19.11.

Der Tag hier hat verlässlich zwölf helle Stunden, für mich meist noch ein paar dunkle mehr, weil ich einfach nicht länger als 4.30 Uhr schlafen kann. Aber trotzdem komme ich gerade so dazu, die allerwichtigsten Dinge zu erledigen: den Sonnenaufgang würdigen, die drei T-Shirts im Waschbecken waschen, die ich im Wechsel anziehe (das Trocknen dauert eine Stunde, waschen geht also immer). 97 Mails löschen, drei beantworten (wenn Netz da ist) oder die Beantwortung zumindest in Erwägung ziehen (drei der wichtigeren Tasten meines Rechners sind kaputt gegangen, wahrscheinlich durch den Saharastaub. Ich muss das Eszett, das Fragezeichen und das Umlaut-U per copy/paste schreiben, sonst ergibt nichts mehr Sinn. Oder soll ich etwa alle Fragezeichen durch Ausrufezeichen ersetzen! Das sieht doch nicht aus, das ruiniert mir doch den Ruf), ein paar Notizen machen, was Kleines schreiben, den Sonnenuntergang würdigen. Der Rest des Tages geht mit dem Planen, Einkaufen, Kochen und Verzehren von Mahlzeiten drauf. Und während man das alles erledigt, passieren die ganzen unvorhergesehenen Dinge. 

Zum Beispiel: Ich sitze am Tisch, die Sonne wärmt langsam, und versuche, eine Mail zu schicken, bevor das Internet um 7.30  Uhr nicht mehr geht. Da kommt Abdoulaye die Treppe hinauf, in Begleitung einer jungen Frau mit Hijab. Er stellt uns vor, sie ist sehr schüchtern, er übersetzt mein Französisch in Moré. Ich verstehe nur überhaupt nicht, warum er die Dame hinaufgeführt hat und was ich für sie tun kann. Es geht hin und her, er versucht es noch mal zu erklären, gibt schließlich auf. Ich hole Denise aus der Kantine, sie soll übersetzen. Was ich meine, verstanden zu haben: Die Frau kam auf dem Weg aus einem anderen Ort in den nächsten im Operndorf vorbei oder zu Besuch. Und weil man aber nicht einfach durch einen Ort geht oder fährt, ohne sich vorzustellen (man dringt bei uns ja auch nicht in eine Wohnung ein, ohne Hallo zu sagen), aber noch niemand von der Schulverwaltung da war und Jeannette, die älter ist und damit mehr Autorität hat, noch schlief, wandte sich Abdoulaye an mich als die Verantwortliche. 

Neulich auch morgens kam ein alter Mann mit weißer Häkelmütze vorbei, den ich am Vortag beim Baguetteholen kennengelernt hatte. Also: Ich sagte Bonjour, er fragte, wie es gehe, wir schüttelten Hände, dann hielten wir Hände, bis die Unterhaltung vorbei war und währenddessen  hatte ich ihn ganz offenbar eingeladen, bei uns vorbeizuschauen oder er sich selbst, wer weiß das hinterher schon so genau. Er stand also in der Küche, ich hatte noch nicht gefrühstückt, weil das Internet so gut war, ich war unterzuckert und schon ganz fahrig, und sah mich leider außerstande, ihm eine halbstündige Tour durchs Dorf zu geben, wie das sonst für Spontanbesucher gemacht wird, die hier verlässlich auftauchen. Mein schlechtes Gewissen plagt mich jetzt noch. Der weite Weg, der arme Mann.

