28.12.

Um den scheußlichen Schnupfen, der mich während der Weihnachtstage befallen hatte, abzuschütteln, besuchte ich das schöne Einkaufszentrum. Selbst dort wollte keine Freude aufkommen. Obschon ich unter der Schnupfenglocke willig war, drang von dem Außen dort zu wenig zu mir durch. Schnupfen, für viele eine Bagatellerkrankung, nimmt mir so viel von all dem, was ich gerne habe: Eine Welt ohne Düfte, ohne Aromen und dazu noch mit den vom permanenten Druckschmerz auf den Augenlidern behinderten Sehvergnügen zeigt sich wie in einer für mich falschen Geschwindigkeit abgespielt. Ich erinnerte mich an meine vor zwei Jahren verstorbene Großmutter Margarethe, die ihre schleichende Erblindung durch den Star stets mannhaft erduldet hatte, bis sie zuletzt die Weihnachtsgesänge am Klavier nur noch mithilfe von zwei übereinander getragenen Brillen hatte begleiten können, aber als sie dann zwischendurch einmal durch falsche Medikamentation für die Dauer eines langen Jahres ihren Geschmackssinn vollkommen eingebüßt hatte, bat sie schon nach wenigen Wochen dieses Leidens hartnäckig darum, dass man sie erschießen möge.

Den Wind im Rücken ging ich, in wehleidigen Gedanken gefangen, die von Neubauten gesäumte Schnellstraße entlang, die von einer sich an das Skyline Plaza tangential anschmiegenden Kurve geradewegs statdtauswärts in Richtung Offenbach führt. Der gedachte Einstichpunkt des großen Zirkels, mit dem diese Straßenführung auf einem virtuellen Reißbrett entworfen worden war, lag inmitten der ehemaligen Firmenzentrale der Deutschen Bahn AG, einem total unterschätzten Meisterwerk des brutalistischen Kathedralstils, das, erbaut nach Entwürfen Stephan Böhms, wie eine in Beton gefrorene Zusammenschau der stilistischen Entwicklung seines berühmten Vaters Gottfried wirkt: Neviges+Züblin=DB.

Schade eigentlich, dass ich in all den Jahren meiner früheren Besuche in Frankfurt kein Auge gehabt hatte, um mir ein solches Schmuckstück off the beaten path in Ruhe anzuschauen. Mittlerweile, denn das Einkaufszentrum und die sich entrollende Schnellstraßenbebauung sind erst der Anfang, ist es dafür zu spät. Einst muss diese ehemalige Firmenzentrale imposant gewesen sein. Nun erscheint sie als eine Sonderform von vielen, die auf dem gegenüber gelegenen Messegelände noch errichtet werden. Unter anderem ein Wohnturm der Lifestylemarke Porsche Design! Die vom Einkaufszentrum aus flankierende Bebauung der stadtauswärts führenden Straße besteht aus rhythmisch gesetzten Klötzen mit Balkonfronten und jeweils aufgesetzten Penthouses, wie sie insbesondere in der Berliner Innenstadt überall dort abgesetzt werden, wo noch eine rechtwinklige Lücke frei ist. Helle Fassaden, bronzefarbene Gitter und Fensterrahmen. An der Frankfurter Europa-Allee sind diese Häuser bereits, so schien es mir, in zwei unendlichen Reihen bis an den Horizont aufgestellt worden, sodass ich mir zwei stählerne Tiere vorstellen konnte, sehr groß und in der Art eines Imperial Walker, die hier Hand in Hand dem Straßenverlauf folgend in Richtung Offenbach unterwegs gewesen waren, um alle zwanzig Meter jeweils eines ihrer hausförmigen Eier zu legen. Vielleicht sind ja so oder so ähnlich die Fantasien eines Stadtplaners. Wobei das heute doch immer mehrere sind. Seltsam auch, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals jemanden zu kennen, der in solch einem Gebäude dann tatsächlich wohnt. Aus irgendeinem Grund kenne ich ausschließlich Menschen, egal wo, übrigens, die Wert darauf zu legen scheinen, in möglichst alten, also historischen Gebäuden zu wohnen. Auch in die Läden und Restaurants, für die in den hausförmigen Eiern die Gewerbeflächen im Erdgeschoss geplant wurden mit ihren großen Schaufenstern in bronzefarbenen Rahmen und den dunkel gebeizten Holzböden hinter drei Meter hohen Eingangstüren aus Glas mit vertikal angebrachtem stabförmigem Türgriff aus gebürsteter Bronze, gehen die Menschen, die ich kenne, nicht. Man geht, und das auf der ganzen Welt, hier oder anderswo lieber in Läden und Restaurants, die von der Bauweise und ihrer Einrichtung her wie die Wohnungen und Häuser sind, in denen man wohnt.

Unterbrochen oder rhythmisiert wird die Europa-Allee nach einem Kilometer durch ein Verschwinden der Straße im Untergrund. Darüber wölbt sich dann in Zukunft ein Park, an dem momentan noch gebaut wird. Noch ist alles planiert, man bekommt Märklingefühle angesichts der weiten, braunen Fläche aus Mutterboden, die sich zwischen den hellen Gebäudereihen weit aufzuspannen scheint wie eine tatsächliche Leinwand, in die man bald hier oder dort ein paar ausgesucht wenige und kugelrund gestutzte Robinien hineinstecken könnte. Oder eine lange Reihe von Platanen, um in dem Park eine Zone mit dem Gepräge mediterraner Gefilde zu schaffen. Ganz am Ende der braunen Ebene, die bald schon im Frühjahr dicht mit saftgrünen Halmen bestreut werden wird, türmt sich ein Kegel aus Erde auf bis in eine Höhe von etwa zehn Metern. Es gibt einen Aussichtssturm, von dessen Plattform im dritten Stockwerk aus kann man sehr gut sehen, wie sauber und geometrisch dieser Erdkegel dort aufgeschichtet wurde. So verstärkt sich noch einmal das Gefühl, dass es sich lediglich um eine momentane Abwesenheit eines riesenhaften Baumeisters handelt (der stählernen Tiere), der hier mit seinen Materialvorräten in rasendem Tempo eine Neustadt erschafft.

Am Fuße des Aussichtsturmes, in einem wetterfesten Kasten für Aushänge der Anwohner, gibt es ein von der Sonne ausgebleichtes Plakat, auf dem die Apfelweinkönigin des Gallusviertels sich präsentiert. Heckenröschen aus Kunstseide ranken mit zwei Magneten befestigt an dem Plakätchen empor. Die Farbigkeit der Fotografie wurde durch das Ausbleichen auf die Druckfarben Magenta und Cyan reduziert. Die Gesichtszüge der jungen Frau sind vage geworden. Sie hält einen winzigen Bembel in der rechten Hand. Der Name der Apfelweinkönigin lautet Janina die Erste.