So alt wie die Zeitung von gestern

Essay
zuerst erschienen am 5. November 2012 in Welt am Sonntag
Die Tage der Zeitung, so heißt es, sind gezählt. Doch vielleicht muss sie nur ihr Verhältnis zur Zeit neu erfinden. Die Geschichte eines aufregenden Mediums

Falls irgendwann wirklich der jüngste Tag kommt, der Tag also, an dem die letzte Zeitung ihre letzte Ausgabe druckt, dann wird doch immer noch ein Journalist übrig sein, um darüber zu berichten. Er wird sich einen angespitzten Bleistift hinters Ohr klemmen, die Hemdsärmel hochkrempeln, die ausrangierte Schreibmaschine aus dem Redaktionskeller holen und den Whiskey aus dem Schrank, die Spinnweben von den Typen wischen, ein frisches Blatt Papier einspannen und, Buchstabe für Buchstabe, die Überschrift für seinen letzten Aufmacher in die Tastatur hacken: Das Ende der Zeitung.

„So viel steht nämlich fest, trotz aller Horrormeldungen vom Schicksal der „Frankfurter Rundschau“ und der „Financial Times Deutschland“: Die Zeitungen werden ihren eigenen Untergang, wenn er denn eintreten sollte, nicht verpassen. An kaum einem Ort ist dieser Tage aufgeregter vom „Zeitungssterben” die Rede als in den Zeitungen, und wenn es noch Zeitungsjungen gäbe, würden sie mit Extrablättern ausschwärmen und das seltsame Wort durch den Verkehrslärm schreien. Was immerhin beweist, dass die Zeitungen in ihrem Wesenskern noch lebendig sind: dem Instinkt dafür, was sich aus dem unübersichtlichen und unsicheren Meer der Zeit herausgreifen und zur Nachricht oder, besser noch, zur Story verdichten lässt.

Auß Spania vernimbt man, auß Constantinopel wird vermeld, jungste Brieff auß dem Haag melden, man saget starck, man hat gewisse Nachrichtung, man spürt, es wird bestetiget, es gehet das Geschrey - mit solchen Formulierungen, die nur für den oberflächlichen Blick altertümlich anmuten, hat die erste deutsche Zeitung im Gründungsjahr 1609 ihre Geschichten anmoderiert. Das in Wolfenbüttel gedruckte Blatt hieß „Avisa Relation oder Zeitung“, und die Einleitungsformeln, die sich mantrahaft wiederholen, sagen mehr über die Natur dieses aufregenden neuen Mediums aus als die Meldungen selbst, die von den Gefahren der Seefahrt ebenso handeln wie von den Machenschaften des leibhaftigen Teufels, vom Leben und Sterben an europäischen Fürstenhöfen wie von den Rohstoffpreisen in überseeischen Kolonien.

Von dieser Aneinanderreihung hysterischer Mitteilungen mit schwankender Verlässlichkeit war es noch ein weiter Weg zu den rasenden Reportern, die mit Dreitagebart und Anglerweste selbst zu den Schauplätzen ihrer Geschichten aufbrechen, um sich vor Ort ein Bild zu machen und unbequeme Fragen zu stellen, hartgesottenen Typen, die sofort die Fakten checken, wenn ihnen die eigene Mutter am Telefon sagt, sie habe sie lieb.

Doch auch die Zeitung des zwanzigsten Jahrhunderts, die in zahllosen Hollywoodfilmen verherrlicht wurde und deren Macht im Bild der rotierenden Druckerpressen ihr Symbol fand, lieferte das, was schon die Depeschen der frühen Neuzeit boten: Übersichten all dessen, was draußen in der Welt geschah, sofern es nur interessant, neu und belastbar genug war, um in den Druck zu gehen: „All the News That’s Fit to Print“, wie es im Titelkopf der „New York Times“ heißt, eine stolze Tautologie, denn aus undruckbaren Nachrichten lässt sich ja per Definition keine Zeitung machen.

