15.11.

Wie immer wache ich auf, als es noch dunkel ist. Da draußen gibt es ein neues Geräusch,  wie das Piepen eines Autotürschlosses, das man mit der Fernbedienung bedient. Ein Vogel vielleicht. Es gibt diese umwerfende Arbeit von Kader Attia, Mimesis as Resistance. Sie besteht aus einen Ausschnitt aus einer Tierdokumentation über den Prachtleierschwanz, der mit seinem kleinen Schnabel Umgebungsgeräusche perfekt imitieren kann. Dringen Menschen in seinen kleiner werdenden Lebensraum ein, macht er Fotoauslöser-, Motorsägen- oder eben Autotürschlossverschließgeräusche. Issa hat von dem Bar-Restaurant erzählt, das Kader Attia in Paris betreibt, La Colonie, im Logo ist der Name durchgestrichen. Ein Ort gegen alles, was falsch läuft in der Welt. Ich glaube, ich würde Kader Attia gern mal kennenlernen. 

Ich gehe von meinem Häuschen hinüber zur Küchenterrasse. Vor dem Karton, in den wir unsere Abfälle werfen, liegt die zerfetzte Plastiktüte, in der die Schafsfleischwürstchen waren, die wir zum Abendessen hatten. Der Beutel mit den Baguettes von gestern ist offen, der Inhalt dezimiert und vertrocknet, unterm Tisch liegen Krümel. Die mageren Katzen, die immer mit vor Schreck geweiteten Augen vor mir wegjagen, können das nicht gewesen sein, ebenso wenig die Hunde, die Ziegen, die Hühner oder irgendwelche anderen schlauen Vögel. Jeannette ist überzeugt, dass es hier Affen gibt, nur haben wir sie noch nie gesehen. 

Der Lehrerin der ganz Kleinen, Edwige, die alle nur die Katholikin nennen, hat mich in ihren Unterricht eingeladen. Sie hat bemerkt, wie ich sie und ihre Klasse aus der Ferne beobachtete, beim morgendlichen Durchzählen und Ins-Klassenzimmer-Laufen. Als ich mir am Abend zum wiederholten Mal das Flagge-Einholen ansah, weil ich nicht genug bekommen kann von singenden Kindern, sagte sie: »Komm doch mal vorbei. Wir fangen um 7.30 Uhr an.«

Also stehe ich am nächsten Tag vor dem Häuschen. Die Kinder, es sind zwanzig Fünf- bis Siebenjährige, drei von ihnen fegen den Klassenraum mit Reisigbesen, wie jeden Morgen, sind erst schüchtern (außer Aziz in seinem Angry-Birds-Sweater, er tanzt lachend vor mir herum, bis ich und ein paar andere mitwackeln), aber als ich sage, ich würde gern ein Foto von ihnen machen, rasten sie regelrecht aus und drängeln sich kreischend aufs Bild. Noch lustiger wird es, als ich ihnen das Bild zeige. Dann kommt Edwige auf ihrem Moped angefahren, in einem leuchtend pinken Wollpullover und einem Wickelrock, und sofort zieht Disziplin ein. Sie gilt als die netteste der Lehrerinnen und Lehrer hier. Sie gibt mir einen Platz auf einer der hintersten Bänke und nach ein paar Minuten Unterricht, die Ruhe nur gestört von ein paar krächzenden Hustern und dem Kratzen der kleinen Plastikbadelatschen auf dem Boden, dreht sich dann kaum noch jemand nach mir um. Die erste Lektion heute ist Lesen und Aussprache. Die Schüler sprechen zu Hause Moré, Französisch lernen sie erst hier. An der Tafel steht eine lange Reihe von Buchstaben, die von jedem Kind (mit Ausnahme des Sohnes der Operndorf-Krankenschwester, der Trisomie hat, und einem zu kleinen Jungen) der Reihe nach mit dem Zeigestock an der Tafel stehend vorgelesen werden: 

e e e e  e e e e

è è è è  è è è è

ê ê ê ê  ê ê ê ê

é e é é  é é é é

Schon das ist ein Psychogramm des jeweiligen Kindes, denke ich beim leise Mitmurmeln. Wie fest die Stimme ist, wie genau die Aussprache, wie schnell, wie hastig das Lesen, wie laut die anderen dazwischenquaken, wenn ein Fehler passiert. La Maîtresse Edwige sagt nach jedem Mal entweder: »Das war gut«, »Das war ziemlich gut« oder »Das war sehr gut. Applaudieren wir ihr!« und dann wird geklatscht.

Als die erste Stunde vorbei ist und alle zum Trinken an den Brunnen oder zum Pinkeln laufen, steige ich wieder die Treppe zur Küche hinauf. Als ich in mein trockenes Baguette beißen will, und in die Ferne in die Landschaft rausschaue, blinkt auf einmal der Himmel. Wie eine Diskolampe ist er in einem Moment bläulich, dann wieder gelb. Ich frage Jeannette, ob sie LSD ins Kaffeewasser gemischt hat, aber sie verneint das. Wir gehen kurz alle möglichen Krankheiten durch, aber ich habe alle Impfungen brav absolviert, Malaria fühlt sich anders an. Issa sagt, das sei die Überanstrengung, worauf ich lache und sage, dass ich hier ja nichts täte außer schauen und schreiben. Er erinnert mich an seine Krankheit, er war erschöpft vom Filmen und Schneiden und hatte über Tage zu wenig getrunken und gegessen. »Und dann kamen nacheinander alle im Operndorf zum Krankenbesuch vorbei, besonders häufig waren die Lehrerinnen an deinem Bett«, sagt Jeannette und zwinkert. Issa schaut unverständig. Das sei ganz normal. Wenn jemand krank sei, kämen in Afrika alle zu Besuch und erkundigten sich nach dem  Wohlergehen der oder des Kranken. »Auch bei ansteckenden Krankheiten?«, will ich wissen. »Auch dann.« Ich entscheide, dass ich an kalorischer Unterversorgung leide und lege mir extraviel Käse aufs Brot. Aber es ist nunmal schwer, gut und viel zu essen, wenn man weiß, dass viele um einen herum das nicht können. 

Nach dem Mittagessen sagt man in Burkina übrigens »Bonsoir«, also gern ab halb zwei Uhr. Das dehnbare Konzept von Zeit: unendlich interessant.