Oder: Wir sind in Ziniaré, Eier kaufen oder so. Jeannette möchte noch bei einer – nein: der Wäscherei vorbeifahren. Da steht eine stolze Frontlader-Waschmachine sehr prominent im Laden, ziemlich sicher die einzige von hier bis Ouaga. Jeannette gibt etwas ehemals Weißes zum Waschen und Bügeln ab, fragt bei der Gelegenheit nach einer Schneiderei. Gleich nebenan ist eine, aber die Frau dort kann nur Tops und Röcke, nicht aber Hosen. Das Mädchen von der Wäscherei, Elisabeth, steigt mit uns ins Auto und zeigt uns, wo der Schneider seinen Laden hat, der Hosen nähen kann (am Karitébaum nämlich. C. fragte neulich, wie meine Adresse lautete, er wolle mir was schicken. Ich schrieb: »Ganz komplizierte Frage, praktisch nicht zu beantworten – zumal ich nur noch anderthalb Monate in Afrika sein werde.« Orte werden anhand von Gebäuden, Märkten oder eben Bäumen beschrieben: »Gelegen an der großen Moschee gegenüber des Supermarktes«, »Am großen Markt unter der Treppe der UBA-Bank«. Post transportiert man am besten per Buschtaxi oder Moped und per mündlicher Absprache. Der Empfänger oder ein Abgesandter wartet an einem Haltepunkt und nimmt das Dokument oder die Fracht in Empfang. Ich frage mich: Wie haben das die Leute vor der Erfindung von Handys gemacht). Der Schneider jedenfalls kann uns beiden aus unerfindlichen Gründen nicht in die Augen schauen, aber er kann sehr gut nähen, davon kann man sich mit einem Blick in die Fotoalben auf dem kleinen Tischchen überzeugen. Dort, eines der Cover zeigt Rihanna ca. 2006, hat er entwickelte Bilder seiner Kreationen einsortiert, die Köpfe der Models sorgsam abgeschnitten oder -geklebt. Ich entdecke ein buntes Ensemble aus Kaftan und Hose, dessen Schnitt mir gefällt. Ich frage, wo ich Stoff herbekommen kann, der Schneider deutet nach nebenan. Da ist ein Stand mit einfarbigen Wollstoffen. Ich kaufe drei Meter von dem schweren, schwarzen Tuch, zahle (ohne das eigentlich obligatorische Handeln) sehr wenig Geld, aber immer noch mehr, als ich für die Näharbeiten bezahlen werde, bringe den Stoff zum Schneider, der vermisst mich, ich sage, was mir wichtig wäre, zwei Tage später bin ich, ich wollte eigentlich nur Eier kaufen, Besitzerin eines mit antiker Singer-Maschine genähten Gewands, dessen Stil F., nachdem ich ihm ein Bild geschickt habe, mit »African Goth« treffend beschreibt. 

Oder: Ich setze mich kurz auf die Treppe, bevor ich anfangen will zu arbeiten. Gerade ist große Pause, in der die Kinder zu Mittag essen und spielen. Denise kommt aus der Kantine, ruft »La Anne!« sie setzt sich neben mich und fängt an, mit ihren Fingern meine vor Trockenheit schnittlauchigen Haare zu kämmen - gleichzeitig eine mütterliche und neugierige Geste. Wir sprechen über den Zustand von Nafissa, die Malaria hat, aber auf dem Weg der Besserung ist. Sie haben ihr Paracetamol gegeben, die Standardbehandlung, Montag sei sie wieder in der Schule. Edwige kommt dazu. Wir sprechen über dieses Gewürz, das ich einer zahnlosen Frau auf dem Markt abgekauft habe, das aussieht wie zu Bällen geformte Ziegenköttel und so ähnlich riecht, am Ende lädt Denise uns für einen der kommenden Abende zum Essen in ihr Zuhause im nächsten Dorf ein. Als geklärt ist, wie wir dahin kommen (»Wir laufen, es ist nicht weit« – ein Satz, der vielleicht mit Vorsicht genossen werden sollte), fragt Edwige, wann ich mal wieder in den Unterricht käme, die Kinder hätten nach mir gefragt.

Ich mache also zwei Stunden Lala-, Lolo- und Lalé-Schreiben auf den kleinen Kreidetäfelchen mit (einer der Kleinsten bemalt mit der weißen Kreide lieber seine nackten Beine, unbemerkt von der Lehrerin, das sieht zugegeben auch sehr viel schöner aus), schaue mir die Zeichnungen von Mangos, Bananen und Plastikeimern an, die Edwige mit Punkten von 1 bis 10 bewertet hat (ich muss dabei an die Bienchenstempel im sogenannten Muttiheft meiner Post-DDR-Grundschule denken), und versuche mir dabei die jeweils vorn ins Heft geschriebenen Namen zu merken: Aboubacar, Casimir, Sosthène, Moussa Joachim Olivier, Guémilatou, Epiphanie, Aminata, Mariata, Sidiki. Als die Schule aus ist, nimmt mich Edwige auf ihrem Moped mit zum Gebet in einer Ecke des Kirchenhofs, fünfzig Leute auf gemauerten Sitzreihen im Schein von Neonlicht, die zu behutsamen Trommelklängen mit Kopfstimme Lieder für Maria singen, manche auf Knien, die Kinder haben ihre eigenen Reihen und Zeilen und klatschen Triolen auf jeden Schlag der Erwachsenen. Ich habe ihr erzählt, ich sei Protestantin, deshalb müsse sie mir alles zeigen. Ich hab es nicht übers Herz gebracht, ihr die schreckliche Nachricht von meiner Gottlosigkeit zu überbringen. Außerdem habe ich ein bisschen Angst, dass sie mich dann missionieren wollen könnte. Sie stellt mir dem Pfarrer vor, abgesehen vom Mossi-König und den Chiefs der erste dicke Mann seit Wochen. Edwige stellt mich als deutsche Protestantin vor, er sagt: »Ach, ist doch alles das Gleiche!« und erzählt von seinen zwei Jahren Deutschunterricht. Auf dem Rückweg fahren wir noch bei ihrer Tante vorbei, der Edwige eine Anderthalbliterflasche Dolo bringt, selbstgebrautes Hirsebier. Zum Abschied kauft mir die Katholikin, ich kann nicht schnell genug protestieren, eine Wassermelone und acht Eier. 

