VON BERLIN ÜBER HAMM NACH BAD GODESBERG UND ÜBER BONN UND KÖNIGSWINTER ZURÜCK

Freitags in der Frühe los in einem überraschend gut gefüllten Zug in Richtung Westen. Ich reiste mit dem Fotographen und im Grunde bedeuten solche Reisen im Gespann vor allem einen erhöhten Betreuungsaufwand, denn Fotographen sind ja, geradezu im Gegensatz zu Schreibenden nicht andauernd mit ihren Gedanken an die Arbeit beschäftigt; die entstehen bei ihnen situativ, also wenn sie auf der Suche nach Motiven sind. Und dann, im direkten Gegenüber branden sie auf. Während einer Fahrt dorthin aber haben sie sozusagen frei und können sich über alles mögliche Gedanken machen. Dass sie unterwegs aus dem Fenster schauen und ab und an etwas aufnehmen mit ihren Fotoapparaten, kommt anscheinend nicht in Frage. Vielleicht hat das mit ihrem professionellen Anspruch zu tun, weil sie halt besser einschätzen können, dass sich ein Schnappschuß nur selten rentiert. Vielleicht aber machen sie auch innerlich Aufnahmen, von denen ich dann nichts mitbekommen kann, weil der gehirnliche Auslöser nicht klickt. Ich bin schon mit verschiedenen Fotographen unterwegs gewesen und sie alle hatten unter anderem gemeinsam, dass die anfallsartig unter Appetit zu leiden hatten, der dann umgehend gestillt werden mußte, sonst bekamen sie schlechte Laune. So aß der Fotograph zuerst ein Hörnchen, dann ein mit Schinken und Käsecreme gefülltes Baguette, aber wie die kleine Raupe war er noch immer nicht zufrieden; seine Laune beschrieb er lakonisch als Melancholie.

Als das Zugfenster ihm Bilder aus seiner Geburtslandschaft zeigte, brachte das nur kurzfristig eine Aufhellung seiner Gemütslage, woraufhin er bald noch tiefer in seine beredte Schwermut versank. 

In Hamm wurde es kritisch. Da stieg unter Krakehlen eine Gruppe alternder Männer zu uns ins Großraumabteil und besetzte die verbliebenen Plätze. Es war erst halb zehn Uhr, aber die Männer waren schon ziemlich betrunken. Da sie in heftigem Dialekt ihren Frohsinn verbreiteten, sagte der Fotograph, dass er sich der Situation nicht mehr gewachsen fühlte. Es handelte sich nämlich, so erklärten mir das die Beschwipsten unter reichlichem Schultergeklopfe, um eine von ihnen sogenannte »Frühstücksrunde.« Aus zwei gewaltigen Kühlkoffern wurde gleich flaschenweise Weißwein ausgepackt, den sie aus ganz kleinen Gläsern, kaum größer als ausgeblasene Hühnereier, kippten. Von einem ins Gepäckfach geschobenen Rollkoffer baumelte eine erstaunlich leistungsfähige Boombox über unseren Köpfen herunter, die über Bluetooth mit einem der Mobiltelephone aus der Frühstücksrunde verbunden war. Die Musik, ich hielt es für einen Bootleg des Clan of Xymox rieb den Fotografen nur noch zusätzlich auf.

»Ist das Helene», rief er in die Runde, woraufhin der mindestens zweihundert Kilogramm schwere Truchsess der Truppe, den wir insgeheim das Monster nannten, mit der ihm eigenen Fröhlichkeit eine Bestätigung ausstellte, indem er mir durch bloßes Antippen das rechte Schlüsselbein zerbrach wie einen Zweig.

»Ich halte das nicht mehr aus«, sagte der Fotograf sotto voce. Die mittlerweile lautstark und aggressiv vorgetragenen Beschwerden der übrigen Passagiere perlten ebenfalls ab an der sauerländisch grundierten Trutzburg rheinischen Frohsinns. Der Beschwerdeführer, ein Hänfling mit Hornbrille und Undercut à la Joko Winterscheidt, drohte mit einem Hubschraubereinsatz der Bundespolizei. 

Ziemlich geschafft von dem psychischen Streß liefen wir um die Mittagsstunde im Bahnhof von Bonn-Bad Godesberg ein.

Dort schien freilich die Sonne.