10.1.

Neuerdings sind Flakes in hübschen Plastikröhrchen mit Klappverschluß im Umlauf und seitdem lässt sich eine qualitative Verbesserung im Berliner Gesellschaftsleben beobachten, die teilweise auch schon spürbar geworden ist: Das Kokain scheint stärker, beziehungsweise wird es weniger verschnitten sein als die üblich gewordene Ware, die von den Taxifahrern gegenüber des St. Oberholz geliefert wurde. Also müssen die Menschen nicht mehr alle zehn Minuten zu den Toiletten um nachzulegen, man hat wieder mehr Zeit füreinander, das wirkt sich positiv auf die Gespräche aus, weil endlich wieder so etwas wie ein Miteinander entstehen kann.

Aus geradezu zoologischer Perspektive ließ sich das Phänomen an Silvester im Grill beobachten. Es waren ja doch mehrere Hundert gekommen, trotz des heftigen Eintrittspreises von 250 Euro exklusive Getränke, und anders als viel früher trifft sich dort mittlerweile eine ausgesprochen heterogene Crowd. Kurz vor Mitternacht ließ Boris Radczun sich von einem Assistenten die persönlichen Feuerwerksvorräte auf die Spreeterrasse rollen – ohne Übertreibung handelte sich bei dem hier eingesetzten Vehikel um eine hüfthoch beladene Lastkarre auf vier Rädern, die ansonsten zum Transport von Rinderhälften eingesetzt wird. Die Stunde bis ein Uhr, der ersten des Jahres 2016, verbrachte er dann halt mit dem Rücken zum Publikum an der steinernen Brüstung stehend, um – das verbindet schicksalshaft extrem viele Männer weltweit an Silvester – die dann doch zahlenmäßig ihm überlegenen Lunten abzuarbeiten (und deswegen auch nicht wirklich würdigen zu können, was weiter oben platzte, auffunkelte oder schnöde detonierte).

Da ich das Geknalle hasse wie den Song Geiles Leben von Glasperlenspiel, der echt die Pest ist, unterhielt ich mich während des angeblichen Spektakels mit Carl Jakob Haupt, in dessen makellosen Zahnoberflächen ich mich nicht nur spiegeln kann, ich finde ihn auch ansonsten und überhaupt schlicht brillant. Generell will ich eigentlich nur noch mit Personen zu tun haben, die mindestens zehn Jahre jünger sind als ich; besser noch: zwanzig Jahre. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich da ein Selbstvertrauen vorfinde, das mir selbst mehr und mehr abhandenzukommen scheint. Wenn ich das Feuilleton lese, na gut, da ließe sich fragen: Warum denn auch? Andererseits wird das doch offensichtlich für meinesgleichen gemacht und von daher: lese ich es halt – dennoch gibt mir ein Gespräch mit Jakob am Ende dann doch mehr, da der mir mit seiner Sicht auf ganz vieles vor Augen führen kann, dass die herkömmlichen Instrumente nicht mehr gut taugen zur Analyse der Welt. Eine romantische Einstellung bringt ja rein gar nichts, wenn der damit beäugelte Gegenstand selbst keine Gnade mehr kennt. Wer aber Punk, Pop, New Wave nur noch als Revival kennengelernt hat, wer selbst nie Teil einer Jugendbewegung war, weil es damals schon keine Jugendbewegungen mehr gab, der trägt einen Zynismus sozusagen beinahe genetisch in sich, dass ich es beneidenswert finde. Echt wahr.

Tränen finde ich nicht cool. Aber heilsam. Ich weine nicht an jedem Tag, aber schon mehrmals die Woche (mein Nachbar macht dann gerne den Heimbohrer an). Was ich an Menschen wie Jakob gut finde, ist dieses Beieinandersein von Empathie und Egoismus; dass einen eben nicht alles und jeder zur Verzweiflung treiben kann.

Leider, leider und nochmals: leider gibt es ja unter den deutschen Journalisten noch immer viel zu viele, die das Vorurteil perpetuieren, dass Fotomodelle und Modeblogger dumm sind; dass es allenfalls die Modeschöpfer sind, die in diesem ebenfalls unter Dummheitsverdacht stehenden Gewerbe etwas in den sogenannten Birnen hätten; ich muss es ihnen, diesen Feuilletonisten, die so denken, sogar und auch noch nachsehen, denn die meisten davon, die, die ich kenne zumindest, arbeiten ja in einer Isolation und kennen sich nicht wirklich aus. Besuche von Modeschauen in anderen Ländern und das Nachhausetragen der Freebies reicht halt leider nicht aus, um kompetent über die angebliche Oberfläche schreiben zu können, die David Hockney so richtig und zutreffend definierte mit seinem »Surface is an illusion, but so ist depth«.

Und inmitten eines Gespräches dieser Art stellte sich vor uns ein Mann auf, wir kannten ihn nicht, um sich vor uns die Hose ganz aufzuknöpfen und kurz bevor ich wegschaute, sah ich noch seine gestutzte Schambehaarung und darunter hing sein Geschlechtsteil. Daraufhin konnte ich nicht anders, als ihm ins Gesicht zu blicken und er sagte nur: »Sorry«, und etwas wie »Musste mal sein«. Fand ich ja nicht, aber ich hatte auch null Lust, mit diesem Vollidioten zu diskutierten, also sagte ich reflexartig »Macht doch nix, ich kenn’s ja«, obwohl ich es wirklich überhaupt gar nicht so meinte, aber da hat Dirk von Lowtzow ja recht: Silvester ist Selbstmord, und am Ende hilft ja doch alles nichts. Jedenfalls hätte ich in dem Moment dann doch gern so ein Plastikröhrchen gehabt, aber Kokain ist halt vor allem auch schädlich für die Telepathie. Und die Verbindung zur Muse ist mir wichtiger als eine Chance auf Betäubung. Also besann ich mich auf mein Gedächtnis und erzählte Jakob einen Schwank aus der Zeit vor seiner Geburt. Genauer gesagt aus dem Jahr 1996, denn da begab es sich, dass Nick Cave den MTV Music Award hätte erhalten sollen, aber er weigerte sich und wies den Preis zurück. Und zwar in Gestalt eines Briefes, handschriftlich verfasst, mit Kugelschreiber, auf einem Blatt Papier. Darin stehen zwei oder drei Sätze, die für mich und für meine Art mein Leben zu führen, megabedeutend geblieben sind:

I am in competition with no-one.

My relationship with my muse is a delicate one at the best of times and I
feel that it is my duty to protect her from influences that may offend
her fragile nature.

She comes to me with the gift of song and in return I treat her with the
respect I feel she deserves — in this case this means not subjecting
her to the indignities of judgement and competition. My muse is not a
horse and I am in no horse race and if indeed she was, still I would not
harness her to this tumbrel — this bloody cart of severed heads and
glittering prizes. My muse may spook! May bolt! May abandon me
completely!

Und ich konnte es fühlen, wir sprachen da längst nicht mehr: Jakob empfindet das auch und genau so.