Wenn es nicht in der Zeitung steht, dann ist es nicht passiert: Bis in die jüngste Vergangenheit hinein galt diese Ontologie der Gutenbergzeit, in der die Welt in erster Linie das war, was sich mit beweglichen Lettern im Setzkasten umbrechen ließ. Auch wenn das erste gedruckte Buch eine Bibel war, als Wirklichkeitsmaschine kam die Druckerpresse erst in der Zeitungsherstellung ganz zu sich selbst. Die Namen der Zeitungen, die auch heute noch „Times“ oder „Zeit“, „Le Monde“ oder „Welt“, „Observer“ oder „Rundschau“ heißen, erzählen von diesem Anspruch: Sie stellen eine Gleichzeitigkeit im Raum verstreuter Ereignisse her, wie sie kein einzelner Beobachter jemals in den Blick bekommen könnte. Vor der Aufklärung war diese Loge für Gott reserviert, und wenn Hegel schreibt, die Zeitungslektüre sei „eine Art von realistischem Morgensegen“, dann legt er die metaphysische Bedeutung jener Blätter frei, in die schon am Folgetag die Wurst eingeschlagen wurde.

Ein Morgensegen aber muss Tag für Tag erneuert werden, und der alte Journalistenspruch, dass nichts älter ist als die Zeitung von gestern, beschreibt zugleich das Geschäftsmodell und das Trauma der Institution. Sie hat die Gegenwart erfolgreich zum Gebrauchsartikel gemacht, zum Suchtstoff, der seine Nachfrage durch eingebautes Verfallsdatum fortwährend neu erzeugt. Was in den Kaffeehäusern des neunzehnten Jahrhunderts und den Pendlerzügen des zwanzigsten Jahrhunderts zerfleddert liegen blieb, war augenblicklich totes Papier, das stärkste Vanitassymbol der Moderne. Eine alte Zeitung ist immer eine Welt, die es schon nicht mehr gibt.

Die Droge der im Fettdruck aufs Papier geknallten Aktualität, die am besten wirkte, wenn die Druckerschwärze an den Fingern klebte, funktioniert nicht mehr so wie früher, denn als Echtzeitkanal für Nachrichten aller Art lässt das Internet jede Tageszeitung wie eine von gestern wirken. Hat sich das Prinzip der Zeitung, die aus dem Postwesen hervorging und wie dessen berittene Boten vom Versprechen lebte, die Botschaft als erster zu überbringen, damit erledigt?

Vielleicht muss man nur tief genug graben, um die Zukunft der Zeitung zu entdecken, im Archiv der ältesten Jahrgänge, wo sich verschüttete Gegenwarten überlagern wie die Schichten von Troja. Gleich auf der ersten Seite der ersten Ausgabe der „Berliner Morgenpost“ zum Beispiel, am 20. September 1898 erschienen, springt unter dem Jugendstiltitelkopf und der Rubrik „Neueste Depeschen“ eine Meldung „Zur Dreyfuß-Affaire“ ins Auge, die in Fraktur davon berichtet, dass die Jahresversammlung des Freimaurerkonvents das Ministerium Brisson zu seiner Haltung beglückwünsche. Eine Illustration malt unten auf der Seite die von Palmen überwucherte Teufelsinsel aus, den „Verbannungsort des Hauptmanns Dreyfuß“.

Ist es Zufall, dass eine isolierte Nachricht aus den Tiefen der Zeit elektrisierender wirkt als jede Eilmeldung? Woher kommt der plötzliche Mehrwert eines Blattes, das bei der Gründung für zehn Pfennig pro Woche zu abonnieren war?

Nachrichten existierten schon lange, bevor es gedruckte Zeitungen gab. Sie kamen nicht aus der Aktualität, sondern aus einem mythischen Raum, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überspannte, und die ersten Dichter beschrieben sich als Boten, die fremde Kunde weitertrugen. James Joyce baute seinen „Ulysses“, mit dem er die Story eines einzigen Tags im Juni 1904 erzählte, um die Redaktion des Dubliner „Evening Telegraph“ herum, die sich mit den Problemen der Tagesberichterstattung und der Anzeigenlage herumschlug. Doch das Muster seiner Erzählung stammt aus den homerischen Gesängen.

Das Internet hat unsere Vorstellung davon, was Gegenwart ist, mindestens so stark umgeprägt wie einst die Druckerpresse. Es ist sein eigenes Archiv, hebt alles auf, macht Abgelegtes wieder zur Neuigkeit und kehrt die Fließgeschwindigkeit der Zeit um. Wenn sich aus diesen Umbrüchen schon jetzt eine druckfähige Nachricht machen lässt, dann die, dass auch das Ende der Zeitung nur ihr neuer Anfang sein kann.