Oder: Ich will den Ausflug in den Südosten nach Tiebelé machen, von dem ich seit Tagen spreche. Ich packe ein paar Sachen zusammen, organisiere ein Busticket für die vier Stunden Fahrt und eine Übernachtung in einer traditionellen Rundhütte mit der Option, auf dem Dach zu schlafen, Jeannette fährt mich am frühen Morgen nach Ouaga, verschiedenes Nervenaufreibendes passiert, ich entscheide, dass es den Aufwand nicht wert ist – was ist schon ein königlicher Hof mit 450 Bewohnern. Am Ende sind wir zum späten Mittagessen zurück im Dorf, komplett erschöpft, erhitzt und ausgetrocknet. Um mich endlich aus dem Nest zu schubsen, buche ich ein Zimmer im größten Nationalpark Ghanas, der mit den Elefanten und Leoparden. Ich habe jetzt noch genau sechs Tage, um ihn zu erreichen.  

Zwischendrin rasen pro Minute drei Dutzend Bilder vorbei: In der Toilettenkabine des Herrenmenschensupermarktes, wo es sogar Klopapier gibt, klebt ein Schild: »PISSEZ A L’INTERIEUR SVP«, ich finde die Aussage (Bitte drinnen pissen! Wo denn sonst, vor die Tür?) verwirrend, aber die Kombination von »PISSEN« und »Wären Sie so freundlich« schön. Ein Mann auf dem Moped, der zwischen seinen Beinen und halb auf seinem Schoß drei ausgewachsene Schweine transportiert, das Blut rinnt ihnen aus den offenen Schnauzen. Die Decke auf dem Markt, auf der ein sehr alter, klappriger Mann mit einem dieser spitz zulaufenden Strohhüte auf dem Kopf seinen Zauberbedarf ausgebreitet hat: Affenköpfe, getrocknete Chamäleons, Pfoten, von denen ich hoffe, dass sie nicht Leoparden gehörten. Fotografieren ist strengstens verboten, wegen der Magie. (Als ich neulich die Henne mit ihren neun frisch geschlüpften Küken fotografierte, wies mich die Besitzerin darauf hin, dass ich vorher hätte fragen sollen. Niemals die Beseeltheit der Lebewesen und Dinge vergessen.) Auf der Straße nach Ouaga steht auf einmal einer dieser schönen blauen Vögel mit dem weißen Schweif mitten auf der Fahrbahn, wir rasen im Pick-up auf ihn zu, er dreht sein Köpfchen, schaut uns mit seinen Knopfaugen an, ich schreie, aber er fliegt nicht weg, als ich mich umdrehe, stieben Federn auf, das Köpfchen ist abgerissen. Eindeutig Selbstmord. Oder das Vögelchen war sehr verträumt. 

Auf dem Markt in Ouaga, wo sie das Gemüse so schön aufstapeln und wir vor lauter Freude über Blumenkohl, Radieschen und Sellerie viel mehr kaufen, als wir essen können (also Jeannette kauft. Ich sage zu den sich um uns drängenden Händlerinnen immer nur: »Maman macht das, ich stehe hier nur«, sie lassen dann schnell von mir ab). Eine im Schatten vor ihrer Auslage sitzende Frauengruppe mit schönen, bunten Kleidern und aufwendigen Frisuren ruft mich zu sich, sie hätten ein Geschenk. Die in der Mitte hält mir ihr Baby hin, vielleicht fünf Monate alt. Der Junge hat ganz helle und glatte Haut, wie eine frisch aus der Schale gefallene Kastanie (»Er war noch nicht mal oxydiert«, sage ich später zu Jeannette, das Kind möge mir verzeihen), und ist klein genug, um keine Angst vor mir zu haben. Er sitzt auf meinem Arm, sieht mich unverwandt an und zieht ein bisschen an meinen Haaren. »Nimm ihn mit nach Deutschland, ich brauche ihn nicht«, sagt die Mutter und lächelt nicht dabei. 

»Das ist doch nicht normal«, hat Issa bei all solchen Gelegenheiten immer gesagt. »Ich glaube, hier schon«, habe ich geantwortet.