»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

15.2.

Das Licht ist grau. In Cagnes war es blau. Das scheint der wesentlichste Unterschied, er ist bekannt. Wenn man dann allerdings, wie ich konkret, von allein darauf kommt; also aus dem Fenster schaut und denkt: »Oh: grau, nicht mehr blau«, wirkt das allem Wissen zum Trotz noch einmal anders. Ich bin um kurz vor fünf aufgewacht, wahrscheinlich ein emotionaler Jetlag. Es gibt ja viele, die behaupten, dass die Seele bei Flugreisen nicht hinterherkommt und man von daher in einem Zombiezustand heimkehrt. Ich weiß, dass das nicht sein kann.

Allerdings kann ich mir aber auch gut vorstellen, wie man auf diese Fantasie kommen kann. Gestern, als ich flog, musste ich andauernd auf das Namensschild einer Stewardess starren, die sich extrem oft mit den Passagieren in der Reihe vor mir beschäftigen musste. Auf diesem Namensschild stand in schwarz auf orange der name BARBORA. Und mir war, als ob dieses O mich verschlucken wollte. Später, nachdem BarbOra den Passagieren vor mir zwei silberne Konservendosen von Jean Paul Gaultier verkauft hatte, kaum sie, freilich noch immer dieses Namensschild tragend, über den Mittelgang direkt auf mich zu, einen orangefarbenen Plastiksack in den Händen, den sie einen gleichformatigen in grün übergestülpt hatte. Den Rand mehrfach nach der Methode Rollkragen umgeschlagen, war so ein orangefarbener O-Schlund eines grünen Gurkenwesens entstanden, den sie – ihre Hände steckten in blauen Plastikhandschuhen aus demselben Material – auffordernd hinhielt.

Mir fiel naturgemäß Bob ein, der mit seinem Bruder Mike über dem Gemischtwarenladen wohnt und dieses Schreckensgedicht rezitiert, in dem es heißt: »Ich fang‘ dich mit der Töte-Tüte/Du glaubst ich bin verrückt«.

Nach der Landung fuhr das Flugzeug scheinbar ziellos durch die DDR.

Man müsste diesen Flughafen unbedingt erhalten. Mittlerweile gibt es wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt noch einen Flughafen, der so gestaltet ist wie Schönefeld. Nur hier darf man noch einfach über das Rollfeld nach Hause gehen. Es gibt lange, provisorisch überdachte Gänge mit viel Neon. Ich mag diese subtropisch angehauchte Patio- und Pavillon-Ästhetik. Wobei es vor meinem Abflug in Nizza auch ziemlich subtropisch zuging, als beim Warten auf den Bus zum EasyJet-Terminal plötzlich rot uniformierte Jungs auftauchten, von denen ich einen hundertprozentig als Bademeister von Cagnes-sur-Mer identifizieren konnte. Gut, aber in der Nebensaison arbeitet er wohl als – tja: Das blieb fraglich, jedenfalls wurde ein recht großes Areal zwischen vier Palmen mit Absperrband abgeriegelt, dann fuhr ein Jeep der Streitkräfte vor, dem sechs Soldaten (zwei weiblichen Geschlechts, vier männlichen) entstiegen. Alle mit diesen geilen Kevlarwesten, die hier in Frankreich zusätzlich mit Camouflagestoff überzogen sind, dazu das neueste Sturmgewehr, das diesen Giga-Bügel obendran hat. Die Frauen beide mit etwa dreißig Zentimeter langen Pferdeschwänzen unter dem Baret, das ist hier momentan der dernier cri unter Soldatinnen. Die Bewaffneten stellten sich jetzt an den Eckpunkten des abgesperrten Areals auf, während die Beach Boys der wartenden Menge versicherten, es würde alles in zehn Minuten vorüber sein. Es betrat dann ein schwarz uniformierter ohne Kevlar-Weste, aber mit Oakley-Brille, das Areal, um aus einem dort abgestellten Reisebus einen Koffer zu entnehmen, den vor die Garagentür der in die Rückwand des Areals eingebauten Gendarmerie zu tragen, den Koffer mit einem Werkzeug zu öffnen und sämtlichen  Inhalt erst gegen das Licht zu halten und dann sorgfältig auf dem Asphalt aufzureihen wie eine sogenannte Strecke nach der Hasenjagd. Besonders lange betrachtete und knetete er einen ziemlich großen Bären aus schwarzem Material. Währenddessen löste die attraktivere der beiden Soldatinnen den Diebstahlalarm an dem Militärfahrzeug aus, der – im Krieg geht’s laut zu – seinerseits verdammt laut war. Also in etwa doppelt so laut wie your generic BMW. Das wurde dann recht lustig, weil sie leider nicht wusste, wie man den wieder abstellt, ihre Kollegen aber auch nicht. Ja, es schien so, als ob keiner von ihnen überhaupt gewusst hatte, dass ihr Fahrzeug eine Alarmanlage eingebaut hatte. Ist ja auch eine merkwürdige Idee – wer klaut denn dem Feind das Auto mitten im Gefecht?

