Wir Todeszonenkinder

Reportage
zuerst erschienen am 26. März 2006 in Frankfurter Allgemeine Sonntagzeitung, S. 27
Sehnsucht nach der postapokalyptischen Welt: Eine sentimentale Reise nach Tschernobyl, zwanzig Jahre nach der Katastrophe

Ich wollte in die Todeszone. Ich wollte wissen, ob die Welt nach dem Weltuntergang aussieht wie in unseren bizarren Träumen. Ob das Ionenfeuer in den kontaminierten Wäldern knistert. Ob die Gamma­strahlen über den Maschinenfried­höfen funkeln. Tschernobyl konnte nicht einfach nur der Name sein, den unsere Biologielehrer vor zwan­zig Jahren im Mund führten.

Im April 1986 erklärte man uns, daß man keine Frischmilch mehr trinken soll und keinen Salat mehr essen. Man schenkte uns Jugendbü­cher von Gudrun Pausewang, in de­nen Schulmädchen durch blühende Rapsfelder vor radioaktiven Wol­ken flüchteten. (Der Film zum Buch kam letzte Woche in die Ki­nos.) Im Deutschunterricht waren wir die letzten Kinder von Schewenborn und lernten, die Strahlung zu fürchten. Ich habe auf mein Schulmäppchen das Warnzeichen für Ra­dioaktivität gemalt und einen grin­senden Totenschädel daraus ge­macht.

Jetzt stehe ich in der Sperrzone von Tschernobyl vor jenem Reak­torblock 4, der am Morgen des 26. April 1986 um 1.23 Uhr bei einem Experiment durch eine Knallgasex­plosion zerrissen wurde. Rund hun­dert Meter vor mir schimmern die blaugrauen Wände des über den Trümmern errichteten Sarkophags. Die Anzeige des Dosimeters in mei­ner Hand klettert selbst in der Di­stanz auf über 600 Mikroröntgen pro Stunde. Der Bleisarg hat Risse und Löcher, Vögel nisten in seinen Eingeweiden. Im Inneren strahlen noch 185 Tonnen zu Lava erstarrten Kernbrennstoffs. Im Inneren hegt auch der Leichnam des Anlagenfah­rers Waleri Chodemtschuk, der als erstes Opfer der Katastrophe nicht geborgen werden konnte.

Auf dem Dach des benachbarten Reaktorblocks 3 arbeiteten in den Wochen nach der Explosion die Li­quidatoren: Hunderttausende von Wehrpflichtigen, die herausge­schleuderte Graphitblöcke zum Teil mit bloßen Händen in den im Bau befindlichen Sarkophag war­fen. Man wollte das Dach von Block 3 mit Maschinenkraft reini­gen. Doch der deutsche Präzisions­roboter fuhr an den Rand und stürz­te in die Tiefe: Die Strahlung Heß seine Schaltkreise durchschmoren. Die sowjetischen Wehrpflichtigen mußten 1986 die Wahl ihres Le­bens treffen - zwei Jahre in Afgha­nistan oder zwei Minuten auf dem Dach in Tschernobyl. Auf den Fo­tos des tollkühnen Reporters Igor Kostin sieht man die ungerührten, fast spöttischen Augen dieser jun­gen Männer, die gegen die tödliche Strahlung nur Bleiwesten aus dem Ersten Weltkrieg trugen. Man hat die unerklärliche Ruhe der Liquida­toren mit asiatischem Fatalismus er­klärt. Ich machte Zivildienst im Förderbereich einer Behinderten­werkstatt und beneidete die Zivis in der Telefonzentrale um ihren lauen Job.

Die Todeszone um den Kernre­aktor, vom Militär mit einem Zir­kel in die Karte gezeichnet, schlug Menschen von Anfang an in einen magischen Bann - sogar jene, die in den Monaten nach dem Unglück dort den Tod fanden. Feuerwehr­leute berichteten, sie hätten das Cäsium in der Sonne glitzern se­hen wie Kristalle. Bäuerinnen er­zählten, sie hätten Strontium in Form schwarzer Tücher auf ihren Gemüsebeeten eingesammelt. Na­türlich ist Strahlung unsichtbar. Nur auf Super-8-Filmen vom Tag nach der Katastrophe, wo unweit des Kernkraftwerks eine Hochzeit stattfand, hinterließen die Gamma­strahlen weiße Flecken. Angler kehrten an diesem Tag mit braunge­brannten Gesichtern vom Fluß zu­rück, obwohl der Sommer noch fern war.

