Wallfahrt nach Walhall

Reportage
zuerst erschienen 1963 in Kölner Stadt-Anzeiger
Bayreuth 1963 - der Genius ruft, und das Geld kommt

Bayreuth - 1450 Autos rollten an diesem Nachmittag den grünen Hügel von Bayreuth hinauf, und keines war darunter, das die Steigung nicht im dritten oder vierten Gang genommen hätte. Zu Wagner pilgert man im Sechszylinder, und oben angekommen unter dem rotweißen Baldachin des Festspielhauses, öffnen Chauffeure und Polizisten den Wagenschlag, heben die Herren in ihren schwarzen und weißen Smokings aus dem Fond und bergen sodann - oft zu zweit oder dritt - die Damen und deren Zubehör, die Seidenschleppen und die Spitzen, die Schals und die Capes.

Rheingold aus Düsseldorf

Zum dreizehnten Male nach dem Krieg trifft sich auf des Meisters Festspielhügel die deutsche Gesellschaft, und ist auch nicht die ganze, so ist doch die feine Welt zugegen. Man kennt sich, die Helden der Stahlindustrie von der Ruhr schließen mancherlei Rheingold aus Düsseldorf und Wuppertal in die Arme, Gralsritter des Frankfurter Bankgewerbes küssen den Göttinnen aus der Hamburger Ölindustrie zart die Hand.

In dem Maße, in dem Zauber und Zinnober auf der Bühne von Wieland Wagner radikal eingeschränkt worden sind, nimmt der glanzvolle Aufwand draußen auf dem Vorplatz von Jahr zu Jahr zu. Drinnen im Saal wird Parsifal, das Bühnenweihefestspiel, gegeben, aber die Gesellschaft hier draußen sieht aus, als ob sie den Beschwörungsklängen des sächsischen Meisters ganz gut widerstehen könnte. Und dennoch wallfahren sie alljährlich nach Bayreuth. Warum, wenn sie nicht wie in früheren Jahren deutscher Weihezauber auf den Hügel treibt?

Ein Hamburger Kaufmann neben mir trägt stolz den goldenen Ring am Smokingrevers, das Abzeichen der Freunde und Förderer Bayreuths. Ist er einer der orthodoxen Wagnerianer, ein ehrwürdiger Pilger zur Kult- und Weihestätte seines Genius?

„Wissen Sie“, sagt der Herr, „ich verstehe ja nicht viel von Musik, aber der Betrieb hier ist ja schon ziemlich toll. Ich gehe in den ersten Akt, meine Frau in den zweiten und meine Schwiegermutter in den dritten. Für einen allein ist dieser Wagner ja zuviel.“

Ohne alle Hemmungen vornehm

Wo aber sind sie, die alten Wagnerianer? Gehört jener Herr mit Rauschebart dazu, der vor der Vorstellung noch schnell seine beiden Dackel rund ums Opernhaus führt? Gehört jene Dame dazu, die für Parsifal ein schwarzes, für Tristan ein weißes und für die Meistersinger ein grünes Kleid anlegt? Auf den ersten Blick ist deutsches Kapital auf dem grünen Hügel versammelt. Der Genius rief, und das Geld kam. Hier, in Bayreuth, im äußersten Winkel der Bundesrepublik, darf man noch einmal ohne alle Hemmung exklusiv, vornehm und elegant sein.

Und so elegant, raunen die Kenner, wie in diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr des 80. Todestages und 150. Geburtstages Richard Wagners, war es noch nie. Und so heiß war es auch noch nie.

Abgetrennt durch Seile ist das Fußvolk

In das Make-up der Damen hat das Wetter tiefe Züge des Bedauerns gegraben. Die Damen wollten zur Premiere in frischem Nerz erscheinen. „Aber bei dieser Temperatur wäre Pelz nicht feierlich, sondern einfach lächerlich“, erklärt eine dralle Fünfzigerin und treibt mit einem Fächer Frischluft ins Dekollete.

Das Bayreuther Fußvolk am Straßenrand, diesmal von Absperrseilen und Polizistenarmen säuberlich vom zahlenden Publikum getrennt, betrachtet das wogende Meer der Smokings und bloßen Schultern mit sichtbarer Ergriffenheit. Die Bonner Minister sind bereits vorgefahren, Schröder, von Hassel, Lenz, Seebohm, die bayrische Prominz von Minsterpräsident Alfons Goppel bis zu Sebastian Pollinger, dem Nürnberger Oberfinanzpräsidenten. General SpeideI und General Foertsch führen ihre Uniformen voller Stolz durch das zivile Gedränge.

Wie Brünnhilde: die Begum

Die Bayreuther Bürger indessen warten auf ein ganz besonderes Ereignis. Jedes Jahr kommt es so regelmäßig wie Osterhase und Nikolaus und wird jedesmal mit gleicher Spannung erwartet und mit gleicher Erregung begrüsst: die Begum, des reichen Aga Khans treue Witwe. Im zartrosa Kleid steigt sie aus dem Mercedes, schreitet stolz wie Brünnhilde persönlich durch die Menge, dankbar umjubelt und beklatscht - für Bayreuths Bürger der rührende Beweis, was ihre Stadt in der Welt schon wieder gilt.

Jetzt, da die Begum da ist, kann Bayreuths Premiere beginnen. Während Friedelind Wagner, die einst abtrünnige Schwester der Familie, die Begum überschwenglich begrüsst, ihr die bloßen Arme und Schultern tätschelt, formiert sich auf dem Balkon über dem Königsportal eine kleine Bläsergruppe und gibt mit einem Motiv aus Parsifal musikalisch das Klingelzeichen.