Gut, der Rest ist schnell erzählt: Der Schwarzgekleidete mit der Oakley-Brille gab Entwarnung, die Soldaten bestiegen ihren Jeep, die Beach Boys schnitten das Absperrband von den Stämmen der Palmen und halfen dann dem schwarz Uniformierten, den vollkommen ramponierten Koffer mit den Resten des Absperrbandes einigermaßen zu verschnüren, der Bus zum Terminal 2 fuhr vor, ich flog nach Berlin.

Kurz nach der Landung in der nebligen und eiskalten DDR erhielt ich eine Nachricht der Muse. Meine Seele reist halt Überschall.

14.2.

Gleich fliegt das Flugzeug. Und ich zitiere jetzt absichtlich nicht John Denver.

Bald auf jeden Fall.

Ich habe es nicht gesteuert, aber heute früh war ich dann tatsächlich auf der letzten Seite von Sodom et Gomorrhe angelangt. Den Band lasse ich hier. Es ist die ungekürzte Taschenbuchausgabe, Band 102 der Folio-Reihe bei Gallimard aus dem Jahr 1983. Extrem schönes Titelbild.

Zum Abschluss richtet er das Wort an seine geliebte Mutter:

Je sais la peine que je vais te faire. D’abord, au lieu des rester ici comme tu le voulais, je vais partir en même temps que toi. Mais cela n’est encore rien. Je me porte mal ici, j’aime mieux rentrer. Mais écoute-moi, n’aie pas trop de chagrin. Voici. Je me suis trompé, je t’ai trompée de bonne fois hier, j’ai réfléchi toute la nuit. Il faut absolument, et décidons-le tout de suite, parce que je me rends bien compte maintenant, parce que je ne changerai plus, et que je ne pourrais pas vivre sans cela, il faut absolument que j’épouse Albertine.

13.2.

Gestern hat es den ganzen Nachmittag hindurch geregnet und heute liegt auf dem Table de Diable etwas Schnee.

*

Ich frage mich, ob das Inkubieren etwas gebracht hat. Also in dem von Zange und Würfel intendierten Sinn.

Ich hatte ja, in den knapp zehn Tagen, die nun beinahe vergangen sind, lediglich Menschen getroffen, die n o c h älter waren als ich selbst. Der Radiosender, der im Grimaldi läuft, wenn dort was läuft, heißt »Radio Nostalgie« – das ist mir dramatischerweise aber auch erst kurz vor dem Ablauf meiner Zeit hier aufgegangen, als ich gestern, weil What A Feeling von Irene Cara kam, aus der Versunkenheit in meine Proust-Lektüre (!!!) aufhorchte, um dann auf den verklingenden Takten des schönen Liedes die cremige Stimme des Ansagers quasi noch mitzunehmen: »Vous écoutez Radio Nostalgie«.

Wobei: Immer wenn Irene Cara kam, und das war echt oft in den letzten zehn Tagen – also viel öfter noch als Say You Say Me vom Unaussprechlichen beispielsweise –, wobei ich zweimal die Stunde What A Feeling persönlich nicht zu massiv programmiert finde, weil mir als einem Zeitgenossen dadurch der schöne Videoclip ins Gedächtnis gerufen wird, in dem Jennifer Beals zuerst mit einem Overall bekleidet an Autowracks herumschweißt, um sich dann diesen Overall vom Leib zu reißen, woraufhin sie mit nichts mehr als diesen Strickstulpen angetan, an ihrem Arbeitsplatz zu »What A Feeling« tanzt. Und das finde ich sowohl vom Look, als auch vom Feel her kein bisschen nostalgisch.

Im Internet las ich von einem elfminütigen Clip zum neuen Stück von Lana del Rey, das aber gar nicht lang genug ist, um elf Minuten lang gespielt zu werden, weshalb es dann mit Clair de Lune ergänzt wurde. Die Leitung war zu schwach, ich konnte mir das Video nicht ansehen, aber was ich an Standbildern gesehen habe, sah schön aus.

