10.1.2020

Eine Freundin fragte mich gestern am Telefon, ob ich «das fantastische Datum 1.1.2020» auch genutzt hätte, um mich zu verloben. Wieso «auch»? Sie wechselte das Thema, beziehungsweise wurde sie aufgerufen beim Arzt, aus dessen Wartezimmer sie mich angerufen hatte, wie es mir nun klar wurde. Aus Langeweile?

Dass sich eventuell etwas Neues ankündigt, das Gefühl hatte ich zum letzten Mal vor circa zehn Jahren, als auf Instagram ein mir flüchtig bekannter Kurator, der mittlerweile längst Museumsdirektor ist, eine Nahaufnahme seines offenen Mundes im Licht eines ärztlichen Behandlungsraumes veröffentlichte mit der Unterzeile «Full day at the dentist». Wieviele Likes und Comments, habe ich mir nicht gemerkt, es waren damals noch nicht solche Massen wie heute, aber dieser Satz im Zusammenhang mit dem Selfie des Mundinnenraumes hat sich mir eingeprägt als Moment (wie in fashion moment). Es war ja nicht so, das der Kurator mitteilen wollte, dass er den ganzen Tag in der Obhut seines Zahnarztes verbringen musste, weil er schlechte Zähne hatte. Sondern weil er noch bessere wollte. Hellere, mit glänzenderen Oberflächen und optimierten Zahnzwischenräumen.

Dabei stammen wir noch beide aus einer Schule von Deutschen, für die gutes Aussehen und Intellektualität sich gegenseitig in Zweifel zu ziehen hatten. Intelligenz kannte eine andere Eitelkeit. Fiel mir heute wieder ein bei einem Aufsatz von Donald Keene, der im vergangenen Frühjahr gestorben ist. Er erinnert sich, wie Mishima «eine Ausstellung besuchte, in der man Fotos von Mumien aus dem 12. Jahrhundert zeigte. Zufällig wurde Mishima auf das Gesicht eines neben ihm stehenden Mannes aufmerksam. ‚Plötzlich‘, so berichtete er später, ‚packte mich eine wilde Wut, weil er so hässlich war. Ich dachte: Wie abstossend ist doch ein intellektuelles Gesicht! Was für einen widerwärtigen Anblick bietet ein intellektueller Mensch!‘ Wenn Mishima, der Prototyp eines Intellektuellen, so urteilte, dann musste sich seine Bewertung vor allem auf sich selbst beziehen. Er beschloss, vermittels drastischer Massnahmen seine äussere Erscheinung zu verbessern. Bald darauf begann er sich im Gewichtheben zu üben, und zwar mit solchem Eifer, solcher Ausdauer, dass er aus dem recht unzulänglichen Material seines Körpers den muskulösen Torso einer griechischen Statue schuf.»

Den Konflikt, der Mishima fünfzehn Jahre nach dem Besuch der Ausstellung dazu treiben sollte, seinen statuenhaften Torso mit dem Schwert zu zerstören, vermutet Keene zwischen «seiner wahren Natur» und dem oktroyierten Selbst (man würde heute Image sagen).

Später sah ich dann in der Tagesschau Frau Kramp-Karrenbauer in einer schockierend unvorteilhaft geschnittenen Kostümjacke vor die Kameras treten. Der Stoff hatte einen unseriösen Farbton. Wie eine Ladung Weisswäsche, in die sich eine lila Socke verirrt hatte. Sie schien sich keiner Schuld bewusst, beziehungsweise war sie eins mit sich und der Welt.