Sitzplatz für 38 Mark

Nur zögernd begeben sich Smokings und Abendkleider ins Festspielhaus. Zwar kostet der Sitzplatz im Durchschnitt 38 Mark, aber jedermann weiß, welche Strapazen dem Wagner-Freund nunmehr bevorstehen. Der Platz im Festspielhaus ist ein Notsitz, hart und hölzern, ohne Armlehne, mit einer dünnen Latte im Rücken. In diesem Jahr sind für die Solisten neue Garderoben, Bäder und Aufenthaltsräume an das Theater angebaut worden. Für den Komfort des Zuschauers indessen kann nichts getan werden: „Richard Wagner, der Baumeister des Hauses, hat das harte Gestühl aus Gründen der Akustik gewählt. Wir können da keine Rücksicht nehmen.“

Exklusivität wird hart erkämpft

Aber was nimmt eine von Tag zu Tag mehr Vorrechte einbüssende Gesellschaft nicht alles auf sich, um noch einmal dabei und zugleich unter sich zu sein? Exklusivität muß erkämpft werden, notfalls mit dem Sitzfleisch. Den Herren macht es nichts aus, daß ihnen, eingekeilt in der Menge, der Schweiß in die Schuhe rinnt, die Damen ertragen es mit Würde, daß die Rückenlehne im tief bis zur Hüfte ausgeschnittenen Rücken markante Streifen hinterläßt.

Es gibt ja die Pause, und nicht zuletzt wegen ihr ist man gekommen. Und wenn man äußerlich schon nicht geschont wird, in der Pause gibt es im Festspielrestaurant wenigstens Schonkost für den Magen: Eingemachtes vom Huhn, Edelpilze, Spargel, Butterreis und Fleurons für 8 Mark oder auch einen halben Hummer mit Sc. Chantilly, Spargelspitzen und Toast für 18,50 Mark.

Reserviert für die Spielzeit“

Hier im Restaurant stehen große Schilder auf den Tischen: „Reserviert für die ganze Spielzeit“ ist darauf geschrieben und darunter mehrere Namen: Konsul D., Graf B., Botschafter Dr. Subirana Y. Lobo. Alle Namen sind mit zwar großspuriger, aber doch konventioneller Handschrift geschrieben. Allein beim Schild der Begum war ein Künstler am Werk. In steiler, gotischer Antiqua ist ihr Name aufs Papier gemalt. Verwirrender aber noch ist die Vielfalt der Firmenbezeichnungen. WMF, die Württembergische Metallwarenfabrik, hat für ein ganzes Dutzend Gäste Plätze reserviert, Friedrich Flicks Maxhütte für weitere sechs Wagner-Freunde. Schaut man in das Bayreuther Programmheft, so sind die westdeutsche Schwerindustrie, das Bank- und Versicherungsgewerbe in großer Zahl vertreten.

„Es hat eine unerwartete Wagner-Renaissance eingesetzt, wie sie 1951, als wir in Bayreuth neu begannen, nicht vorauszusehen war.“ So hat es Wieland Wagner in einem Interview gesagt, und bei einer anderen Gelegenheit hat er hinzugefügt: „Finanzielle Sorgen haben wir nicht. Wir haben einflußreiche Freunde.“

Wagners Götter dämmern nicht. Am Festspielkiosk ist zum Jubiläumsjahr Richard Wagners Autobiographie „Mein Leben“ angekündigt, eine einmalige Ausgabe von 2000 numerierten Exemplaren. Die 948 Seiten kosten in Ganzleinen 75 DM, dasselbe in Leder 118 DM.

Nach jeder Stunde ist Pause

„Prösterchen, Prösterchen“, flöten die Damen am Gartentisch des Restaurants, und der Herr, der den Sekt für 25 Mark bezahlt hat, sagt: „Ich weiß ja nicht, ob euch Söhnlein recht ist.“ Die Damen überhören es und heben feierlich das Glas. „Auf genußreiche Tage“, sagt die eine, und sie meint Wagner.

Eine andere an einem anderen Tisch klärt unterdessen ihren zum erstenmal mitgebrachten Mann auf: „Die Meistersinger sind ganz entzückend. Nach jeder Stunde ist Pause.“

Sie kann sich glücklich schätzen, ihren Mann überhaupt nach Bayreuth gebracht zu haben. Denn viele weibliche Wagner-Freunde müssen allein oder allenfalls in der Begleitung ihrer Töchter kommen. Der Herr Gemahl, ohnehin überlastet, möchte sich die Strapazen ersparen, und so rühren Mutter und Tochter bedächtig ihre Langeweile in den Kaffee. Hier in Bayreuth immerhin kann der lange Tag der Industriellengattin auf schöne Weise ausgefüllt werden. Morgens beim Friseur, dann im Einführungsvortrag des Grazer Musikprofessors Maximilian Kojetinsky im Kolping-Haus, später vielleicht mit einem Besuch am Grabe Wagners hinter der Villa Wahnfried mit dem Stein für Wagners Hund („Hier ruht und wacht Wagners Ruß“). Die täglichen Aufführungen, fast so lang wie das Programm des Deutschen Fernsehens, nämlich von 16 bis etwa 22.30 Uhr, vertreiben Nachmittag und Abend. Die Unermüdlichen aber treffen sich spätnachts in der „Eule“, einem Lokal, in dem man den Solisten des Abends noch einmal Beifall klatschen und mit Frankenwein zuprosten darf. Und mancher Wagner-Freund gar findet von hier aus den Weg noch in die „Funzel“, dem einzigen Nachtlokal der Stadt. Hier ist es beinahe so schummrig wie in Wieland Wagners Parsifal-Inszenierung. Nur die Musik ist anders.