10.2.

Wendy, ich weiß gar nicht, wie alt sie sein mag – 75? –, sitzt in Hut und Mantel vor der Tür des Grimaldi, während der vor Tagen prophezeite Regensturm namens Rose nun tatsächlich Haut-de-Cagnes zu erreicht haben scheint. Er stürmt durch die Gassen, vor allem aber fegt er über den Platz vor der Burg, wo es nichts gibt außer festgeschraubten Bänken, von denen aus sich in schöneren Nächten die Aussicht auf die Berge genießen lässt, und, wenn man sich über die Brüstung des gleich dahinter steil abfallenden Hügels beugt: auf den Friedhof im Tal, wo Suzie Solidor begraben liegt. Gerade jetzt ist es aber infraidyllisch und dort draußen geht es ausgesucht grausam zu. Im Inneren des Hotelrestaurants kriegt man davon freilich so gut wie gar nichts mit, außer, dass ab und zu ein Sonnenschirmständer gegen eines der beiden Fenster drischt.

Auf dem Maxi-Screen läuft der Golfkanal. Zwar gibt es hier weit und breit keinen Golfplatz (den nächstgelegenen, Terre Rouge bei Saint-Tropez hat vor Jahren Dietmar Hopp für seinen Eigenbedarf aufgekauft), keiner der anwesenden Männer spielt Golf oder hat es demnächst vor, aber »Anna Nordqvist spielt!!!«, und »Außerdem ist in Australien besseres Wetter.«
Die Regeln sind einfach (das: da rein) man konzentriert sich auf die Kontrahentinnen. Für Christina Kim kann sich keiner erwärmen, ja, ich habe den Eindruck, vor der stämmigen Amerikanerin mit ihren sechs Meter langen Zöpfen haben alle sogar Angst. Stacey Lewis hingegen kommt gut an, was vermutlich vor allem daran liegt, dass die Siegerin der diesjährigen Pure Silk Bahamas LPGA Classics exakt so aussieht, wie ihr Name es verkündet. Vermutlich sind ihre Eltern Waldorfschullehrer, die können so etwas.

Lydia Ko trägt elastische Hosen, die Favoritin aus Thailand heißt Pornanong Phatlom. Dazu läuft vom Tresen her Don’t Go Breaking My Heart, und man pfeift tout en famille mit bei dieser vergnüglichen Melodie.

Es geht also gemütlich zu, während draußen sogar die Laternen auf dem Platz bereits verloschen sind, was ansonsten niemals vorkommt, derart heftig führt sich der Sturm auf.
Warum sitzt Wendy draußen?

Sie harrt dort an der Seite der Dame Ångstrøm aus. Die wiederum ist derart hardcore drauf, dass Wes Anderson ihr einen Spielfilm widmen würde, allein: Er kennt sie nicht.
Noch nicht.

Also, die Dame Ångstrøm ist so zumindest das Allerbeste, was Cagnes-sur-Mer zu bieten hat. Und das will etwas heißen, denn immerhin reden wir jetzt von einem auf dem Hügel gelegenen mittelalterlichen Seeräubernest, oberhalb der mythischen Côte d’Azur. Wir könnten hier allerhand Exzentriker auftreten lassen. Und nichts davon würde unwahrscheinlich wirken oder zu weit hergeholt, denn nicht nur menschlich gesehen ist hier prinzipiell alles möglich.

Die Dame Ångstrøm beispielsweise wuchs ja in Äthiopien auf. Das hat sie mir einst offenbart, als wir beide zugleich und aus nichtigem Anlass heraus feststellen durften, dass uns eine tiefe Liebe zur amharischen Sprache verbindet, insbesondere zu jenem für die Aussprache dieser Sprache notwendigen Schluckaufgeräusch. Sie aber, die Dame Ångstrøm, hat dort in Äthiopien immerhin ein Vermögen gemacht. Milliarden werden es nicht gewesen sein, aber doch einige hundert Millionen. Und zwar mit Zementpulver. Dazu muss man wissen: Der Äthiopier baut gern. Diesem Drang zum Errichten von Bauwerken, für den es in der Psychopathologie sogar einen Fachbegriff gibt, kommt seitens der äthiopischen Verfassung ein Füllhorn an nicht existenten Auflagen und Vorschriften für die Errichtung von Bauwerken entgegen, somit wird dort alles möglich gemacht, wovon Zaha Hadid oder Daniel Libeskind nur träumen dürfen. Und dazu braucht es halt jede Menge Zement.

Von daher ist die Dame Ångstrøm im Luxus aufgewachsen und bis heute lebt sie danach, mittlerweile eben seit Jahrzehnten schon hier. Ihr Puschelhund wird jeden Morgen geföhnt, während sie mit mir den ersten Pitcher Rosé einnimmt. Dann scheint ja auch schon die Sonne, und ich mag keine Hunde, aber das macht nichts, denn: Wenn ich spazieren gehe, sehen wir uns halt eine Weile lang nicht.
Abends dann, wenn die Dame Ångstrøm, dem Sonnenlauf folgend (Methode Zauberflöte) alle möglichen Bars durch hat, ist der Hund furchtbar müde. Die Dame selbst aber noch nicht, und sowohl weisungsgemäß als auch comme d’habitude kommt dann Wendy an (künstliche Gelenke in der Hüfte und, ich glaube, auch in den Knien), um ihr zum Abschluss des Tages Gesellschaft zu leisten. Das läuft jetzt schon seit einem knappen Jahrhundert so zwischen den beiden. Wendy trinkt Weißwein, die Dame Ångstrøm bleibt beim Rosé und raucht. Deshalb finden die Zusammenkünfte auch stets unter freiem Himmel statt. Egal, bei welchem Wetter. In Anbetracht des Regensturms sogar scheißegal, aber wer die Regenzeit in Äthiopien kennt, der kann angesichts eines südfranzösischen Wetters auch nur eben so milde lächeln.

Wendy erzählt dann von ihren Operationen. Es geht zu wie in den Ritterfilmen am Lagerfeuer: Battles passed and won.

Die Dame sagt dazu nur wenig (obwohl sie fünf Sprachen spricht).

Manchmal war der Fluffihund krank. Einmal hatte sie ihn kastrieren lassen. Manchmal habe ich gedacht: Oh, diese Falte auf der Wange der Dame Ångstrøm, die sieht aber gravierend aus. Hoffentlich bleibt sie mir erhalten!

Im Juni letzten Jahres hatte die Dame Geburtstag. Da wurden an sämtlichen Masten auf dem Vorplatz der Burg die norwegische Flagge gehisst – that’s power!
Aus der Küche des Bistro L’Atelier brachte man ihr eine Aubergine, in die waren Wunderkerzen hineingesteckt, weil die Dame Ångstrøm Süßes nicht ausstehen kann. Und jeder schenkte ihr eine Schachtel Marlboro Lights.

Sie hat den Hund umarmt.

Und ist, wie an jedem Abend, den ich bislang mit ihr erleben durfte: Um 22 Uhr 30 ins Bett.