Schluss mit dem Theater – Die langweiligsten Stunden meines Lebens

Report
zuerst erschienen im April 1996 in Tempo, S. 96-99
In diesem Report geht es um Pinkeln, Wichsen, Arschficken, ein bißchen Vergewaltigungen, Koitus mit toten Pfarrern, Jonglieren mit benutzten Damenbinden etc. Es geht also ums deutsche Theater – acht aktuelle Inszenierungen im Test.

Die langweiligsten Stunden meines Lebens verbrachte ich im Theater - während einer Aufführung von Goethes „Iphigenie auf Tauris“. Wenn der Bühnenboden unter den gemessenen Schritten der Schauspieler knarzt, wenn die Schauspieler jeden Satz wie auf dem Tablett servieren, jedes Wort wie „Walhalla“ aussprechen und Pausen und Gesten zum pädagogisch wertvollen Kunsthandwerk veredeln, dann überkommt mich ein mentaler Tiefschlaf wie die Insekten im Winter.

Aber vielleicht bin ich ja der Blöde und nicht das Theater? Also habe ich mir in einer Woche acht Theaterstücke angesehen, mit offenem Auge und frischem Herzen. Das erste Stück steht unter dem Motto „Born bad“: Frank Castorf inszeniert „Die Nibelungen“ von Friedrich Hebbel, dazu laufen die Filme „Pulp Fiction“ und „Natural Born Killers“, die Aufführung soll sieben Stunden dauern. In der Berliner Volksbühne tummelt sich ein Haufen junger Menschen, die wohl sonst nicht ins Theater gehen. Sie haben bunte Haare, tragen Lederjacken und Springerstiefel, und die Theaterleitung ist sicher sehr glücklich, daß sich die Besucher an die Chintzwände lümmeln und Bier aus der Flasche trinken. Der Geruch der Straße! Die Volksbühne ist bekannt für ihr Publikum, das seinen Spaß hat und die Aufführung mit vielen lauten Zwischenrufen würzt.

Der Vorhang hebt sich, die Schauspieler kommen, und nach fünf Minuten wird zum ersten Mal auf der Bühne gewichst, es wird dann noch einmal oder zweimal gewichst und ein wenig vergewaltigt. Eine der spannendsten Szenen des „Nibelungen“-Stoffes zeigt der Regisseur jedoch nicht: Siegfried überwältigt Brunhild, um König Günthers Hochzeitsnacht zu retten.

Mit Freude registriere ich, wie Castorf meine Vorurteile gegen sein Theater bestätigt - ich sehe drei Eimer Blut, einen Stahlhelm (wenn auch keinen Gestapo-Mantel) und acht wimmernde Männer in nassen Unterhosen. Nackte Frauen kommen nicht vor, bloß ein paar Amazonen in bunter Unterwäsche mit Militärmantel drüber. Die Amazonen fuchteln ein wenig mit Kreissägen herum, und es gibt auch ein bißchen Medien- und Konsumkritik, und Ausländerfeindlichkeit ist als nicht so gut dargestellt.

Der Romantiker in mir muß leiden, denn ich halte „Die Nibelungen“ für eine der ganz großen Tragödien, weitaus besser als „Faust“. Und was macht dieser Castorf daraus? Siegfried (Christian Schwaan) wird zur Tunte, die Plattdeutsch kiekst und dauernd stolpert, der Publikumsliebling Hagen Tronje (Herbert Fritsch) ist wie Didi Hallervorden, das Stück degeneriert zu „Werner – beinhart“. Der Königssohn Dankwart heißt jetzt Tankwart – boah ey, wo bleibt der Blondinenwitz? O ihr Menschen, die ihr die Kultur liebt! Wenn ihr den Stalinisten Frank Castorf in einer schummrigen Gasse trefft, schlagt ihn doch bitte zusammen!

Als nächstes „Emmy Göring an der Seite ihres Mannes“, aufgeführt an der Kleinen Bühne des Erfurter Theaters; im Publikum sitzen ein paar ältere Herrschaften mit Sakko und Krawatte, die Damen in schicker Bluse und die Handtasche auf den Knien, und da sind auch ein paar Schüler, begleitet von ihrer Lehrerin. Die beiden Schauspieler blicken erstmal eitel in den Zuschauerraum, so daß ich mich etwas für sie geniere, dann müssen sie den Textmoloch bewältigen. Die Schauspieler erzählen aus dem Leben von Görings Frau, so wie sie es in der Illustrierten „Quick“ beschrieben hat. Sie zitieren Hermann Göring, und ein bißchen hat sich wohl auch der Autor des Stücks, Oliver Reese, ausgedacht.

Doch das Stück ist kein Stück, sondern ein Text. Also müssen die Akteure auf der Bühne hin- und herrennen, Glühbirnen ein- und ausschrauben, Koffer rumtragen und sich falsch herum auf Stühle setzen, mit der Lehne zwischen den Schenkeln. Die bei den Ebenen, Sprache und Aktion, haben nichts miteinander zu tun, ein Blinder und ein Tauber würden zwei unterschiedliche Stücke erleben, wobei der Blinde mehr da von hätte, obwohl die Schauspielerin (Sonja Pfeil) schöne Beine hat, die sie gerne zeigt und die in schönen 40er-Jahre-Schuhen enden. Ach ja, zwei lange Mäntel kommen auch vor, und ein wenig wird rumgefummelt.