Dann gab es noch den Sensationsfund eines verlorengegangenen Kapitels der Häschenschule: »Die Häschenschule macht Ferien« (lag angeblich sechzig Jahre vergessen in einer – klar: Schublade), sowie die Nachricht, dass es in Schottland gelungen sein soll, einen Hasen zu züchten »the size of a terrier. He already loves to cuddle and nibble but still has a lot of growing to do.«

Well – möglicherweise sind meine Interessensgebiete einfach off, und es liegt gar nicht an meinem Alter?

BADAOU FAÏ TOUN CAMIN

QUE L’OURO PASSO

steht hier unter einer Sonnenuhr. Badaou, so wurde das Wasser genannt (think Badoit), übersetzen lässt sich der Spruch mit: Das Wasser schlägt seine Wellen, die Zeit deine Stunden.

Das Notizbuch, das ich vor meiner Abreise gekauft hatte, ist jedenfalls voll.

12.2.

Unbändige Lust auf Kartoffelpüree. Zum letzten Mal hatte ich die in Peru und dort in den Anden bei Cusco auf etwas über 5000 Metern.

Der Himmel war von einem Blau, wie ich das bis dahin nur aus dem Fenster einer Concorde gesehen hatte, wahrscheinlich weil dort über den Anden bereits die Stratosphäre durchdrückt. Der felsige Grund war von einer Art von Flechten bedeckt, die winzige butterblumengelbe Blüten austrieb. Ich bückte mich, um eine Probe davon zwischen den Fingerspitzen zu zerreiben. Dies also war das Kraut, von dem sich die Vicunja ausschließlich ernährten, denn ansonsten gedieh dort oben ja nichts. Ob aber die monothematische Ernährung bewirkte, dass diesen bezaubernden Tieren mit den längsten Wimpern des mir bekannten Tierreiches, derentwegen auch mit dem seelenvollsten Blick ausgestattet, das weichste Fell auf unserem Planeten wächst? Immerhin wirkte der Duft, der diesen gelben Mikroblüten entströmte, auf geradezu ungeheuerliche Weise appetitanregend. Und zwar, wie gesagt: konkret auf Kartoffelpüree. Denn er schien gemischt aus den Noten von Honig und Rosmarin, und wie bei Journalisten, die Interviews zwanghaft mit einer Trias anpreisen (»spricht über drei, zwei und seine unbändige Lust auf eins«), so verlangt mein Riechempfinden stets nach einer dritten Note – das geht aber auch ziemlich vielen anderen so, wie es scheint. Denn ansonsten wäre das Parfum Molecule 01 nicht zu einem derart hammermäßigen Megaerfolg geworden. Da Geza Schöns Formel für Molecule 01 bekanntlich aus nur einem einzigen Duftstoff, jenem synthetischen, dabei dem Zedernholz ähnlichen, mit dem geilen Namen Iso E SUPER besteht. Und sein daraus bestehendes Parfum wiederum macht jeden, wirklich jeden, dem es in die Nase steigt, selbst diejenigen, die es selbst tragen übrigens, vollkommen wahnsinnig vor lauter nach triadischer Befriedigung lechzender Schnupperlust. Vom Prinzip her handelt es sich um olfaktorisches MDMA. Vor allem deswegen, da das vergleichsweise große Molekül des Iso E SUPER einem menschlichen Pheromon zum Verwechseln ähnlich konstruiert ist und eine dazugehörige Assoziationskette in der sinnlichen Wahrnehmung genetisch in uns angelegt scheint (grob gesagt, signalisiert dieses Pheromon beim sogenannten Beschnuppern: »Kein direkter Blutsverwandter, Fortpflanzung also nicht nur möglich, sondern erwünscht und zwar: JETZT!!!«). Infolgedessen riecht man also Molecule 01, beziehungsweise Iso E SUPER und ergänzt den Monoriechstoff aufgrund dieser genetisch programmierten Assoziationskette mit den beiden zu einem Dreiklang nötigen Eigendüften von Frau und Mann; oder von Frau und Frau; oder von Mann und Mann; und einer von beiden ist man dann zwangsläufig selbst.

