Selig sind die Cowboys in Rüschenhemden

von 
Essay
zuerst erschienen am 19. August 1997 in Süddeutsche Zeitung
Man hört nur, was man sieht – zur Ausstellung „Popvideo” im Kölnischen Kunstverein

So war das früher: Ein Junge geht in einen Plattenladen und kauft sich eine Single von Elvis Presley, Roxy Music oder von den Beach Boys. Er kommt nach Hause, schließt sich in sein Zimmer ein und legt die Platte auf, dann tanzt er ein bißchen herum und ruft sein Mädchen an. „He, Kleine”, sagt er, „du mußt dieses Lied hören, denn dieses Lied ist wie wir, es hat Klasse, Stil und Leidenschaft.” „Sehr gut”, sagt das Mädchen, „ich komme sofort.”

Und so ist das heute: Ein Junge und sein Mädchen sitzen vor dem Fernseher auf dem Sofa, sie sehen Viva oder MTV. Der Moderator plappert, dann kündigt er ein Lied an von den Spice Girls, Madonna oder den Beastie Boys. „Sehr gutes Video”, sagt der Junge, „die Farben knallen, der Sänger hat einen guten Haarschnitt und ein paar Pistolen sind auch dabei.” „Stimmt”, sagt das Mädchen, „aber die Frau in dem Clip ist häßlich, und wer heute noch bunte Röcke trägt, gehört an die Wand gestellt.”

So ein Gespräch war nicht nötig vor zwanzig Jahren, denn es gab damals kaum Musikvideos. Wenn es um Musik ging, redeten die Menschen vom Aussehen des Sängers, von seiner Stimme und von dem Song, den er spielte. Der Song war alles – innerhalb von drei Minuten konnte er Leben retten und dafür sorgen, daß Jungs sich in Mädchen verliebten und Mädchen sich in Jungs; die Anonymitätsorgte dafür, daß jeder Mensch sich zu Hause wie ein Star fühlen konnte, weil er sich nicht dauernd das Gesicht eines Sängers ansehen mußte.

Dann kamen die Marketing-Strategen: Sieerklärten den Popstars, daß sich der Mensch besser an das erinnert, was er sieht, als an das, was er hört. Die Popstars verstanden: Das Bild ist alles. Und so wurden die Popstars zu Filmstars. Darum gibt es heute Musikvideos, in denen die Bands mit ihren Instrumenten auf Vulkanen stehen, obwohl es dort keinen Strom gibt, und darum müssen hübsche Sängerinnen in manchen Clips vor der Mafia flüchten, obwohl sie gar keine italienischen Restaurants besitzen. Man weiß: Eine Popband ohne Video ist gar keine Popband, weil sie kein Gesicht besitzt; eine Popband mit Video aber besitzt ungefähr tausend Gesichter.

Pop mir die Welt!

Soviele Gesichter sind eine interessante Sache, auch für die Kunst, darum hat Udo Kittelmann, der Leiter des Kölnischen Kunstvereins, eine Ausstellung eingerichtet, sie heißt „Popvideo”. 500 Videos aus den letzten dreißig Jahren hat Kittelmann aus dem Archiv des Musiksenders Viva herausgesucht – auf achtzehn Monitoren laufen sie hintereinander. Der Raum ist sparsam eingerichtet und sieht aus wie der Wohnkatalog eines Siebziger-Jahre-Designers: Der Besucher sitzt auf großen Knautschsesseln (der Künstlerin Angela Bullocks), während er sich die Filme ansieht. Die Musik ist nur über Kopfhörer zu hören, denn der Verein will, daß die Menschen sich wie bei einer klassischen Ausstellung auf die Bilder konzentrieren. Kittelmanns These: Das Musikvideo von heute ist genauso Kunst wie die Malerei oder die Bildhauerei, denn es reflektiert die Bilderwelt der Gegenwart – so schnell, wie kaum eine andere Kunstform das vermag. Und: Das Musikvideo kann verarbeiten, was es will – als schöpfe es aus einem gigantischen Computerchip, in dem jedes Bild und jede Information dieser Welt gespeichert sind. So haben die Musikvideos in vier Jahrzehnten etwas hinter sich gebracht, wofür die Kunst etwas länger brauchte: den Weg vom Realismus über Impressionismus und Expressionismus in die Abstraktion und das freie Spiel mit Zitaten.

