostüme vor. Lachen, tanzen, Küßchen werfen. Selbst in Familien-Restaurants treten Transvestiten oft als Showeinlage auf. Keiner hebt den moralischen Finger. Und niemand schert sich um die sozialistische Moral. In Kanton ist die totale apolitische Gleichgültigkeit angesagt. Unser Freund Lei Mu beklagt denn auch schon, daß die Menschen in Kanton nicht nachdenken: „Genau wie in Hongkong.“
Er hat uns die Adresse eines neuen Clubs gegeben. Die „360 Grad Bar“ liegt versteckt in einem [85] Wohngebiet der „New Five Rams”- City. Von der belebten Straße geht es rechts ab in eine unbeleuchtete Nebenstraße. Der Club sieht noch neu aus, es fehlen die Brandlöcher, die abgeschabten Wände und vor allem etwas mehr Besucher. Es ist ziemlich leer, obwohl morgen Feiertag ist. Von den Wänden sehen uns gemalte Rockstars an: Bruce Springsteen, Stones, Madonna. Hier treten einmal pro Woche Gruppen auf- von der Schüler-Band, die Motown-Songs nachspielt bis hin zu experimentellem Industrial Nolse. Im „360 Grad“ trifft man Designer, Journalisten, Künstler und vor allem Musiker. Die meisten gründen gerade Bands oder steigen irgendwo aus, es fehlt immer irgendwo der Schlagzeuger.
Peepa, 23, Sänger und Gitarrist bei Blind Trend, hat sein Kunststudium abgebrochen; von ihm stammt das Kurt Cobain-Gemälde an der Wand. Der chinesische Slacker wohnt in einer Wohngemeinschaft, schlägt sich als DJ durch, leiht sich Geld von Freunden und lebt nur für seine Musik. „Angefangen hat es bei mir mit Bon Jovi, dann kam Nirvana und jetzt will ich nur noch Musik ohne Grenzen machen. Früher haben wir auch als Backing-Band für Schlager-Stars gespielt. Aber nun nicht mehr. Keine Kompromisse.“ Sein Freund und Mitmusiker Luc nickt ernst.
Peepa schiebt die Demo-Cassette rein, nicht unsympathischer Breitwand-Gitarren-Rock begleitet seinen exaltierten Gesang. „Es geht um Totengräber.“ Dabei fuchtelt er mit einer imaginären Gitarre herum, als wolle er ein Grab ausschaufeln.
Auch der Manager der Bar, Zhang Bo, hat Malerei studiert. Da er mit einer Amerikanerin verheiratet war, hat er schon mal in New York ausgestellt. Er zeigt uns seine Bilder. Die älteren Aquarelle zeigen Traumlandschaften, die neueren verraten das Manhattan-Syndrom: einfarbige Wasserfarben-Menschen mit Brüsten oder Pistolen in groben expressionistischen Strichen.
Die meisten Künstler hier stammen aus anderen Provinzen. In Anhui gibt es keine Musikerszene, aber hier kann man als Boheme, als bitterarme Boheme zwar, irgendwie überleben: als Übersetzer auf der Handelsmesse oder als Musiker einer Backing-Band. Oder man malt Drachen in der Eingangshalle eines Restaurants.
Wir unterhalten uns mit Peepa, Luc und Zhang Bao über chinesische Rockmusik. „Tang Dynasty [86] haben sich etwas von ihrem Hcavy Metal entfernt, ihre neue CD soll psychedelischer sein.“ Tang Dynasty, die erfolgreichsten chinesischen Rocker, verkauften 900 000 Stück von ihrem ersten Album mit der legendären Hardrock-Version der „Internationalen“. Ihre Väter, alles hochrangige Generäle, müssen geschäumt haben. Als im Mai ihr Bassist Zhang Ju mit seinem Motorrad tödlich verunglückte, revoltierte die gesamte Pekinger Musikszene, bis der fahrerflüchtige LKW-Fahrer dingfest gemacht wurde.
Rockmusik in China wurde im Mai 1986 geboten: Im Pekinger Arbeiter-Stadion wurde ein Pop-Wettbewerb veranstaltet. Die Veranstalter rechneten mit Disco-Imitationen und Liebesschnulzen ähnlich dem „Canto Pop“ aus Hongkong. Statt dessen stürmte ein junger Mann namens Cui Jian die Bühne, mit zotteligem Haar und im Tarnanzug der Volksbefreiungsarmee, und drosch auf seine Gitarre ein. Die jüngeren Zuschauer sprangen von ihren Sitzen auf und tanzten in den Gängen. Ihre Eltern wurden blaß. Innerhalb weniger Tagen kursierten Cassetten-Bootlegs des Auftritts, der live im Fernsehen übertragen wurde, in ganz China. Seit dieser Sternstunde gilt Cui Jian, ein ehemaliger Trompeter der Pekinger Philharmoniker, als Vater des chinesischen Rock’n’Roll.
