12.10.2020

Gang auf den Altkönig, der Hausberg hinter Königstein. Wahrscheinlich und vielleicht war dies der letzte Tag, um sich der Natur in dieser ihrer derzeitigen Gestalt noch einmal hingeben zu können. Sie, die Natur, war dafür nicht bloß Gabe, sie gab auch selbst so viel. Und unaufhörlich. So kamen wir nach der Einstimmung durch eine Passage im Tannenwald auf einen steilen Pfad, der uns durch lichter werdendes Gehölz zum Gipfel führte. Gravel-Bikende holperten uns abwärts radelnd entgegen. Zu ihrer Belustigung waren an des Weges Rändern niedrige Schanzen in den Waldboden verankert worden. Die schnittig kostümierten Familienväter mit Helmen stürzten sich in den Pedalen stehend auf diese Hindernisse, um sie zu nehmen. Dies alles wortlos bei gepresstem Atem. Wer so bergab durch den Wald radeln kann, der beherrscht auch die Kunst des geräuschlosen Abbeißens vom Apfel.

Indes waren wir auf einen Holzweg abgezweigt, der entlang einer Schonung halb um den Berg herum führte. Im Gras, das, von Tautropfen besteckt, darniederlag, wuchsen die prächtigsten Fliegenpilze. Darunter einige noch unangeknabbert vom Wild. Asiatinnen knieten zwischen Heidelbeersträuchern und machten Aufnahmen, teilweise sogar mit Ton.

Auf den letzten Metern vor dem Gipfel lag, trotzdem dort die Baumgrenze freilich noch längst nicht erreicht war, massenhaft Granit herum. Der Altkönig soll zur Zeit der Altvorderen eine Kultstätte gewesen sein für die Kelten. Darauf wies allerdings kein einziges der vielen Schilder dort oben hin, die Hinweisflächen waren vollends ausgelastet mit Ver- und Geboten (beispielsweise «Nicht lagern», das Piktogramm zeigte einen Knieenden mit einem Buch in der Hand — offenbar handelte es sich dabei um ein Symbol für ein Liederbuch, das ja beim Lagern, wie ich es kenne, unerlässlich bleibt; sollte es sich allerdings um ein Symbol für religiöse Schriftbände handeln, fände ich dieses Gebot pikant.) Das Wissen zum Keltenkult musste man sich also selbst mitbringen. Da wir diesbezüglich vorgesorgt hatten, erkannten wir in dem zentralen Baum auf dem Gipfel die Esche, den Kult-Baum der nordischen Völker (Stichwort Yggdrasil), der aber auch in einem Gedicht der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück eine wesentliche Rolle spielt (Dietmar Dath hat darauf hingewiesen). Wie bei Glück hatte diese Esche auf dem Altkönig sich schon all ihrer Blätter entledigt. Einzig die dunkelroten Beeren zierten das Reisig vor dem leergefegten Grau des Himmels (wie die Tautropfen dort unten vor der Granitgrenze das waidgrüne Gras). Ein Gipfelkreuz gab es nicht.

Beim Abstieg fanden wir wie von selbst in die passende Schrittgeschwindigkeit, um rechtzeitig mit dem Sonnenuntergang aus dem Waldsaum herauszutreten. Ein nahegelegenes Wohnviertel von Königstein nahm uns auf in die städtische Welt. Rechtschaffen müd‘ und erfüllt von den Gaben, auch ziemlich durchgefroren saßen wir in der Taunusbahn Richtung Heimat. Die Maske wie ein Schlafsäckle für das Gesicht.