13.1.

In der E-Mail zur zweiten Lieferung von Tilman Rammstedts Morgen Mehr entdeckte ich eine rote Schaltfläche, die mit den Worten »Tag 2 hören« beschriftet war. Zusätzlich wurde ein weiteres Selfie von Tilman Rammstedt mitgeschickt, auf dem ersten hatte er eine Armbanduhr getragen und gelächelt. Diesmal war er beim Spiel mit zwei gelben Bällen zu sehen. Die Bälle haben Smileygesichter, es sind also dreidimensionale Emojis. Dasjenige, auf dem die rechte Hand des Autors ruht, trägt eine orangerote Langhaarperücke; das unter seiner linken einen braunen Schlapphut. Botschaft, ganz klar: Alexa Hennig von Lange meets Martin Walser. Und Rammstedt improvisiert den Dialog. Wobei im Vordergrund des mir zunehmend komplex erscheinenden Bildaufbaus noch zwei Weinkelche stehen, in deren Mitte eine Rieslingsflasche und vor der noch eine weiße Stumpenkerze. Hinter der altmodischen Lichtquelle (zusätzlich »brennt« der Abglanz der Dunstabzugshaubenbeleuchtug vom rechten Bildrand der Aufnahme herein) und der Flasche sind im Anschnitt zwei Antipasti-Teller zu erkennen. Auf dem einen liegt ein Zitronenschnitz, hinter dem Von-Lange-Emoji ist ein Langustenbein zu erkennen – möglicherweise handelt es sich dabei aber auch um eine Locke aus der Emojiperücke, das ist aufgrund der schwachen Auflösung – ich tippe auf iPhone – nicht klar zu entscheiden.

In dem Text selbst geht es dann weder um Alexa Hennig von Lange noch um Emojis oder um Walser, sondern um die anstehende Zeugung des lyrischen Ichs. Der angebotene Soundfile gibt tatsächlich die Stimme Tilman Rammstedts wieder, dieser liest den Abschnitt seines im Entstehen begriffenen Romans Morgen Mehr vor. Das bedeutet summa summarum, dass Tilman Rammstedt für insgesamt acht Euro echt ganz schön viel liefert: jeden Tag eine Seite Text plus Hörbuchausschnitt plus Selfie – ich war ja zunächst etwas misstrauisch, aber jetzt bin ich megazufrieden über meinen Kauf!!!

On top of that, wie sein Verleger Jo Lendle sagen würde, läuft das Ganze auch noch interaktiv. Jo Lendle ist in den Kommentaren zum zweiten Tag extrem präsent. Eine Kommentarfunktion gibt es nämlich auch noch, Stichwort Social Reading (Sascha Lobo). Gleich der erste Kommentar des Lesers Axouti lautet da »Schön. Irgendwie eine Mischung aus Look Who’s Talking und Rudolf Steiner.«

Woraufhin Tilman Rammstedt selbst antwortet: »Das kommt als Zitat auf den Buchrücken.« Daraufhin prompt der Verleger selbst »Ha! Buchrückenzitate versprechen, sobald die ersten zwei Kapitel geschrieben sind, ist das neue Bärenhaut verkaufen, bevor er erlegt ist.« Mit diesem raffiniert gewählten Zitat (es handelt sich um das Scraffito an der Eingangstür zur Mutter aller Internetcafés, dem St. Oberholz in Berlin) macht Jo Lendle hasenrein klar, wo Hanser sich mithilfe Tilman Rammstedts positioniert. Stichworte Lobo, Friebe, Digitale Bohème. Das lässt natürlich auch eine andere Lesart der Emojiperücke zu, denn möglicherweise handelt es sich dabei auch um einen Insiderjoke für Literaturbetriebsinterne, die bei roten Haaren unweigerlich an Sybille Berg, oder eben an Sascha Lobo denken.

Aber auch Liebhaber des Bleisatzes lesen jetzt Rammstedt, das Konzept scheint also aufzugehen. Leser Onkelvolker schreibt: »Und was den Main anbelangt: An der richtigen Stelle abgeworfen ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht schlecht, dass der Betonsockel gerade reicht, dass der Einbetonierte noch an die Wasseroberfläche kommt« – dieser Hinweis bezieht sich auf den Cliffhanger der Textlieferung, von dem hier nichts verraten werden soll.

Die Kommentare haben im Verlauf des gestrigen Tages ungefähr vierzehn Mal so viel Text produziert wie Rammstedt selbst. Ein Disclaimer weist bereits darauf hin, dass Tilman Rammstedt und der Hanser-Verlag beabsichtigen, die Kommentare auszugsweise in die gedruckte Version des Romanes einfließen zu lassen.

Ich kann mich an eine Redaktionskonferenz bei der Welt am Sonntag erinnern, ist gerade mal sechs Jahre her, da ging es um eine mögliche Digitalstrategie. Der damalige Chefredakteur Thomas Schmid beendete die ausufernde Diskussion mit dem Satz: »Ist ja gut, meine Damen und Herren. Jetzt warten wir es doch erst einmal ab – wir wissen doch gar nicht, ob das Internet nicht vielleicht wieder weg geht.« Daraufhin fuhr ich in die Ferien. Als ich am Pool eines buddhistischen Klosters einen halbnackte Briten beobachtete, der in seinem Kindle schmökerte, ahnte ich bereits etwas. Als ich nach Berlin zurückkehrte, war das Internet immer noch da. Und bei der Welt ein anderer Chefredakteur.