Schon kurz nach dem Reaktor­unglück wucherten in der Zone die Mythen. Auf den mit Betonplatten abgedeckten Massengräbern, in de­nen man die von Sonderkommandos erschossenen Haustiere der evakuierten Bevölkerung verscharrte, sollen die Wölfe geheult haben: Sie spürten die Wärme der Verwesung. Es gingen Gerüchte über Igel ohne Stacheln, dreiköpfige Vögel und über rote Ratten, die Betrunkene in der Nacht bis aufs Skelett abnagten. Doch stärker als die biologischen Mutationen wirkte die ästhetische Mutation des Ortes auf die Phantasie. Denn die Sperrzone stand von Anfang an für eine Parallelwelt, in der alles aussieht wie immer und alles zugleich bis in den innersten Wesenskern verändert ist.

Eine schwere Schneedecke bedeckt die gesamte Sperrzone. Unser weißer VW-Bus hält an einer Straßenbiegung, man blickt auf eine Reihe länglicher Hügel. Eine ganze Kolchose hegt darunter begraben - die Häuser, die Maschinen, sogar die Erde selbst. Unmittelbar auf den Hügelgräbern beträgt die Strahlung bis zu fünfzigtausend Mikroröntgen. „Schnee schluckt Betastrahlen“, erklärt Maxim, der Führer vom Interinform-Zentrum, „aber keine Gammastrahlen.“ Gammastrahlen bahnen sich ihren Weg durch die Materie wie kleine Nadeln und hinterlassen Löcher. Auf den Gräbern würde man also von einem unsichtbaren Kugelhagel durchsiebt. Mir fällt der deutsche Untertitel zum Belmondo-Kriminalfilm „Die Nr. 1 bin ich“ von 1968 ein: „Im Kugelhagel starben seine Träume“. In der Todeszone tobt ein schmutziger Krieg auf subatomarer Ebene. Ein abstraktes und irgendwie auch lächerliches Gefühl von Showdown hegt in der Luft.

Die Asphaltstraßen mit ihren tiefen Schlaglöchern sind dekontaminiert. Hier mißt das Dosimeter 17 Mikroröntgen pro Stunde: In jeder Großstadt strahlt der Stein diese gesunde Dosis ab. Abseits der Verkehrswege   verdoppelt sich die Strahlenbelastung mit jedem Schritt. Bei einem Tschechow-Bir­kenwäldchen, das nur wenige Me­ter abseits der Straße steht, weisen rostige Warnschilder auf einen Hot­spot hin. Jedes dürre Gestrüpp kann in Tschernobyl ein heißer Fleck sein. Zum Beweis hält Ma­xim das Dosimeter grinsend an ei­nen verstrahlten Strauch. Der Mann ist Mathematiker und hat die Ruhe weg: Er kann die Wahr­scheinlichkeit berechnen, von durch die Luft schwirrenden Radio­nukliden getroffen zu werden. Ich begreife, daß alle Dinge in der Zone einen Röntgenblick besitzen, daß jeder Busch mich heimlich durchleuchtet.

Nach der Katastrophe von Tschernobyl machte der Begriff der Radiophobie in Europa die Runde - Strahlenangst, die überall Gefahrenquellen wittert. Doch es gibt auch das Gegenteil dieser Angst, die seltsame Anziehungs­kraft der Strahlen. Vielleicht ist die ästhetische Reststrahlung von Tschernobyl viel gefährlicher und wirkungsvoller als die Radioaktivi­tät, die in der Zone mit Ausnahme weniger Orte auf ein für Besucher ungefährliches Maß zurückgegan­gen ist und von jedem Transatlantikflug übertroffen wird. Schon Hölderlins gelbe Birnen aus „Hälf­te des Lebens“ waren verstrahlter als die berüchtigten Äpfel von Tschernobyl. Und warum erscheint uns die Welt in entscheidenden Le­benslagen wie nach einem Atom­schlag? Warum wirkt die schrägste­hende Märzsonne, die bekanntlich Endorphine freisetzt, in besonde­ren Momenten wie radioaktive Strahlung?

Vielleicht entspricht Tscherno­byl wie kein zweiter Ort der gehei­men Sehnsucht nach einer postapo­kalyptischen Welt - eine Sehn­sucht, die in den achtziger Jahren durch Punkrefrains wie „Wir sind die Asche von morgen“ oder durch Filme wie „Blade Runner“ nicht gestillt wurde. Als wir am „Red Forest“ vorbeifahren, einem Kiefernwald, den die Strahlung über Nacht rot einfärbte, erreichen wir den Höhepunkt der Intensität -ausgerechnet bei einer Flamme aus Beton, dem alten Logo des Kernkraftwerks. Außerhalb des Autos, verkündet Maxim stolz, herrschen dreitausend Mikroröntgen. Im Wagen zeigt das Dosimeter 420 Mikroröntgen. Man bildet sich ein, man führe mit einem Marsfahrzeug durch Mikrowellen. Da draußen muß die Luft brennen wie Feuer. Tatsächlich beträgt die tödliche Dosis das Millionenfache des Werts im Volkswagen.

