Teenage Dream (T.Rex)

Essay
zuerst erschienen Februar 2013 in Thomas Kraft (Hg.), The Beat goes on. Neue Stories, LangenMüller, S. 201 - 207

Er hatte kupferfarbenes strähniges Haar, das ihm bis auf die schmalen Schultern fiel. Unter den feucht hervortretenden Augäpfeln, derentwegen er immer wie erstaunt aussah, lag ein breiter violetter Schatten. Eine millimeterbreite Zahnlücke trennte die oberen beiden Schneidezähne, von denen einer schräg abgebrochen war, sodass er, wenn er den Mund aufmachte, wie seine Großmutter aussah. Sein bürgerlicher Name war Martin Beutler, aber der spielte anfangs keine Rolle, denn man nannte ihn T.Rex. Obwohl er zwei Jahre älter war und der für mich unerreichbaren Oberstufe angehörte, war mit nicht verborgen geblieben, dass man sich gerne über ihn lustig machte und er das sogar zu genießen schien. Zog man ihm auf dem Schulhof auf, spielte er gerne den Clown.

Für seinen Spitznamen gab es aber einen anderen Grund. Es hatte große Aufregung gegeben, weil jemand das Leninfoto auf einer Wandzeitung mit einem Bild von Marc Bolan, dem Sänger der Band T.Rex, überklebt hatte. Als die Blasphemie entdeckt worden war, wurden wir klassenweise auf dem Hof zusammengetrommelt und vom Direktor kollektiv ins Verhör genommen. Der Direktor brüllte mit blau angelaufenen Lippen, man werde den Attentäter auf den Führer der Roten Oktoberrevolution von der Schule entfernen und dessen Eltern zur Verantwortung ziehen. Der Klassenlehrer und zwei seiner Kollegen untersuchten inzwischen unsere auf den Schreibtischen ausgebreiteten Schulsachen. Viele von uns hatten sich die Haare tief in die Stirn gekämmt und guckten so gelangweilt wie möglich.

Der Täter wurde nicht ausfindig gemacht, aber Martin hieß plötzlich T.Rex, und einem Gerücht zufolge hatte er sich einen Ersatzschlüssel für das Schulhaus besorgt, um eines Nachts kurz nach Lenins Geburtstag das Foto zu überkleben.

Er redete mich zum ersten Mal vor dem Eingang ins Musikzimmer an, in dem an diesem späten Samstagnachmittag eine Schuldisko stattfand. Diese von einem FDJ-Sekretär der obersten Klasse veranstalteten „Tanzveranstaltungen“, zu denen zu mindestens siebzig Prozent DDR-Rock gespielt werden musste und sich kaum jemand auf die Tanzfläche wagte, bevor irgendein Witzbold das Licht abdrehte, waren für die meisten, die selbst noch keine Zigaretten kaufen konnten, eine Gelegenheit, eine Schachtel F6 gegen zum Beispiel einen Aufkleber oder Poster mit Jimi Hendrix oder Udo Lindenberg zu erwerben. Ich hatte weder Zigaretten noch Poster, aber T.Rex hatte gehört, ich hätte eine Get It On-Single aus dem Westen bekommen und würde die unter Freunden ausleihen. Ich wusste, das war riskant, denn ich konnte mit der Schule Ärger bekommen, und die Platte konnte kaputt gehen. T.Rex interessierte das jedenfalls, und weil mit der Disko sowieso nichts los war, begleitete ich ihn zu sich nach Hause.

Er wohnte bei seiner Großmutter in einer Art Hexenhäuschen, in dem man sich sogar als Fünfzehnjähriger auf der Stiege den Kopf anstoßen konnte und das mit dem Rücken zu einem Kalkfelsen stand, der bedrohlich weit über das Dach ragte, und es sah ein bisschen danach aus, als würde der Felsen die Bude im nächsten Moment unter sich begraben.