Ähnlich ging es mir in den Anden mit dem Duft der peruanischen Goldknöpfchen, gemischt aus Rosmarin und Honig und der von mir darin vermissten Note Kartoffelpüree. Also zurrte ich meine Botanisiertrommel fest und machte mich auf in die Verpflegungshütte. Die Inka-Nachfahren hatten sich bereits für die anstehende Treibjagd auf die Vikunja verkleidet. Es ist ja ein heiliges Tier und zu seinen Ehren verkleiden sich die Treiber als Götter. Deshalb wird auf die Tiere auch nicht geschossen, sondern sie werden von den Göttern mit lauter Musik aus überdimensionierten Schlagzittern, die auf den Schultern getragen werden, in Reusen aus weichen Zäunen getrieben, wo man sie niederringt, um ihnen eine Schicht des sie wärmenden Fells abzunehmen. Hinterher sehen sie dann leider aus wie mit Manchester Cord überzogen, also eher unschön, aber: was soll’s. Diese Schur kann nur alle anderthalb Jahre durchgeführt werden, andernfalls erfrören die Tiere im beinahe schon kosmischen Klima der Andengipfel. Ein Nachzüchten der Vikunja oder eine Haltung auf Farmen ist nicht möglich. Nur das Wildtier erzeugt die kostbaren Fasern. Eine Strickjacke aus Vikunja kostet dann eben auch 7000 Euro, wohingegen Kaschmir  – aber lassen wir das.

Im Verpflegungszelt gab es kein Kartoffelpüree. Überhaupt keine Kartoffelprodukte. Hier oben wuchs ja wie gesagt nichts, außer den Flechten, die mir die unbändige Lust auf Kartoffelpüree überhaupt erst gemacht hatten. Da alles außer den Flechten unter Strapazen auf den Gipfel getragen werden musste, und ein Sack Kartoffeln wiegt unziemlich viel, ernährte man sich vorwiegend von Fleisch.

Man hatte mir ein Gulasch angeboten. Ich fragte: »Aus was?«, schließlich hatte ich im Tal auch schon gegrillte Meerschweinchen bekommen, wollte aber auf gar keinen Fall etwas vom heiligen Tier.

Der Indio sagte: »Alpaka.«

Als Beilage gab es Popcorn.

Abends, im Basislager, einer extrem hübsch gelegenen Hacienda auf 2800 Metern, in deren Garten das Skelett eines Blauwals herumlag (von wegen der Meeresspiegel steigt und steigt – er sinkt auch wieder alle paar Jahrmillionen), saß ich mit einem britischen Kollegen vor dem Kaminfeuer und wir unterhielten uns über die Scheidung von Madonna und Guy Ritchie, aber das allein aus dem Grund, weil er nebenher als Anwalt arbeitete und Guy Ritchies Seite vertrat. Den Bericht über die Vikunja-Ernte recherchierte er im Auftrag eines Radiosenders, von daher hatten wir beide jetzt keine Lust, über die Brotarbeit zu reden, und er referierte deswegen so ausführlich wie unterhaltsam über die seltsamsten Eigenheiten der Ex-Ehefrau in spe, insbesondere über Madonnas in Körperbutter einbalsamiertes Schlafen in einem Schlafsack aus transparentem Plastik, den ihr Noch-Ehemann Guy Ritchie allabendlich mit einem Reißverschluß zu versiegeln hatte wie einen Body Bag. Einer von insgesamt 58 aktenkundig gewordenen Scheidungsgründen. Allesamt lauteten sie wohl auf seelische Grausamkeit gegenüber Guy Ritchie –, als mir wirklich klar wurde, das mir das Alpaka-Gulasch auf ungute Weise im Magen lag. Möglicherweise lag es auch am zweimal innerhalb eines Tages überwundenen Höhenunterschied. Oder an den Nebenwirkungen der Dynamoxtabletten. Jedenfalls brachen wir auf zur Bar. Wir hatten es ja nicht weit. Von unserem Sofa vor dem Kamin aus brauchte es circa zwanzig Schritte.

Der Keeper dort hatte ausschließlich Pisco im Angebot, den ortsansässigen Schnaps aus Kakteen, der jedoch so ganz anders schmeckte als der Meskal in Mexiko. Sämtliche Sorten wurde in der Kelter der Hacienda hergestellt, deren Mauern vielleicht auch aus diesem Grunde von in Teppichen eingewickelten Hutträgern mit Schrotflinten bewacht wurden. Ein Glasballon enthielt Pisco in den Zitronenscheiben eingelegt waren. In einem anderen befand sich eine rostrote Flüssigkeit. Dann einer mit Klarem.

– Und der hier, fragte mein Bekannter und deutete auf eine giftgrüne Variante des Schnapses.

– Coca Leaf, sagte der Barkeeper.

Ich machte das Victory-Zeichen.

Vor dem Kaminfeuer prosteten wir uns zu und schlürften die Flüssigkeit, die leicht faulig, so wie Darjeeling und Herbstlaub riechen, schmeckte und darunter noch so, wie das Haarwasser meines Großvaters.

– Hmm, machte mein Begleiter.

– Ja, sagte ich. Und wir schauten danach noch sehr lange und schweigend dem Kaminfeuer zu.

11.2.