Der älteste Clip der Ausstellung zeigt den Pop im Jahr 1958: Chuck Berry und seine Gitarre spielen das Lied „Oh, Baby Doll” – Berry trägt einen weißen Anzug zu weißen Schnallenschuhen, er bewegt sich, wie ein Mann das damals tun mußte. Hinter ihm ist nur der Schatten des Scheinwerfers zu sehen, der auf ihn gerichtet ist. Die Veränderung mit den Jahren: Der Raum, wo vorher nur der Schatten war, wird ausgefüllt. Mit einem Konzertpublikum bei den Beatles oder Bob Dylan, mit bunten Studiowänden bei den Monkees und mit Spielfilmsequenzen in den Videos der achtziger Jahre von Michael Jackson, Duran Duran oder Peter Gabriel.

Die bildende Kunst von heute kann nicht mithalten, denn jedes Thema und jede Lebenswelt kommt vor in den Musikvideos: Armut und Reichtum, schwarz und weiß, Mann und Frau, Geschichte und Gegenwart, Traum und Realität. Drei Tage mit den Clips bei Viva oder MTV erklären die Welt besser als Tageszeitungen oder Nachrichtensendung, weil jede Strömung der Popkultur schon in ihnen enthalten ist – denn jedes gute Musikvideo beinhaltet wenigstens einen wesentlichen Aspekt der Zeit, in der es entsteht.

Die Clips eignen sich jede neue Technik sofort an, weil das Risiko, Neues zu probieren, nie so groß ist wie in der Werbung oder bei Spielfilmen. So ist die Ästhetik des neuen Videospiels „Lara Croft” schon drin in dem Clip „ABC Pour Casser” von Peter Kitsch; die Computertechnik des zwei Jahre alten Videos zu Michael Jacksons „Scream” war im vergangenen Jahr in jedem Werbefilm zu sehen, und „Greedy Fly”, ein Clip der Grungerocker Bush, übertrifft sogar die Filme Seven und Das Schweigen der Lämmer an Dramatik und Düsternis. Die Musikvideos bestimmen, wonach der Rest der Welt sich zu richten hat.

Ein Popstar muß sich um sein Image keine Sorgen mehr machen, seit es das Video gibt – George Michael, selber ja eher häßlich, läßt lieber die Models der Welt in seinen Clips auftreten. Und sogar der kanadische Rocksänger Bryan Adams, früher ein Pockengesicht in Jeans und Lederjacke, hat sich zum Dandy in Versace-Anzügen gewandelt – in dem Video zu seinem Lied „The Only Thing That Looks Good On Me Is You”. Früher dachten Manager und Künstler lange nach über jede Veränderung, heute reicht ein Clip für die Neuerschaffung einer Persönlichkeit. Hat das neue Bild des Stars Erfolg, ist es gut; wenn nicht, wird ein anderer Stil probiert. Das ist auch zu sehen bei der deutschen Band Selig, die im Video zu „Popstar” in Anzügen herumläuft – früher trugen die Musiker nämlich Cowboystiefel zu lila Rüschenhemden und bevorzugten Schlampiges.

Die Ausstellung macht klar: Die Kunst braucht den Pop, der Pop aber braucht die Kunst nicht. Die Musikvideos sind Pop in Farbe, Anmut und Geschwindigkeit, und die Clips von Beck oder dem amerikanischen Regisseur Spike Jones funktionieren besser als die Kunst von Laurie Anderson, Damien Hearst oder Robert Longo. Die Macher der Clips begannen als Amateure, nicht als Künstler, darum mußten sie sich an keine Konventionen halten. Politik, Religion, Moral und Geschichte – all die Dinge eigentlich, die Menschen über vierzig wichtig finden – sind den Videos eigentlich egal; sie proklamieren die totale Anarchie wie zur Zeit kein anderes Medium. Der Clip fügt alles zusammen, er ist Spielfilm, Sexfilm, Horrorfilm und Kunstfilm zugleich, er besteht nur aus Zitaten und radiert die Geschichte aus, weil er nicht nur die Bilder der Gegenwart benutzt, sondern auch Vergangenheit und Zukunft durcheinanderwirft. Das Video erklärt keinen Zusammenhang mehr, es baut sich seinen eigenen, und schafft sich eine Welt, die aus Millionen von Einflüssen besteht, die eigentlich nur noch für die totale Schizophrenie des Menschen sorgen kann.

Darum wird es irgendwann so sein: Ein Junge und sein Mädchen sitzen vor dem Fernseher, sie sehen MTV oder Viva, der Moderator plappert vor sich hin und kündigt „Heart-Shaped Box” an, ein Video der Band Nirvana, in dem ein alter Mann als Jesus am Kreuz hängt. „Hey”, wird der Junge zu seinem Mädchen sagen, „ziemlich cool, wie die Krähen da vor sich hinsingen.” „Stimmt”, wird das Mädchen antworten, „und ich wußte gar nicht, daß Jesus eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf hatte, als sie ihn ans Kreuz nagelten. ”