T.Rex hauste in zwei dunklen und feuchten Zimmern im oberen Stock, die Großmutter, die bei jedem Besuch misstrauisch an die Tür kam und ihn manchmal mit knotiger Stimme zurechtwies, er solle keine Fremden ins Haus lassen, herrschte im Erdgeschoss. So etwas wie diese Wohnung hatte ich vorher noch nie gesehen. Sie wurde unmöglich häufiger als einmal pro Jahr gereinigt. Der Boden war mit Klamotten, Essenresten, Zigarettenstummeln, leeren Bierflaschen und Papierfetzen übersät, die sich an manchen Stellen zentimeterhoch stapelten, wahrscheinlich war darunter noch mehr Müll plattgetreten. Außer einem Bett mit unbezogenen Kissen und Decken, einem Schrank ohne Tür, einem Tisch, der an der Wand lehnte, weil ihm ein Bein fehlte, und einem klobigen Polstersessel undefinierbarer Stofffarbe davor, bestand die Einrichtung aus überall meterhoch aufgebauten Bücherstößen, vergammelten Vorhängen vor blinden Fenstern und einer schmieriges Licht absondernden Glühbirne. Die einzigen glänzenden Gegenstände waren ein Tonbandgerät und ein Radio, von Hunderten von Kassetten umgeben. Die Wände waren mit Postern bedeckt, und tatsächlich gab es mindestens zwanzig Fotos mit Bolan und der Band.

Selbst in der DDR war die große Begeisterung für T.Rex längst verebbt. Man hörte jetzt eher Yes, Pink Floyd oder Jethro Tull. Aber für meinen neuen Kumpel und mich war der Rausch des Teenage Dream nicht vorbei. Wahrscheinlich sah T.Rex in mir einen anderen Außenseiter, der keine Angst davor zu haben schien, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, weil die anderen die im Westfernsehen zu verfolgenden Bühnenauftritte von Bolan (Beat-Club, später Disco) peinlich fanden. Die Oma erlaubte uns, die seltenen Shows auf ihrem Fernseher anzuschauen. Ansonsten lagen wir auf dem zugemüllten Fußboden und ließen uns von den Children of the Revolution zudröhnen. Abends hingen wir mit HR3 vor dem Radio und warteten angespannt auf den Moment mit den verzerrten Gitarrentunes und einem kitschigen Streichersound samt Flügelhorn und Saxophon, von denen sich Bolans obszöne Röhrenstimme abhob wie eine Lache Pfeffischnaps auf dem Papier einer versauten Biologiearbeit. Children of Rarnin einer siebzehnminütigen Version to be played at maximum volume: Wir wussten das auch ohne David Bowies Ratschläge.

Von seinem Vater, der ein paar Jahre zuvor „verschwunden“ war, wie T.Rex kurz erklärte, hatte er eine Menge Bücher geerbt. Es handelte sich vor allem um Insel-Ausgaben mit Klassikern, darunter aber auch Hölderlin und Novalis, und in den kommenden Monaten, in denen ich T.Rex immer häufiger besuchte, legten wir manchmal längere Hörpausen ein und lasen uns gegenseitig aus dem Hyperion oder Ofterdingen vor. Er setzte sich dabei auch Kopfhörer auf und ahmte zwischendurch den Hintergrundchor nach (Whatever happens to the teenage dream…), während ich mit Kunsttrauerstimme „So kam ich unter die Deutschen“ vortrug.

