1.10.

Im Gebiet des nördlichen Amazonas leben diverse Schmetterlingsarten in Symbiose mit der Schienenschildkröte (podocnemis unifilis). Der Fluss hat sich auf diesem Abschnitt an der Grenze zu Peru bereits derart weit von den Einströmungen des Pazifik entfernt, dass seine Wasser kein Natrium mehr enthalten. Die fleischfressenden Tiere nehmen die lebenswichtigen Salze durch ihre Nahrung auf. Die Schmetterlinge behelfen sich mit einem Trick: Als gleichwarme Tiere streben die Schildkröten nach Sonnenplätzen. In der Regenzeit von November bis Mai wachsen die Ufer zu, sodass einzelne, daraus hervorragende Wurzeln, Totholz und Steine zu unter den Schildkröten begehrten Aufenthaltsorten werden. In den Regenpausen sind regelrechte Rangeleien unter den Amphibien zu beobachten. Ist die Liegeplatzordnung erst ausgefochten, kommen die Schmetterlinge und lassen sich auf den Hälsen und Köpfen der sich sonnenden Schildkröten nieder. Ihre auf- und zuklappenden, fächelnden Flügelhälften wirken wie der Schildkrötenhaut aufgesetzte, bunt geschminkte Lider. Die Schmetterlinge sammeln die Tränen aus den Schildkrötenaugen; die Schildkröten sind aber nicht traurig, die Tränen werden gebildet, um die Reptilienaugen vor dem Austrocknen zu schützen. Die Schmetterlinge wiederum trinken diese Tränen nicht. Es handelt sich ausschließlich um männliche Exemplare, die ihre erbeuteten Schildkrötentränen so lange bei sich führen, bis deren flüssiger Anteil verdampft ist. Die verbleibenden Spuren aus Salzen werden zu kleinen Kugeln gerollt. Das Schmetterlingsmännchen übergibt solche Kugeln aus Schildkrötentränensediment an sein Weibchen, um mit der Übergabe dieses Geschenkes den Paarungsprozess einzuleiten. Durch die Versorgung mit dem aus Schildkrötentränen gewonnenen Natrium sorgt es zugleich für eine ausgewogene Ernährung des Partners.

Bei Sonnenaufgang, derzeit 6 Uhr 30, machen die Vögel vor dem Hintergrund des rauschenden Stromes der Autobahn amazonashafte Geräusche. Langgezogenes Zwirbeln, Duo-Piepser setzen Häkchen dahinter. Als hüpfende Kleckse beackern Amseln den Rasen und verschwinden mit langen Sprüngen in den bergenden Schatten des Gebüschs. Am Nachthimmel gibt es im Oktober den seltenen Stern namens Formalhaut zu sehen. Laut Herrn Marx, der es gestern in seiner monatlichen Kolumne in der Zeitung angekündigt hat, befindet er sich im »unscheinbaren Sternbild des Südlichen Fisches, das jedoch durch ihn heraussticht (…) Außerdem gehört der weiß leuchtende Stern mit einer Entfernung von 20 Lichtjahren zu den leuchtkräftigsten Nachbarsternen unserer Sonne, die er um etwa das Fünfzigfache an Helligkeit übertrifft«.

​Die zu Recht gefürchtete Phase des Mercury in Retrograde ist nun endlich vorüber. Die noch verbliebenen Haushaltsgeräte verrichten klaglos ihre Arbeit, Pakete und andere Postsendungen werden ordnungsgemäß zugestellt. »Merkur kann zu Beginn des Monats in der Morgendämmerung tief am östlichen Horizont erspäht werden. Besitzer eines Fernglases oder kleinen Fernrohres (✔️) können am 11. Oktober frühmorgens gegen sieben Uhr die enge Begegnung mit Jupiter verfolgen, wobei der Merkur nördlich an dem wesentlich helleren Riesenplaneten vorbeizieht.«

Ich bin gespannt. Mit dem Frühaufstehen habe ich kein Problem.