Auf einem der Lieder, die du mir geschickt hattest, setzt die Tonspur zweimal aus. Wahrscheinlich hast du am Kabel rumgemacht oder E-Mails gecheckt, auf jeden Fall höre ich dies Stück andauernd, denn diese Aussetzer: die sind für mich du.

Der Sonnenaufgang verlief heute morgen exakt so, wie ich ihn vor vier Jahren bereits beschrieben hatte. Leider.

Auf dem Weg nach Nizza, ein Spaziergang entlang der Küste von nicht einmal eineinhalb Stunden, entdeckte ich, dabei steil abwärts voranschreitend, dass seit diesem Morgen La Péiade zu verkaufen stand. Derzeit sind hier viele Häuser zu haben, allein in meiner Straße sind es drei, und diese Straße ist nun wirklich nicht lang, aber La Péiade ist etwas Besonderes, denn es handelt sich um ein über das Niveau der abwärts führenden Montée de la Bourgade erhabenes Gehöft zweier im rechten Winkel ineinander stoßender Gebäuderiegel, die somit einen Innenhof umschließen – weit genug, um dort etwa Apfelwein zu keltern, oder einfach so bei chronisch gutem Wetter mit Freunden herumzusitzen. Der Hof wie auch die Fassaden sind zudem so ausgerichtet, dass über den größten Teil des Tages der Sonnenschein auf La Péiade fällt.

Ohne die auf dem Schild angegebene Nummer anzurufen, wusste ich, dass der Kauf des Anwesens nicht mehr kosten dürfte als ein paar Sack Zement.

Wenn hier, in der Gemeinde Cagnes-sur-Mer, Häuser versteigert werden oder Ladeneinheiten, findet das nach einem Ritual statt, bei dem der Auktionator eine Kerze anzündet und so lange diese herunterbrennt, darf geboten werden. Erlischt ihre Flamme dann endlich, wird im Namen des Letztbietenden der Zuschlag erteilt.

Verführerisch, das alles, zudem schien ja bereits wieder die Sonne, aber in unserem letzten Telefonat hatten wir gleichzeitig festgestellt, dass wir beinahe nichts so sehr fürchten, wie sesshaft zu werden. Und zwar nicht einmal der Möglichkeit einer festen Behausung wegen, nein, es ist unsere Furcht vor dem Verlust der allumfassenden Neugier und eines generell auf das Leben gerichteten Interesses, das uns anscheinend und somit verbindenderweise schreckt.

Auf einem Kongress zur Zukunft des Wohnens, der passenderweise in Wolfsburg abgehalten wurde, erklärte Peter Sloterdijk seinem Gesprächspartner Werner Sobek, dass Menschen seiner Ansicht nach ihre Wohnungen vor allem zu dem Zweck einrichteten, um die darin eingeräumten Möbelstücke zum Verschwinden zu bringen.

Darüber hinaus, und dazu wurde ein Entwurf Werner Sobeks projiziert, bei dem es sich um eine eiförmige Konstruktion aus semi-transparenten Kunststoffen handelte, gelagert über der emporjagenden Brandung auf einer argentinischen Klippe, darüber hinaus also ginge es ihm selbst, Sloterdijk, ja wohl ebenso wie ihm (Sobek) fürderhin um den zentral gewordenen Begriff des »Kosmischen Camping«.

Das ist so bei Peter Sloterdijk. Man kann dann oft selbst nach Jahren nicht viel mehr an eigener Meinung oder gar Erkenntnisgewinn hinzufügen, als: genau. Stimmt so. Finde ich auch.

Kosmisches Camping – ich meine: Allein, wie das klingt!

Wer wollte das nicht: kosmisch campen? Es sei denn er wüsste keinen dazu geeigneten Partner, denn alleine zu campen ist doch etwas öd‘ – vor allem bei dieser Aussicht!!!

Das rhetorische Genie Peter Sloterdijks, das ich sowohl verehre wie auch beneide, lässt sich ja nicht einfach mit dem Verweis auf den Begriff des Sternenzeltes entzaubern oder mit einem Hinweis auf obskure Gedichte von Hölderlin oder Novalis. Wer die Vorlesung von Peter Sloterdijk über Ödipus kennt, der wird wissen, dass er nicht nur an das glaubt, wovon er erzählt, sondern strikt danach handelt: Wohin auch immer er seinen Stab in den Erdboden rammt, ist der Grund Akademos geweiht; dann ist dort Akademie.

Auch in Wolfsburg. Selbst in Cagnes-sur-Mer würden dem Meister die Assoziationen alsbald nur so einfallen wie Stukas Over Disneyland.