Wo einst der „Red Forest“ stand, ragen nur noch ein paar dürre Kiefernstämme und ein paar junge Birken empor. Am Horizont ist hinter einer Nebelwand schemenhaft die Militäranlage „Tschernobyl 2“ zu erkennen - eine hundertfünfzig Meter hohe Radarantenne, um die sich seit dem Unglück zahlreiche Verschwörungstheorien ranken. Man hat gemutmaßt, die Sowjets hätten dort Wellen zur Gedankenkontrolle ausprobiert und aus Versehen die Hirne der Operatoren im Kraftwerk beeinträchtigt. Angeblich steht „Tschernobyl 2“ seit der Katastrophe still. Auch hier brannten die Schaltkreise durch. Ionisierte Luft leitet Strom wie Metall.

Zahllose Stromleitungen durchziehen die steppenartige Landschaft der Todeszone. Ein echter Adler stößt sich von einem Mast ab und schlägt mit den Schwingen. In diesem erhabenen Augenblick sollte man an Tarkowski denken und an seinen elegischen Film „Stalker“ von 1979, der auf der Grundlage des Science-fiction-Romans „Picknick am Wegesrand“ der Brüder Strugatzki von einer mysteriösen Sperrzone handelt. Doch alles, was mir durch den Kopf schießt, ist eine bescheuerte Zeile aus dem noch bescheuerteren Lied „Burli“ der „Ersten Allgemeinen Verunsicherung“, das 1987 auf jeder blöden Schulparty lief: „Herr Anton hat ein Häuschen / Mit einem Gartenzwerg, / Und davor, da steht ein Kernkraftwerk.“

In der verbotenen Stadt Prypjat, seit der Katastrophe mit Stacheldraht abgesperrt und von Militärposten bewacht, gibt es keine Häuschen und keine Gartenzwerge. Die entvölkerte Betonwüste, erst 1970 entstanden und einst von jungen Ingenieuren mit ihren Familien be- wohnt, wirkt heute wie eine bizarre Mschung aus Beirut, Ost-Berlin und Leverkusen. In dieser Totenstadt drehte Anatoli Fradis, Hollywood-Produzent mit ukrainischen Wurzeln, 2004 den Vorspann zum Zombiefilm „Necropolis“ - und auch wenn der Film ein Komplettreinfall wurde, kann man sich keinen glaubwürdigeren Ort für einen Zombiefilm vorstellen.

Prypjat hatte 1986 fünfzigtausend Bewohner, das Durchschnittsalter lag bei sechsundzwanzig Jahren. Man braucht keine Symposien über schrumpfende Städte zu besuchen oder Studien über demographischen Wandel zu lesen, um in Prypjat einen Vorgeschmack unserer Zukunft zu sehen. Der Lunapark im Herzen der Stadt, der am 1. Mai 1986 seinen Betrieb aufnehmen sollte, gilt als besonders verstrahltes Gelände - zwischen dem Autoskooter und dem inzwischen baufälligen Riesenrad landeten jene Militärhelikopter, die Sand in den brennenden Reaktorblock schütteten, um die Kettenreaktion zu stoppen. Maxim durchstreift das Territorium gelassen und findet frische Wolfsspuren im Schnee. Die Plutoniumisotope in Prypjat werden noch in den nächsten vierundzwanzigtausend Jahren weiterstrahlen.

Ich wollte wissen, was Strahlung ist. Was ich bekam, war ein graues Dosimeter mit einer Digitalanzeige. Nichts hat geglitzert. Ich verspürte in der Zone ein leichtes Kratzen im Hals, von dem mir später zum Glück einfiel, daß ich es schon am Morgen im Hotel bemerkt hatte. Trotzdem drängten sich diese albernen Gedanken auf, all diese Mutationsgeschichten aus Comics und aus dem Kino. Werde ich mich in ein grünes Monster verwandeln wie der unglaubliche Hulk? Oder zum Zwerg schrumpfen wie Grant Williams in „The Incredible Shrinking Man“ von 1957? Maxim führt mich im Informationszentrum von Tschernobyl an ein Gerät zur Strahlungskontrolle. Das Gerät sieht aus wie ein billiger Wahrsageautomat auf der Kirmes, und als ich meine Hände auf die Kontaktflächen lege, zeigt es nach ein paar Sekunden grünes Licht. „Es ist sehr empfindlich“, sagt Maxim lächelnd, als er meine zweifelnden Blicke sieht. „Es ist zwanzig Jahre alt. Es funktioniert perfekt.“ Ich war in der Todeszone. Ich bin nicht kontaminiert.