12.10.

Erwachend fand ich meine innere Landschaft verändert. Über allen Gipfeln und selbst weiter drunten im Tal schien es windstill geworden. In mir herrschte nicht einmal mehr, das war wohl unnötig geworden, es war einfach die Ruhe selbst, die seiend sich verbreitet hatte. Und von ihren Dimensionen her nahm ich sie als galaktisch wahr.

Dass ich verschlafen hatte, es war bereits weit nach acht Uhr, kümmerte mich nicht. Ich schaute länger aus dem Fenster, dort war es diesig hinter den beschlagenen Scheiben. Vom Vorbeiflug des Merkur am Saturn (oder war es umgekehrt gewesen) hätte ich sowieso nichts hätte sehen können, mit oder ohne Fernrohr. In meinem E-Mail-Eingang sah ich eine Nachricht von Bob Mankoff, dem Ressortleiter für gezeichnete Witze beim New Yorker. Und freilich war meine Verehrung für ihn und seine Arbeit schon groß, so riesengroß, dass ich einen Moment lang tatsächlich annahm, es wäre Bob Mankoff selbst gewesen, der sich aus einem ganz auf mich bezogenen Grund an mich gewandt hatte. Aber natürlich war dem nicht so, wir kannten uns gar nicht persönlich. Es war lediglich so, dass ich als langjähriger und regelmäßiger Einsender beim monatlichen caption contest nach zwölf Jahren als überseeisches Jurymitglied Schöffendienste leisten sollte. Leider halt bloß online. Machte ich aber trotzdem gerne, bis dann bei der Bewertung des zwanzigsten Panels die Seite abstürzte. Na ja. Machte mir, so wie ich drauf war, nichts. In anderer Verfassung hätte ich wahrscheinlich mit dem iPad einen Nagel in die Tischplatte getrieben. Temps passé. Trotz blödem Nieselregen packte ich gleich nach dem dritten Kaffee meine Sachen und brach in Richtung der Kleingartenkolonie am Nymphenufer auf.

Dort gibt es unter dem Bahndamm eine alte Mauer, deren interessantester Abschnitt von Brombeerranken gut geschützt ist, sodass diese Stelle außer mir wahrscheinlich niemand anders kennt und besucht. Die vielen unterschiedlichen Arten von Moos, die auf dem Sims der Mauer sprießen und gedeihen, sind insbesondere an feuchten Tagen jeden Ausflug wert. Ich pflückte mir einige kleine Kleckse davon in die Hand, um sie daheim unter der Makrolinse meines Fernrohres studieren zu können. Denn das Sprichwort stimmt ja, zumindest auf die Einsatzmöglichkeiten meines Fernrohrs bezogen: Warum zu den Sternen schweifen, wenn es so hübsche wie unbekannte Mikrowelten wie Moose gibt? Und dabei, also auf dem schwarzen Sims der Mauer, entdeckte ich zwei Schnirkelschnecken mit blaßrosa Häusern beim Geschlechtsverkehr! Das hatte ich, in all den Jahren der Schneckenforschung, die ich ja noch weit länger schon betrieb, als ich am caption contest teilnahm, noch kein einziges Mal live und mit eigenen Augen gesehen. Der einen Schnecke, die dadurch als männlich sich konstituierte, ragte der gut einen Zentimeter lange Kalkspieß aus der Seite. Papierweiß. Die andere schmiegte sich schon mit dem Leib heran.

Das gute an Schnecken ist, dass ihr Protestgeschrei unhörbar bleibt für menschliche Ohren. Auch tun die Bisse mit der Radula nicht weh. Fickende Hunde, ja, sogar Katzen oder Blässhühner würde ich mich nicht zu unterbrechen trauen. Aber Schnecken halt schon. Und jetzt halte ich die beiden bei mir zu Hause. Ich habe ihnen ein sehr hübsches und vor allem mega-artgerechtes Schleimarium gebaut aus einer weißen Kuchenplatte und einer darüber gestürzten Salatschüssel aus Glas. Der Boden ist bedeckt mit Salatblättern aus eigener Ernte – also voll regio – die ich noch vom Wochenende im Kühlschrank hatte. Dazu das Moos natürlich und für die Farblust des beobachtenden Auges: eine Scheibe Karotte. Ich fragte mich natürlich vor allem, wie das Schneckenmännchen mit dem Interruptus zurechtkommen würde. Menschliche Männchen klagen da ja recht oft und auch vor einem Hintergrund jahrtausender Jahre Kollektiverfahrung als unterbrochener Mann. Nicht so die Schnecke anscheinend, die ja von ihrer Wesensart eher als genderfluid zu bezeichnen ist: Das Weibchen begann sofort damit, die gläserne Kuppel der Behausung zu erkunden, fahrenderweise, während das Männchen samt ausgefahrenem Penetrationszapfen sich unter ein Salatblatt zurückzog. Vermutlich, um sich zu regenerieren. Mal sehen. Als erste Erkenntnis nach dem ersten Tag der Beobachtung verzeichne ich, dass Schnecken, also meine Exemplare zumindest, ultra tagaktiv sind. Das geht soweit, dass das Weibchen sofort unter dem Salatblatt hervorstößt und losfährt, wenn ich mitten in der Nacht im Badezimmer mal kurz das Licht andrehe. Ich werde die Salatschüsselkuppel eventuell mit einem Tuch abdecken müssen wie einen Kanarienvogelkäfig. Wenn Schnecken nun noch singen könnten oder leis‘ blubbern zumindest Punktpunktpunkt