17.11.

Derek Ladewig heißt der Betreiber der alternativen Bahngesellschaft auf der Strecke von Stuttgart nach Berlin (und umgekehrt). Das Logo seines Unternehmens Locomore erinnert deutlich an das von Tocotronic und die Abteile sind, von dem her, was bislang zu sehen ist, hübsch ausgestattet. Ab dem 14. Dezember soll es losgehen zu extrem niedrigen Fahrkartenpreisen (circa ein Drittel vom regulären Bundesbahntarif) und es soll nicht nur Abteile geben (während die Bahn angeblich zukünftig voll auf Großraum setzt), sondern sogar Abteile mit Motto: Skat beispielsweise für Freunde des Kartenspiels. Stelle ich mir nicht nur angenehm vor, werde es aber trotzdem bald mal ausprobieren. Ich freue mich aber auch auf meine Heimfahrt mit der regulären Bundesbahn: einfach mal ein paar Stunden lang aus dem Fenster gucken, ohne dass mich jemand fragen darf oder fragt, warum ich aus dem Fenster schaue. Eigentlich hatte ich vorgehabt viel zu lesen. Aber in drei Tagen bin ich bei Emma Cline gerade mal bis ins sechste Kapitel vorgedrungen, über dem die Jahreszahl 1969 steht. Einem Jahr, in dem unter anderem meine Eltern geheiratet haben.

»Es war eine Zeit, in der meine Vorstellung vom Heiraten einfach und von Wunschdenken geprägt war. Der Moment, in dem jemand gelobte, dass er sich um dich kümmern würde, gelobte, dass er merken würde, wenn du traurig oder müde wärst oder Essen nicht leiden könntest, das nach der Kälte des Kühlschranks schmeckt. Der gelobte, dass sein Leben parallel zu deinem verlaufen würde.«

Ein bis dahin eigenartiges Buch. Und ich hoffe, dass dem so bleiben wird. Eigenartig gut, extrem gut übersetzt (Diamantringe, kühle Bäche, Apfelbäume: alles wurde vollständig mit hinübergerettet; Wortbilder, Bedeutung und Rhythmus: intakt). Eigenartigerweise habe ich mich wochenlang durch die ersten Seiten geschleppt, oft nicht mehr als ein paar Sätze am Tag geschafft – weil es so dicht war? (In den Achtzigerjahren hätte man idiosynkratisch gesagt.) So lange die Entfremdetheit des erzählenden Mädchens sich mit sich selbst unterhält, wirkt das zumindest so. Wie aus der Unterwasserwelt beobachtet (Uferrandperspektive). Dann kommt die Party und obwohl man weiß, dass es noch schlimmer kommen soll, kann es dann gar nicht mehr schlimmer kommen: das schmutzige Essen (die Melone, die Tischkante, die Kartoffelsuppe), die verwahrlosten Kinder.

Vorgestern nach der Ausstellung hatten wir es eilig, zur Tauberquelle zu kommen, weil ein zentrales Motiv der Ausstellung in Linsen mit Spätzle und Saitenwürsten bestanden hatte, ein Gericht, das in der Innenstadt vor allem noch die Tauberquelle im Angebot hatte. Wenn es das gäbe, dann könnte man bei der Tauberquelle von einem zunehmend übersehenen Lokal sprechen. Ganz einfach, weil an dieser Ecke derart viel und dramatisch umgebaut und neugebaut worden ist, dass ein kurzes, dazu einstöckiges Haus dort mittlerweile nicht einmal mehr wie eine Laune der Architektur wirkt, sondern bestenfalls noch wie etwas aus der Natur; wie ein Stein oder etwas anderes, das dort aus der Erde ragt (die es freilich in der Innenstadt auch nicht mehr gibt, allenfalls symbolisch!). Schräg gegenüber von Hegels Haus, das ebenfalls seltsam und wie vorgeschoben auf seiner Verkehrsinsel steht, wie bestellt und nicht abgeholt. Und in seinem Nacken dünstet das cremefarbene Parkhaus vor sich hin. Ohne ein einziges Fenster, dafür mit vermoosten Lüftungsschlitzen, das, obwohl es sich nicht bewegen kann, trotzdem so wirkt, als ob es hinter dem Hegelhaus drückt und schiebt. Aber kaum sitzt man in der Tauberquelle, ist das Elend vergessen. Was auch an den niedrigen Fenstern liegt, durch die man, an den Gardinenzipfeln vorbei, allenfalls Knie sieht von den Passanten und die Türgriffe und Tankdeckel vorbeifahrender Autos (Fahrräder oder Hunde gibt es in der Stuttgarter Innenstadt so gut wie gar keine). Naja und das Essen dann: wie zu erwarten. Nämlich hervorragend! Dazu kam das Stuttgarter Bier, das einen derart eigentümlichen Wohlgeschmack hat, dass ich ihn jedes Mal sofort wieder vergesse, ohne ihn beschreiben zu können. (Süßlich, aber auch sehr bitter; vor allem bitter! Aber nicht zu sehr.) Na ja. Schön war’s. Auch gestern abend noch im Hirschen zu Heimsheim. Dem traditionellen Abschiedslokal. Der Wirt hatte das namensgebende Wappentier bereits in einer über zwei Meter hohen Variante aus Lichterketten und Schaumstoffelementen vor der Freitreppe zum Lokal aufgebaut. Was nicht allen gleich gut gefiel. Es wurde diskutiert, ob der Hirsch nun bereits zu früh aufgestellt ward (erster Advent erst in knapp zehn Tagen), beziehungsweise, ob das mit den künstlichen Materialien wirklich sein müsste (Gäste von außerhalb Fragezeichen). Aber dann kam, als Streitschlichter: der Kartoffelsalat in einer Extraschüssel (in Äthiopien nennt man ihn den Ahmadjad, und ohne ihn geht wirklich gar nichts im öffentlichen Leben, weshalb Äthiopier i m m e r zu dritt anzutreffen sind (»Wenn zwei sich streiten, schlichtet der Dritte« lautet ein dementsprechendes Sprichwort der Ä.)

Jetzt habe ich bloß noch ein Problem, ich bin mehrfach deswegen aufgewacht, konnte es aber nicht lösen, weil meine räumliche Vorstellungskraft scheinbar seniorentellerhaft abnimmt. Wenn ich mir nachher den Stausee bei Bad Orb ganz in Ruhe anschauen will und es sich sowohl bei Stuttgart als auch im Falle Frankfurt am Mains um einen Sackbahnhof handelt: Setze ich mich dann in Stuttgart in oder entgegen der Fahrtrichtung auf einen Fensterplatz, sowie: auf welcher Seite dann? In oder entgegen der Fahrtrichtung links oder rechts?