Rockmusik wird zwar geduldet, aber alles andere als gern gesehen. Hin und wieder mal dürfen ausländische Gruppen offiziell auftreten, zuletzt Roxette. Aber im Untergrund rumort es gewaltig. Henry Kwok vom einzigen Independant Label Hongkongs organisierte im Frühjahr dieses Jahres eine China-Tournee für John Zorn. Der gefürchtete New Yorker Saxophon-Quäler spielte in Nuttenbars, Sternwarten und anderen Extrem-Lokalitäten. „John Zorn ist Jazz. Das ist nicht sonderlich schwierig. Aber Rock ist dekadent, das geht noch nicht“, erklärt Henry.
Und so was wie Einstürzende Neubauten?
„Ne, das ist auch Rock. Die Bürokraten sehen nur, daß da Gitarren und Schlagzeug dabei sind, also muß es Rock sein.“
Auf Henry Kwoks Label „Sound Factory“ ist die CD „Journey Man“ von Wang Lai erschienen.
Der 23jährige Multi-Instrumentalist lebt in Kanton und tritt manchmal in der „360 Grad Bar“ auf. Aus seinem Computer rauschen zirpende Wellen und federnde Bombast-Drums, dazu singt Wang Lai mit klagender Stimme den Horizont an. „In Kanton ist die Musikszene freier. In Peking sind sie, ob pro oder kontra, zu westlich orientiert“, meint der Musiker aus Sichuan. Sein voriges Label hatte ihn um Tantiemen betrogen, obwohl von der Cassette zehntausende Exemplare verkauft wurden.
Langsam wandelt sich das Cassetten-Land China zum CD-Land. Nach China wird nämlich spezieller Sondermüll aus Europa exportiert: CDs, die partout niemand mehr will. Der Ausschuß der Plattenfirmen wird mit einer Kreissäge angefräßt, sodaß der erste Track zerstört wird; ein Weiterverkauf soll damit unmöglich gemacht werden. Von wegen! Für zwei oder drei Mark bekommt man angesägte CDs von Barbra Streisand, Michael Bolton (kein Wunder, daß die im Sondermüll landen!), aber wer etwas länger sucht, findet auch Stone Roses, Charles Mingus, die Rolling Stones oder Willie Nelsons Weihnachtslieder.
Es macht Spaß, durch Kanton zu fahren und irgendetwas zu suchen. Die touristischen Sehenswürdigkeiten, Qing Ping-Markt und der Tempel der sechs Banya-Bäume, sind schnell abgehakt. Danach ist Kanton für den oberflächlichen Besucher nur eine laute Stadt, in der man die Abgase mit Eimern wegtragen könnte. Aber wenn man, nur mit einer vagen Skizze in der Hand, die „Door Gallery“ sucht und dann auch findet, freut man sich – auch wenn die größte private Kunstgalerie in Kanton recht zweifelhafte Bilder präsentiert: zarte Aktbilder und wulstige Körper-Portraits in schreienden Farben. Da hat mal wieder jemand den Expressionismus falsch verstanden.
Es ist nicht einfach, sich in Kanton zu verabreden. Wer ein Telefon hat, ist nie zuhause. Und wer es sich leisten kann, hat einen Pager (Piepser). Doch dann muß man sich womöglich in einem Hotel mit einem klapprigen Telefon herumschlagen und die Pager-Gesellschaft, die die Nachricht weiterleitet, zurückrufen. Die meisten Fräuleins sprechen obendrein nur chinesisch, und es gibt unterschiedliche Pager-Systeme, die alle verflucht anders operieren.
Aber es besteht eine gute Chance, die meisten am Abend in der „Reggae Bar“ zu treffen. Ein Tanzschuppen, wie er sein soll: Frauen zahlen keinen Eintritt, alle tanzen und man lernt dauernd jemanden kennen. Etwa den Tiermedizinstudenten Alu aus Mali, der fünf Sprachen spricht; oder Micha aus Bukarest, die alte chinesische Dialekte studiert und auf ihren Freund, den DJ, wartet. Und einen Haufen gutgelaunter Chinesen aus der Mittelklasse. Unten geht volle Pulle die Tanzschaffe ab – Bob Marley, 2 Unlimited –, und auf der Dachterrasse erzählen sich Rucksacktouristen ihre Abenteuer: Wie ich mal in Marokko total bekifft Zug gefahren bin und bös abgelinkt wurde…
Rachel Hao, die Besitzerin der „Reggae Bar“ ist eine tüchtige Geschäftsfrau Anfang 30 (Sternzeichen Drache), die offen zugibt, als Kellnerin nur hübsche Mädchen aus dem Norden zu beschäftigen, weil die billiger sind. Zehn Prozent des Gewinns geht als Bestechung an die Polizei; so vermeidet sie Probleme. Sie will eine weitere Bar in Peking aufmachen; ihr Geschäftspartner ist diesmal gleich die Polizei. Armee und Polizei beherrschen auch das Nachtleben in Shanghai. Das Kapital stammt dabei oft genug von den Triaden in Hongkong.
Am Samstagabend, richtiger gesagt: Sonntagmorgen schließt die „Reggar Bar“ um 6 Uhr. Der Sicherheitsdienst fegt den Müll auf die Staße, draußen im Morgengrauen radeln die Arbeiter zur Fabrik. Alte Chinesen drängeln sich zum Yam Cha, dem Frühstückstee, am Straßenrand den frische Schmalznudeln im Wok gesotten.
Die Party ist vorbei. Und alle Menschen haben Mundgeruch.