Mittlerweile war ich unten am Meer angekommen. Der Himmel war blau, comme d’habitude, aber in einer Nachfolge der englischen Sturmfront herrschte nun der Tramontane, gefürchteter noch als der Mistral. Der TM gilt als streng und angeblich macht er durch einfaches Anhauchen unweigerlich krank – warum bloß?

Weil er aus Marseille kommt. Sagen die Leute. Das Gute an Stürmen ist, finde ich, dass dann jede Menge interessanten Zeugs an den Strand gespült wird. Außerdem gibt es ja Strickjacken.

Der beste Abschnitt der Strecke nach Nizza kommt auf Höhe der Monstranz eines Einkaufszentrums namens CAP 3000, das in seiner ausufernden Wahnwitzigkeit selbst noch die Wohnanlage Baie des Anges, gelegen kurz vor Antibes, in den sogenannten Schatten stellt. Morgens um kurz vor acht sind die Diskotheken verwaist und es sitzt niemand mehr dort oder parkt. Es gibt bloß noch Möwen. Und Sonne. Nicht einmal mehr Müll. Dazu höre ich Das Rote Album von Tocotronic, auf dem das zweite Stück mit diesen irren Sphärenchören anhebt (oder beginnt). Der Rosmarin blüht hier ja ebenfalls rot um diese Zeit. Aber wenn man schließlich hier wohnte – wie lange noch fiele uns dann noch auf?

Sollte, oder muss, das Leben denn allein aus diesem Grunde heraus nicht aus einer unablässigen und von daher auch stets ein bißchen schmerzhaften Kette von Abschieden bestehen?

Und, wenn ja: Was ist dann wichtig?

Ich weiß es, aber es ist echt schwierig. Nämlich: dass das kleinste Glied dieser Kette aus unzertrennlich verschmolzenen zwei Teilen besteht.

Und ich weiß halt, dass Chantal eine Affäre hat. Ich sehe sie jetzt häufig am Nachmittag vor dem historischen Mühlrad von 1482 an der Burgmauer sitzen. In der halben Stunde vor dem Aperitif. Sie telefoniert mit einer so ganz anderen Stimme als mit jener, mit der sie gleich mit ihrem Mann sprechen wird. Und sie raucht keine einzige Zigarette dabei, gleich aber wird sie acht bis zehn rauchen, und er wird ihr eine neue Schachtel holen aus der Boîte A Priser. Dann gehen sie heim.

Ich will gar nicht wissen, ob er weiß, dass ich weiß; oder ob er überhaupt etwas weiß. Aber ich würde uns das gerne ersparen. Also dir. Und mir. Wegen uns.

10.2.

Wendy, ich weiß gar nicht, wie alt sie sein mag – 75? –, sitzt in Hut und Mantel vor der Tür des Grimaldi, während der vor Tagen prophezeite Regensturm namens Rose nun tatsächlich Haut-de-Cagnes zu erreicht haben scheint. Er stürmt durch die Gassen, vor allem aber fegt er über den Platz vor der Burg, wo es nichts gibt außer festgeschraubten Bänken, von denen aus sich in schöneren Nächten die Aussicht auf die Berge genießen lässt, und, wenn man sich über die Brüstung des gleich dahinter steil abfallenden Hügels beugt: auf den Friedhof im Tal, wo Suzie Solidor begraben liegt. Gerade jetzt ist es aber infraidyllisch und dort draußen geht es ausgesucht grausam zu. Im Inneren des Hotelrestaurants kriegt man davon freilich so gut wie gar nichts mit, außer, dass ab und zu ein Sonnenschirmständer gegen eines der beiden Fenster drischt.

Auf dem Maxi-Screen läuft der Golfkanal. Zwar gibt es hier weit und breit keinen Golfplatz (den nächstgelegenen, Terre Rouge bei Saint-Tropez hat vor Jahren Dietmar Hopp für seinen Eigenbedarf aufgekauft), keiner der anwesenden Männer spielt Golf oder hat es demnächst vor, aber »Anna Nordqvist spielt!!!«, und »Außerdem ist in Australien besseres Wetter.«
Die Regeln sind einfach (das: da rein) man konzentriert sich auf die Kontrahentinnen. Für Christina Kim kann sich keiner erwärmen, ja, ich habe den Eindruck, vor der stämmigen Amerikanerin mit ihren sechs Meter langen Zöpfen haben alle sogar Angst. Stacey Lewis hingegen kommt gut an, was vermutlich vor allem daran liegt, dass die Siegerin der diesjährigen Pure Silk Bahamas LPGA Classics exakt so aussieht, wie ihr Name es verkündet. Vermutlich sind ihre Eltern Waldorfschullehrer, die können so etwas.