Weiterhin unbeeindruckt besuche ich am nächsten Abend das Hamburger Schauspielhaus, wo „Der Drang“ von Franz Xaver Kroetz läuft. Gleich in der ersten Minute wird gerammelt, Darsteller kotzen, Männer vergleichen ihre echten Schwänze, aber trotzdem hat es mir einigermaßen gefallen.

Endlich mal gab es Dialoge, gute Schauspieler und so was wie Handlung: Ein aus der Haft entlassener Exhibitionist (Edmund Telgenkämper) arbeitet bei seiner Schwester (Gundi Ellert) und seinem Schwager (Peter Brombacher} in deren Friedhofsgärtnerei; der Schwager ist ein Ferkel, er will seiner Frau in den Arsch ficken, sie will das nicht, doch die Floristin (Marion Breckwoldt) gewährt es dem Schwager, obwohl sie lieber den Exhibitionisten vernaschen würde, aber der muß triebhemmende Mittel essen – eine nette Klamotte, bei der die Zuschauer mal unter ihrem Niveau ablachen können.

Es folgt ein Double Feature mit Stücken von Werner Schwab: „Mariedl/Antiklima(x)“ und „Die Präsidentinnen“ in der Hamburger Kampnagelfabrik. Das erste Stück fängt ziemlich ekelhaft an, und dabei bleibt es – ein paar Figuren stopfen blutige Damenbinden in den Mund eines toten Pfarrers und vergenußwurzeln ihn rektal. Und a bisserl a Blasphemie gibt’s auch!

Die Sprache läßt es krachen: gynäkologische Begriffe, garniert mit Krätze, Schorf und Ausfluß. Die Darsteller säbeln an Plastikschwänzen herum, wichsen und reihern und hantieren mit einer Stichsäge (Theatertrend ‘96: Black & Decker). Wie ein Scheißhaufen wird der Sprachbombast ab geladen, er liegt da und stinkt. Keine Handlung, keine Entwicklung, keine Überraschung. Die Schauspieler mühen sich ab mit dem bayrisch-österreichischen Dialekt. Die schönen Infinitivreihen „ich weiß nicht ob ich können sollen muß oder haben tun müssen“ wirken in Hamburg, naja, Brecht würde sagen: verfremdet. Die in Schwarz gekleideten Zuschauer können hin und wieder mal „Hoho!“ machen und haben dabei das Gefühl, bei etwas ganz Hartem dabei zu sein, wenn sie in die echte Möse einer 50jährigen Schauspielerin blicken. In der Pause gibt es Gulaschsuppe.

Das zweite Stück ist lustiger – am Küchentisch belügen sich drei primitive Weiber. Das Proletariat ist immer gut zum Ablachen. Der Autor Werner Schwab hat sich an Silvester 1993 totgesoffen und ist an seiner eigenen Zunge erstickt, das war die Strafe.

Kommt die Rettung aus München? Dort in den Kammerspielen läuft „Letzter Gast“ von Herbert Achternbusch, den ich schätze. Das Gute vornweg: Es wird nicht gehurt und gefurzt. Als ich die Karte bestellte für „Den letzten Gast“, belehrte mich die Kartenfrau, das Stück hieße mit Absicht „Letzter Gast“, das sei ganz wichtig. Das Spiel dauert zwei Stunden, und die ersten anderthalb Stunden passe ich genau auf, warum das Stück nicht „Der letzte Gast“ heißt, doch ich kriege es nicht mit.

Die letzte halbe Stunde passe ich nicht mehr so auf. Wie auch die anderen Zuschauer (Perlenkette, Sakko) sehe ich nun häufiger auf die Uhr, die Schultern sacken runter, und die Theatermüdigkeit breitet sich aus, der Beifall ist schlapp. Dabei ist das Theater, wie es sein soll: schöne Frauen (Annika Pages und Daphne Wagner) und Männer mit Charakter (Thomas Holtzmann und Alexander Lang), die sehr gekonnt ihre Falten im Gesicht anordnen wie ein Schiefergebirge bei Erdbeben; Polizisten, Nikoläuse und ägyptische Götter sausen über die Bühne. Aber zu selten schwappt der Achternbusch-Sound in den Vordergrund, zu oft wird „Das Gastmahl“ von Plato in die bayrisch-griechische Crossover-Suppe hin eingebröselt. Ich will hier ja keine Textkritik Platos betreiben.

Das Prinzip der „langen Weile“, wie es im Programmheft steht, hat sich auch der Regisseur Leander Haußmann zunutze gemacht. Er läßt im Bochumer Schauspiel haus das Publikum (Rollkragenpulloverträger) teilnehmen am „quälenden und alles verbindenden Problem der Figuren, der sinnlos verstreichenden Zeit“. Neun Stunden dauert das sehr selten gespielte Frühwerk des 18jährigen Anton Tschechow „Die Vaterlosen“. Ich sehe mir nur die letzten dreieinhalb Stunden an und fühle mich an 70er-Jahre-Performances erinnert, wo das Publikum den Künstlern beim Wachsen der Haare zusehen durfte.