T.Rex war in der Schule ausschließlich als Spaßmacher akzeptiert. Als sich im September 1977 herumsprach, Bolan sei bei einem Autounfall getötet worden, blieb er für eine Woche verschwunden und tauchte schließlich mit schwarz gefärbten Haaren in seiner Klasse auf. Auch ich hatte ihn in diesen Tagen nicht gesehen. Offenbar löste er mit seinem Aufzug einige Unruhe aus. Mitschüler warfen mit Papierfliegern und Gummis nach ihm und kriegten sich vor Lachen nicht ein, Lehrer sahen sich außerstande zu unterrichten, und der Direktor hielt es für geboten, ihn nach Hause zu schicken. Als ich ihn dort besuchte, hatte er die Fotos von der Wand genommen und die Wände schwarz gestrichen. Er erklärte mir, mit Marc Bolan sei auch er gestorben, ich hätte in ihm nicht den alten T.Rex, sondern Martin Beutler vor mir. Er könne Musik von jetzt an nur noch allein hören.

Wir trafen uns trotzdem weiter, denn es machte mir Spaß, mit ihm zusammen in den Büchern seines Vaters zu lesen. Martin Beutler hatte ein paar verbotene Sachen darunter entdeckt, wie sie damals in vielen kleinbürgerlichen Haushalten zu finden waren, in denen man sich noch nie und erst recht nicht seit Kriegsende für Literatur interessiert hatte: In Stahlgewittern, Das Jahr der Seele, ein Nietzsche-Lesebuch.

Später raffte es außer Bolan auch den Rest der ehemaligen Band hin: Steve Took zum Beispiel starb 1980 am Konsum einer Cocktailkirsche. Wir verfolgten diese Sachen wahrscheinlich beide nicht mehr, obwohl mich die Tobsucht der Sex Pistols oder die Nibelungen-Geschwader von Rammstein irgendwie an die Konzerte in T.Rex’s Hexenhäuschen erinnerten: You won’t fool the children of the revolution…

Martin Beutler begann eine Buchhändlerlehre, ich studierte im Lande Lenins Quantenchemie. Er zweigte in einem Antiquariat, in dem er eine Weile arbeitete und dessen Bestände in den Westen verkauft wurden, Erstausgaben von Schopenhauer oder Taschenbücher mit Freud und Jung ab. 1983 gehörte er zu den ersten, die mit offiziellem Ausreiseantrag in den Westen gehen durften. Die Bücher, die er mir in den letzten Jahren besorgt hatte, galten als eine Vorauszahlung für Zigarettensendungen (Marke Karo), mit denen ich ihn an seinem neuen Wohnort in München versorgte.

Ein paar Jahre später fiel die Mauer, und entweder gab es auch im Osten keine Karo mehr, oder Martin Beutler hatte sich inzwischen auf West-Tabak eingestellt. Schopenhauer und Freud gab es jetzt sowieso an jedem Kiosk, und die Zeit des Lesens schien auch vorbei.

Wir sahen uns kaum noch, seit ich Deutschland wieder verlassen hatte. Ich wusste, er jobbte in Schwulenbars und hatte einen kleinen Verlag gegründet, in dem er Dichter veröffentlichte, die Karl Wolfskehl oder Rudolf Borchardt zum Vorbild nahmen, um von einem neuen deutschen Reich zu träumen. Er selbst, Martin, war einer von ihnen.

Ich besuchte ihn kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Er hauste immer noch in München, im Keller einer Lagerhalle, in der die Bände seiner Edition zu Tausenden auf ihre bislang ausgebliebenen Leser warteten. Er lebte an der Seite eines mindestens zehn Jahre jüngeren Kroaten, von dem ich nur Fotos an den Kellerwänden zu sehen bekam. Der Mann hieß Jovan und hatte die aufmüpfigen Augen und das lange dunkle  Lockenhaar von Marc Bolan. Martin stand im Begriff, seinen Namen und sein Geschlecht zu wechseln. Bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag sei seine Verwandlung in Martina Beutler abgeschlossen. Jovan und er hätten sich das beide gewünscht. Tatsächlich hob sich unter seinem T-Shirt ein deutlicher Brustansatz ab. Wenn er den Mund aufmachte, sah man die alte Zahnlücke mit dem Bruch. Er sah aus wie seine Großmutter. Es ging ihm gut. Whatever happens to the teenage dream.