Lydia Ko trägt elastische Hosen, die Favoritin aus Thailand heißt Pornanong Phatlom. Dazu läuft vom Tresen her Don’t Go Breaking My Heart, und man pfeift tout en famille mit bei dieser vergnüglichen Melodie.

Es geht also gemütlich zu, während draußen sogar die Laternen auf dem Platz bereits verloschen sind, was ansonsten niemals vorkommt, derart heftig führt sich der Sturm auf.
Warum sitzt Wendy draußen?

Sie harrt dort an der Seite der Dame Ångstrøm aus. Die wiederum ist derart hardcore drauf, dass Wes Anderson ihr einen Spielfilm widmen würde, allein: Er kennt sie nicht.
Noch nicht.

Also, die Dame Ångstrøm ist so zumindest das Allerbeste, was Cagnes-sur-Mer zu bieten hat. Und das will etwas heißen, denn immerhin reden wir jetzt von einem auf dem Hügel gelegenen mittelalterlichen Seeräubernest, oberhalb der mythischen Côte d’Azur. Wir könnten hier allerhand Exzentriker auftreten lassen. Und nichts davon würde unwahrscheinlich wirken oder zu weit hergeholt, denn nicht nur menschlich gesehen ist hier prinzipiell alles möglich.

Die Dame Ångstrøm beispielsweise wuchs ja in Äthiopien auf. Das hat sie mir einst offenbart, als wir beide zugleich und aus nichtigem Anlass heraus feststellen durften, dass uns eine tiefe Liebe zur amharischen Sprache verbindet, insbesondere zu jenem für die Aussprache dieser Sprache notwendigen Schluckaufgeräusch. Sie aber, die Dame Ångstrøm, hat dort in Äthiopien immerhin ein Vermögen gemacht. Milliarden werden es nicht gewesen sein, aber doch einige hundert Millionen. Und zwar mit Zementpulver. Dazu muss man wissen: Der Äthiopier baut gern. Diesem Drang zum Errichten von Bauwerken, für den es in der Psychopathologie sogar einen Fachbegriff gibt, kommt seitens der äthiopischen Verfassung ein Füllhorn an nicht existenten Auflagen und Vorschriften für die Errichtung von Bauwerken entgegen, somit wird dort alles möglich gemacht, wovon Zaha Hadid oder Daniel Libeskind nur träumen dürfen. Und dazu braucht es halt jede Menge Zement.

Von daher ist die Dame Ångstrøm im Luxus aufgewachsen und bis heute lebt sie danach, mittlerweile eben seit Jahrzehnten schon hier. Ihr Puschelhund wird jeden Morgen geföhnt, während sie mit mir den ersten Pitcher Rosé einnimmt. Dann scheint ja auch schon die Sonne, und ich mag keine Hunde, aber das macht nichts, denn: Wenn ich spazieren gehe, sehen wir uns halt eine Weile lang nicht.
Abends dann, wenn die Dame Ångstrøm, dem Sonnenlauf folgend (Methode Zauberflöte) alle möglichen Bars durch hat, ist der Hund furchtbar müde. Die Dame selbst aber noch nicht, und sowohl weisungsgemäß als auch comme d’habitude kommt dann Wendy an (künstliche Gelenke in der Hüfte und, ich glaube, auch in den Knien), um ihr zum Abschluss des Tages Gesellschaft zu leisten. Das läuft jetzt schon seit einem knappen Jahrhundert so zwischen den beiden. Wendy trinkt Weißwein, die Dame Ångstrøm bleibt beim Rosé und raucht. Deshalb finden die Zusammenkünfte auch stets unter freiem Himmel statt. Egal, bei welchem Wetter. In Anbetracht des Regensturms sogar scheißegal, aber wer die Regenzeit in Äthiopien kennt, der kann angesichts eines südfranzösischen Wetters auch nur eben so milde lächeln.

Wendy erzählt dann von ihren Operationen. Es geht zu wie in den Ritterfilmen am Lagerfeuer: Battles passed and won.

Die Dame sagt dazu nur wenig (obwohl sie fünf Sprachen spricht).

Manchmal war der Fluffihund krank. Einmal hatte sie ihn kastrieren lassen. Manchmal habe ich gedacht: Oh, diese Falte auf der Wange der Dame Ångstrøm, die sieht aber gravierend aus. Hoffentlich bleibt sie mir erhalten!

