19.2.

Auf die Geburtstagsfeier hatte ich mich jetzt eine Woche lang gefreut. Einerseits, weil ich Andreas schon lange nicht mehr gesehen hatte. Auch wenn ich an seinem Studio mehr oder weniger zufällig vorbeigekommen war, hatte ich ihn nie angetroffen (was allerdings auch nur zwei Mal vorgekommen war, seitdem wir uns zum letzten Mal kurz vor Weihnachten im Schädels begegnet waren). Andererseits, weil er in seine Kommune einlud, von der er mir schon häufig erzählt hatte, und auf die ich extrem neugierig war. Ich liebe Wohngemeinschaften und Kommunen. Ich finde es extrem fantasieanregend, wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, in einer Kommune leben zu dürfen. Ich habe noch nicht einmal belastbare (oder stabile, wie es im Kreis der Gründerfamilie hieße) Erfahrungen in einer Wohngemeinschaft gemacht. Einmal, in den frühen Neunzigerjahren, war ich auf einer Dienstreise nach Berlin, von Hamburg kommend, in einer Kommune untergebracht. Die befand sich in der Yorckstraße in einem ausgedienten Fabrikgebäude. Auf jeder Etage wohnten dort um die 25 Menschen. Und zwar so, dass sie nicht nur nach Geschlechtern, sondern auch nach geschlechtlichen Neigungen sozusagen sortenrein auf den Etagen untergebracht waren. Aus mir heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen war ich damals auf dem heterosexuellen Frauenstockwerk untergebracht (während ich tagsüber ein Casting für Programmansagerinnen im Auftrag von Pro 7 im Hotel Intercontinental durchführte – Programmansagerinnen gibt es ja mittlerweile nicht mehr; aber immerhin noch das Hotel Intercontinental). Dort stand (also in der Frauenkommune, in die ich nach Drehschluss zurückkehrte) eine Presslufthupe neben dem Telefon (ein Festnetzapparat an der Küchenwand, Mobiltelefone waren noch nicht verbreitet (ich hatte aber schon eins!)), um, das fand ich auf Nachfrage heraus: in die Muschel hineinstöhnende Anrufer, von denen es damals wohl noch viele gab, durch einen Blast aus der Presslufthupe, die ihnen eigene Lust am Anstöhnen wildfremder Gesprächsteilnehmerinnen ein für allemal zu nehmen. Das Badezimmer dort war in Anlehnung an das von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Bahnhofsgebäude von Uelzen mit buntgemischten Splittern von Fliesen und Spiegeln verziert. Aufregender aber, als durch Presslufthupe (die während meines Aufenthaltes dort übrigens nicht zum Einsatz kam) und diesen Fliesenbelag rings um den beeindruckenden Zahnbürstenbottich angedeutet wurde es dann doch nicht.

Was eventuell an der Kürze meines Aufenthaltes dort gelegen haben wird. Die Kommune, in der Andreas seinen Geburtstag feierte, war in den Neunzigerjahren in einem besetzten Haus entstanden. Ich war schon locker geschätzt eintausend Mal an seiner unsanierten Fassade vorübergegangen, denn mittlerweile liegt es ziemlich zentral (aber nicht das Haus ist umgezogen, die Stadt hat sich umgeformt). Im Erdgeschoss ist ein Kino, die Kommune beginnt eins drüber. Ein sehr kleiner Kommunarde hielt mir die Haustüre auf. Als ich eher anerkennend als mäkelnd eine Bemerkung machte betreffs der Dunkelheit im Treppenhaus, schaltete er das Licht ein. Andreas stand dort in der Küche, die freilich von riesenhaften Dimensionen war. Sämtliche Einbauten stammten aus der Küche eines Restaurants. Auf dem mächtigen Gasherd stand ein Topf, der bis zur Hälfte mit einer Fischsuppe gefüllt war. Das maximale Fassungsvermögen des Topfes war 100 Liter. Es gab einen Lagerplatz für Brote, auf dem sechs Laibe lagen. Einfach so. Der Brotberg fiel, ästhetisch gesprochen, nicht ins Gewicht. Go, try this at home!

Wenn man, wie ich, Gegenstände sehr mag, wird man sich in einer Kommune extrem wohlfühlen. Die einzelnen Gegenstände sind dort entweder sehr groß, wirken also skulptural, oder sie sind extrem zahlreich und, das hebt die Kommunenküche über die in einem Zeltlager oder in einer Mensa, Kantine et cetera: in sich dann variantenreich. Jede zweite Gabel sieht anders aus; es gibt nicht nur eine Suppenkelle oder zwei, auch nicht drei, sondern 15 und immer so weiter.

Selbiges gilt in ähnlichem Maße für die Menschen dort. In der Küche lernte ich eine Frau namens Daphne kennen, die selbst in einer Kommune in Nordhessen aufgewachsen war. Mittlerweile lebte sie in Berlin, und dort ganz normal, also in einer Wohnung für sich. Aber ihre Kindheit und Jugendzeit hat sie, privat wie es heißt, mit ihren Eltern unter anderen Menschen verbracht. Daphne sagte mir auf Nachfrage hin, dass sie es im Nachhinein als belastend empfand, das andauernd unangekündigter Besuch in der Wohnung anzutreffen war. Zumindest dass sie damit zu rechnen hatte als Jugendliche und Kind. Und dass einige dieser Besucher schlecht einzuschätzen waren. Diese Erosion des Sicherheitsgefühls, im Prinzip ja die Zerstörung des Wohnens, gehörte und, wie mir schien: gehört noch immer zur Kommune. In der Kommune, in der Andreas nun seit zwölf Jahren lebt, wohnen die Genossen nach dem Rotationsprinzip. Das bedeutet, dass sie nach bestimmten Zeitabständen in ein anderes Zimmer umziehen müssen, um sich gar nicht erst als Besitzende ihrer Privaträumlichkeiten empfinden zu können. Die Gemeinschaftsräume – die Küche, der Speisesaal und ein Wohnzimmer mit sogenannter Terrasse – bilden davon unberührt das allgemein besessene Zentrum. Die Kommune, das macht den Reiz für mich aus, ist in dieser Form die städtische Wohnform, in der die Villentheorie Rudolf Borchardts überleben konnte: als Dorf, als Versorgungsgemeinschaft nach eigenem Gesetz. Es kann gut sein, dass es dieser mediterrane Flair ist, der mich vor allem in der Wintersaison für den Gedanken der Kommune einnimmt. Aber das allein kann es nicht sein. Als ich dort gestern mit dreißig anderen an der langen Tafel im Speisesaal saß, Gesprächsgeräusche, Suppe sehr gut, dachte ich unweigerlich, dass dies meiner Vorstellung am nächsten kam, die ich einst hatte, als ich, auf dem Land aufgewachsen, an ein mögliches Leben in einer Stadt gedacht hatte. Und dass ich das nie hatte verwirklichen können für mich, außer während dieses kurzen Aufenthaltes (und dann ganz allein unter Frauen, was nicht recht zählt). Weil es diese Form des Zusammenlebens, die Kommune, damals zu Beginn der Neunzigerjahre schon gar nicht mehr gab. Oder zumindest in diesen Kreisen nicht, in die ich damals hineingeraten war.