10.6.2019

Wir erreichten den Strand von Haifa im richtigen Moment. Der Himmel war silbergrün, die Sonne gelb, und der Horizont berührte schon beinahe ihren unteren Rand. Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster unserer Gastgeber auf einen Friedhof am Fuße des Karmelberges. Er schien mir unendlich breit, er reichte, so schien es mir, bis an das linke Ende der Bucht, die dort im dunstigen Licht von einer Landzunge eingefasst wurde; die gesamte Ebene am Fusse des Berges, bis kurz vor dem Strand, der von einer mehrspurigen Schnellstrasse gesäumt wurde und hinter der führte auch noch die Bahnlinie an der Küste entlang, wurde von diesem Friedhof eingenommen, der aus gleichfarbigen und, so schien es mir von dort oben, lauter gleichförmigen Grabsteinen und - platten entstanden war. Nur wenige Zypressen ragten in schwarzen Reihen aus dieser man made desert auf. 

Winzige Autos kurvten zwischen den Steinfeldern herum. Die Windschutzscheiben blitzten im Sonnenlicht.

«Es sind angenehme Nachbarn», sagte Nadida und erklärte mir die Aufteilung der Gräber. «In den den vorderen Reihen am Strand liegen die Soldaten. Dahinter liegen die Juden auf der linken Seite, die Christen liegen rechts.»

Ich konnte keine Mittelachse erkennen, anscheinend gab es dort unten keine Allee.

«Es gab einmal eine Trennlinie», sagte Nadida. «Aber sie können einfach nicht damit aufhören zu sterben.»

Am Vorabend hatte ich beim Abendbrot nach dem Vogel gefragt, den wir am Strand gesehen hatten. Meine App kannte ihn nicht und hatte, wie so oft, wie schon im vergleichsweise unexotischen Zürich, Turdus merula vermutet als Urheber des aufgenommenen Klangbildes. Dabei ließen diese Vögel am Strand von Haifa ganz andere, gänzlich unamselhafte Töne erklingen. Dazu ihr Federkleid von dunklem Braun mit breiten cremefarbenen Querstreifen über den Schwingen. Und rings ums Auge einen orangefarbenen Kajalstrich; katzenhaft.

Laut Friederikes Cousin Sari sind diese Vögel von Indien her ins Land gekommen. Sie wurden, so wird von israelischer Seite vermutet, eingeschleppt. Eventuell versteckt unter dem Turban eines Sikh. Wobei mir das, wenn ich an die penible Durchführung unserer Einreiseprozedur dachte, unwahrscheinlich schien. Schon eher an Deck eines Containerschiffs. Die andere Tante, Rasali hatte im Fernsehen schon mehrfach Berichte gesehen, wonach diese eingeschleppten Vögel ältere Mitbürger attackiert hatten. Der Vogel namens Manya, eine Starenart, hat noch keinen deutschen Wikipediaeintrag. Das andere Thema an diesem ersten Abend in Haifa war die Hochzeit, zu der wir eingeladen waren. Es hieß, es kommen 700 Gäste. Und im Verlauf der Woche wurden wir von Hand zu Hand in der Verwandschaft herumgereicht. Bis hinauf in den Norden nach Jish, einem Bergdorf an der Grenze zum Libanon. Wo wir die fantastischen Zwillinge Jussuf und Nami, die eventuell sogar Drillinge sind, aber vielleicht ist ihr Bruder Henry auch jünger oder halt älter, wer weß, noch näher kennenlernen durften als auf der Hochzeitsfeier. Und den Hund Lassie, eigentlich ein Hündchen. So und nicht anders verging dort die Zeit. Also langsam und zugleich prallgefüllt, sodass ich beim Einschlafen oft das Gefühl nicht losbekam, dass ein Tag hierzulande eher 60 als 24 Stunden hat.

Heute, da wir nach einer Woche nachmittags Tel Aviv erreicht haben, kommt mir all dies schon beinahe vor wie ausgedacht vor oder angelesen. Kaum eine Stunde dauert die Bahnfahrt von Haifa hierher und wir sind in einer komplett anderen Welt. Der Sand ist karibisch fein, die Sonne verschwindet rot gestreift hinter der metallischen See. Ein dubios aussehender Mann mit qualligem Körper und einer Art Kopfhörerrasur liegt als Meerjungfrau in der Brandung und starrt mich auffordernd an. Oder verträumt? 

Eine mädchenhafte Frau trainiert mit ihrem Hula-Hoop. In drei Tagen ist Schwulenparade. Den schönen Vogel Manya gibt es hier allerdings auch.