Im Juni letzten Jahres hatte die Dame Geburtstag. Da wurden an sämtlichen Masten auf dem Vorplatz der Burg die norwegische Flagge gehisst – that’s power!
Aus der Küche des Bistro L’Atelier brachte man ihr eine Aubergine, in die waren Wunderkerzen hineingesteckt, weil die Dame Ångstrøm Süßes nicht ausstehen kann. Und jeder schenkte ihr eine Schachtel Marlboro Lights.

Sie hat den Hund umarmt.

Und ist, wie an jedem Abend, den ich bislang mit ihr erleben durfte: Um 22 Uhr 30 ins Bett.

9.2.

Einen Waldorfsalat gemacht aus dem herrlichen Sellerie, Walnüssen aus Grenoble, geraspelten Äpfeln sowie einer selbstgeschlagenen Mayonnaise aus ortsansässigem, aggressiv grünem Olivenöl und den Eiern, die hier, wie zwei Öltanks, doppelte Dotter enthalten. Dazu ein gegrilltes Huhn aus der Rôtisserie an der Cité Marchande. Einen extraschaumigen Nusskuchen gebacken und zum Dessert eine Tarte Tatin, aber nicht etwa mit Blätterteig aus der Packung, sondern mit mit einem echten sablé, also 3:2:1-Mürbeteig mit einem Quantum Crème double, wodurch der Deckel der Tarte zwar hyperknusprig wird, zugleich aber auch megaporös und zahngefühlsmäßig: ungebacken bleibt.

Die Küche hier ist optimal eingerichtet. Was ihr der Laie nicht ansehen kann, denn man sieht eigentlich nichts. Aber der Herd ist verlässlich, der Rest ist aus Stein, und das Licht kommt von allen Seiten – mehr braucht es ja nicht.

Heute spiele ich, dass gleich Besuch kommt. Der Sturm (Rose aus UK) ist ausgefallen, alle Fenster stehen offen. Vor einem Jahr noch hätte ich von gegenüber (die Gasse ist sehr schmal) die Streitgeräusche meiner Nachbarn gehört, dafür waren die berühmt und vor allem auch dafür, wie laut und heftig sie sich daraufhin versöhnten. Jetzt klemmt da ein Zu-Verkaufen-Schild hinter dem schmiedeeisernen Gitter wie am Pranger.

Ja, ich weiß. Jarvis Cocker hat gesagt: »You can take your year in Provence and shove it up your arse«,

aber

a) nicht zu mir

b) wohnt er mittlerweile selbst in Paris

und c) ist es hier trotzdem: leider geil!!!

trotz d) beständigen, allerdings nicht allzu heftig an mir nagenden Kitschverdachtes.

Also setzte ich mich vor das Fenster und machte dazu ganz laut Fordlândia an. Musik darf man hier immer. Und essen kann ich noch, wenn ich tot bin.

Dort drüben, über den Ausläufern der Alpes Maritimes, auf deren Zunge der Leuchtturm tagsüber schweigt (und in der davor gelegenen Bucht liegt Nizza), spielen sich den gesamten Nachmittag über die überraschendsten Wolkenfestspiele ab.

Und hier drin ist es warm.

Schwalben, Tauben, Finken. Und kaum mal eine Möwe, weil das hier für die Möwen bereits viel zu weit oben liegt. Möwen sind schwere Vögel, und sowieso liegt hier viel zu wenig Müll herum. Und das Wenige fegt der Mann in der giftgrünen Uniform an jedem Morgen ab 5:30 Uhr weg.

Das Leben kann schön sein, wenn es will.

Fordlândia, das habe ich zum ersten Mal gehört auf einer Modenschau von Joop! im Hamburger Bahnhof – echt lange her. Damals war Dirk Schönberger dort noch Designer. Ein paar Tage später flog er dort raus. Aber dieses Stück! Nichts ist eben vergebens im Leben. Alles ergibt letztendlich Sinn. Ich trage das schöne T-Shirt, das Julia mir geschenkt hat auf ihrem eigenen Geburtstag, und auf dem T-Shirt steht »STURTEVANT STURTEVANT STURTEVANT«. Damals, in Oberkassel und überall sonst in Düsseldorf um Oberkassel herum, hatte in der Vornacht ein Megasturm beinahe sämtliche Bäume umgeblasen – Stämme auf den Autodächern, Stämme mitten durch die Häuser: Die Klempner und Dachdecker hatten echt gut zu tun. Ich habe Fotos gemacht.

Als ich nach Berlin zurückkam, trug ich das T-Shirt und Gudrun Wurlitzer hat sich über mich lustig gemacht, weil ich ja gar nicht wusste, wer Elaine Sturtevant war. Heute ist mir das egal, denn es ist bloß ein T-Shirt.

Und seitdem ist eine Menge geschehen.

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