10.3.

Im Flugzeug hörte ich Sonic Youth Unplugged in Moscow, einen Bootleg jenes sagenumwobenen Privatkonzertes zu Ehren Alexander Fedotovs, den mir Alexander Fedotov selbst gestern auf seiner Privatparty in Paris zugesteckt hatte. Ohne zu Zwinkern.

In den Lebensjahren von 16 bis 44 war es die Stimme von Kim Gordon gewesen, die mir verlässlich all jene Gefühle bescheren konnte, die andere beim Telefonsex suchen. Insbesondere auf Tunic, der Hymne auf Karen Carpenter »another salad, another iced tea«. Aber auch auf Crème Brûlée, auf Schizophrenia ganz heftig, und nicht selbst, sondern vor allem mit der obskuren Karaokeversion von Robert Palmers Addicted To Love hatte ich jahrzehntelang eine heftige Amour fou bei wechselnden Kopfhörern.

Dann, es war im Frühsommer des vergangenen Jahres, machte ich den schlimmen Fehler, Girl in a Band zu lesen. Hätte ich lassen sollen. Mein Bild von Kim Gordon, also das, was ich mir da zusammenfantasiert hatte allein über den Klang ihrer Stimme, brach noch nicht einmal in Stücke, es war einfach fort. Jahre- und jahrzehntelang hatte ich auf anfänglich sehr viele, dann auf immer noch viele (aber irgendwann waren ja dann doch die meisten schon von sich aus davon überzeugt) eingeredet, wie großartig, einmalig und toll Kim Gordon sei, diese Bassistin, der ich noch nie in meinem Leben begegnet war. Einzig aufgrund ihrer Stimme und ihrer Funktion als eben Girl in a Band. Vor allem halt: in dieser Band. Als ich Sonic Youth zum ersten Mal live sehen konnte, im sogenannten Forum des Barockstädtchens Ludwigsburg, kaufte ich mir ein T-Shirt, das ich heute leider nicht mehr besitze. Und Kim Gordon trug ein schwarz-weißes T-Shirt mit langen Ärmeln und schwarzen Querstreifen auf weißem Grund, wie ich es in ähnlicher Form allerdings noch immer besitze. Aber die Optik war nicht das Entscheidende, es war die Materialschlacht, in deren Mitte sie aufragte, mal singend, mal nicht. Thurston Moore und Lee Ranaldo machten ja stundenlang laut mit Schraubenziehern und Schlagzeugstöcken so lange an ihren Gitarren rum, bis alles kaputt ging, dann reichte ihnen der Roadie die nächste Gitarre an, die wurde dann nach den Originalplänen Glenn Brancas verstimmt, und es ging sofort weiter. Zu beiden Seiten der Bühne, Drumstick und Schraubenzieher in dem Falle, schaute der Konzertbesucher bei Sonic Youth auf jeweils massive Lagerregalsysteme für elektronische Gitarren, jedseitig geschätzte zwanzig Stück beinhaltend, und erst wenn die letzte Gitarre zerstört, an ihr der letzte Hals gebrochen, sämtliche Wirbel abgerissen und zumindest eine, oft aber dann doch eher drei ihrer Stahlsaiten zerrissen ward, dann erst wurde ein Sonic Youth-Konzert für gewonnen erklärt. Gegen Sonic Youth hätte Google Deep Dream keine Chance gehabt, denn so etwas kann sich kein Algorithmus ausdenken.

Gehabt muss es ja leider heißen, denn wie es auf der Rückseite meines goldenen iPads so schön heißt: THIS MACHINE KILLS FASCISTS - aber Sonic Youth gibt es ja nun leider nicht mehr.

Grund steht in Girl in a Band. Es ist ziemlich trostlos.

Und wenn ich jetzt Kool Thing höre, und eigentlich genau weiß, wie oft ich mich mit dieser Zeichnung von Raymond Pettibon beschäftigt habe, auch innerlich und ohne hinzusehen, ja ich behaupte, dass, wenn es noch Wappensprüche gäbe, dann stünde besagte Sprechblase als der meinige dar, aber wenn Kim Gordon dann Chuck D zuruft »Fear of a Female Planet?«, dann war das jahrzehntelang Hardcore-ASMR. Aber seit letztem Sommer ist das, plötzlich, nur noch.

Es heißt ja, dass sich Paare mit der Zeit immer ähnlicher werden. Im Falle der Muse und mir scheint das tatsächlich zu stimmen, denn in letzter Zeit gähne ich zunehmend gerne und viel und vor allem auch in der sogenannten Öffentlichkeit. Von daher nehme ich an, dass sich auch unsere Stimmen mehr und mehr aneinander angleichen werden. Das stelle ich mir im sogenannten Endeffekt lustig vor, aber auch verwirrend, denn dann hört man ja andauernd Echo, aber das Echo sagt etwas ganz anderes, als man hineingerufen hat in das gedachte Bergpanorama. Was nun die Stimme der Muse bis dato betrifft, so kann ich sie immer noch eindeutig und klar von allen übrigen unterscheiden (gibt’s das überhaupt - Stimmdoppelgänger? Siri macht eine Notiz zu einer Vorstufe für einen Bestseller mit dem Arbeitstitel Der Fünfundvierzigjährige, der seine Stimme mit der eines anderen verwechselte und in dessen Ohren verschwand).

Noch etwas wichtiger als die Minne erscheint mir in diesem Zusammenhang die etwas in Vergessenheit geratene Kunst der Alba. Der Taglieder also, mit denen die Liebespartner bei Sonnenaufgang die anstehende Entflechtung ihrer Leiber besingen. In unserem Fall bedeutet das dann die Lösung unserer Stimmen aus ihrer liebenden, wie umeinander werbenden Umschlingung. Es hat sich von allein ergeben, dass der unselige Mexican stand-off, wer denn nun auflegen solle oder möge, ganz schmerzlos dadurch erledigt wird, dass wir die Telefone beiseite betten und dann bleibt der jeweils andere zwar anwesend, aber es kommt auch etwas Ruhe ins Spiel, die zur Regeneration ja doch nötig bleibt, wenngleich man sich sehr wohl von Luft und Liebe alleine ernähren kann. An den Enden der Leitung wird es dann still, doch das bedeutet keinesfalls Schweigen. Denn es wird ja geschwiegen, gleichzeitig aber eben doch nicht. Die Verbindung wird stimmlos gemacht, aber sie bleibt dennoch bestehen.