Die Inszenierung des „Wunderkindes“ Haußmann (36, gutaussehend) ist kein Wunder: Die Stoffbahnen des Bühnenbildes wackeln, wenn jemand die Sperrholztür schließt; die Schauspieler tragen Koffer hin und her, reden in Theatersprache und plazieren Worte und Pausen wie mit der Pinzette; nach dem erlösenden Schluß steht eine der Heldinnen starr da, so wie die Schauspieler im 19. Jahrhundert. Es wird wie bei jeder Inszenierung etwas am Boden herumgekrochen, wie es Menschen nur im Theater tun, jedoch niemals im echten Leben, im Film oder in der Literatur. Am Ende verbeugen sich die Schauspieler, auch die Künstler mit der kleinsten Nebenrolle lächeln überglücklich, als sie sich in den Applaus hinein verbeugen dürfen.

Mit Bangen gehe ich in den „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht. Das Stück des Jahres, gespielt vom Berliner Ensemble! Die letzte Inszenierung des verstorbenen Heiner Müller! Ich fürchte, da kommt was Gutes, und mein Theaterbericht wird jetzt doch ausgewogen enden mit einer versöhnlichen Note.

Tatsächlich beginnt es gut: Donnernde Musik, wie ein Bluthund hechelt Arturo Ui (Martin Wuttke) über die Bühne. Es folgen dann noch zwei Augenblicke, in denen ich mich aufrichtig freue – eine Frau singt ein Verdi-Duett playback, beim Tenor spannt sie die Muskeln an, beim Sopran lockern sich ihre Arme, und sie wird wieder zur Frau. Auch bei dieser Parabel über den Aufstieg Hitlers (= Arturo Ui) ficken die Darsteller, ganz spaßig sogar, denn danach vermißt Arturo seinen Schwanz, er ist hinter die Beine geklemmt, und dann sucht Arturo seinen Schwanz unter dem Rock der Partnerin. Soweit zu Hitlers Vorliebe, während seiner Ansprachen die Hände vorm Geschlechtsteil zu falten. Martin Wuttkes Spiel litt an Overacting, manchmal erinnerte er mich in seiner Hitler-Parodie an Louis de Funes. Ja, ich habe mich etwas amüsiert bei dem Stück, auch wenn ich es nicht für wahnsinnig originell halte, Kapitalisten Zigarre rauchen zu lassen. Und dieses ständige Moralisieren! Als würde man einen Teebeutel aufkochen und auspressen und aufkochen und auspressen und noch einmal aufkochen!

Liebes Theater, auch ich würde dich gerne öfter besuchen, ich will nicht als „Kulturbanause“ dastehen, aber warum immer Sauereien und als Gegenbewegung gepflegte Langeweile? Warum, Theater, magst du Sex nicht, kannst aber nicht ohne ihn auskommen? Kannst du mir mal erklären, warum auf der Bühne immer zu gepudert werden muß? Ich hätte ja nichts gegen ein nettes Schnacksein, wenn zwei Menschen sich lieben, doch warum dieses schnaufende Metzgern? So wie die Linken sich nicht getraut haben, die DDR scheiße zu finden, trauen sich heute die Theaterkritiker nicht, dieses ewige Bürgerschocken im Theater dumm zu finden, denn wenn sie es dumm fänden, würden sie in den Geruch der Spießigkeit kommen. Diese Theaterstücke sind nichts, verglichen mit einem Popsong, der Träume und Revolten auslöst. Diese Theaterstücke sind nichts, verglichen mit dem Rausch des Kinos und mit dem Innenweltserlebnis, das ich durch ein gutes Buch habe. Im Theater habe ich nur Aquarien gesehen, aus denen heraus Moralisten ihre Flugblätter über den Beckenrand zu verteilen versuchen, aber niemand will sie lesen. Sinnlich wurde das Theater nur, wenn Musik lief, doch warum wurde das Erzählerische so vernachlässigt? Warum hat mich keine Figur überrascht? Warum war selbst der Arturo Ui so fatalistisch? Es heißt ja schließlich „der aufhaltsame Aufstieg“!

Wie sie sich winden, die Freunde des Theaters, wenn ich ihnen von meinen Erlebnissen berichte! Die Theaterfreunde sagen: „Du hättest ins Thalia Theater gehen oder dir ein anderes Stück von Schwab ansehen sollen, und da du Christoph Marthalers Stücke nicht kennst, kannst du gar nicht mitreden…“ Mit solchen Sprüchen hat man schon Tausende von Goldgräbern in den Tod gelockt, sie waren ständig auf der Suche nach Eldorado, das gleich um die Ecke liegen soll. Auch ich werde es noch einmal suchen, irgendwann, aber bis dahin, Theater, fick dich selbst ein bißchen.