15.10.

Heute vor 40 Jahren schrieb Peter Handke in sein Tagebuch: »Jemand, der mitten im Beischlaf aufhören und ehrlicherweise sagen würde: ›Ich weiß nicht mehr weiter‹«. Ich bin darauf gekommen, also parallel zu den vergehenden Tagen, an jedem Morgen den wie auf einer Umlaufbahn um 2016 korrespondierenden Eintrag im Gewicht der Welt zu lesen, durch eine Bemerkung von Jan. Das war an dem Tag nach der Nobelpreisverleihung an Bob Dylan. Wir hatten anlässlich jener Collage von Clemens J. Setz auf Twitter, für die er die Porträtfotos von Handke und Dylan zu einem Gesicht harmonisch zusammengefügt, so ein bisschen, wirklich nicht allzu sehr überlegt, ob oder wenn doch, welchen Liedtext von Bob Dylan wir denn a) kannten, beziehungsweise im Gedächtnis behalten hatten. Zu einem Punkt b) kam es im weiteren Verlauf der wie gesagt bündigen Diskussion erst gar nicht, weil die von Jan angeführte Zeile aus Mr. Tambourine Man aufgrund des Liedtitels zu einem 90-Grad-Shift im molekularen Gefüge des Gedankenaustauschs führte. Denn nun war mir wieder klar, weshalb ich den frühen Handke, den ganzen Dylan so uninteressant und fremdartig fand: Es war dieses Zirkushafte, das Schwärmen von den Gauklern, den Jongleuren, der Dame mit dem Schlangenleib und den noblen Landstreichern, das mich anwiderte. Jan erklärte das mit den Fünfzigerjahren, mit La Strada, und sah sich selbst auch nicht ganz frei davon.

Na gut, das ist halt, so hätte ich es beschließen können, nicht ganz so meine Szene, nicht meine Generation. Ich habe zum ersten Mal Bob Dylan gehört, in den Neuzigerjahren, als Jochen Distelmeyer noch die Konzerte mit seiner Interpretation von It’s Allright Ma’ (I’m only bleeding) zu beschließen pflegte. In dieser Zeit stand besagtes Album von Dylan, das den Krauskopf selbst und eine Frau in Rot vor dem Kamin im Hintergrund zeigte, ganz vorne in den Plattenstapeln vieler Leute, die ich ab und an besuchte. Später, als Distelmeyer seinen Mash-up aus Rainer Werner Fassbinder und Hannes Wader und Heinz Rudolf Kunze zu verkörpern suchte, hatte ich Bob Dylan schon wieder vergessen. Und zwar rasch und schmerzlos. (Den Remix, den Nicolas Jaar von Love Sick gemacht hat, finde ich noch immer gut.)

Trotzdem aber: Wenn das schon, wenn die La-Stradahaftigkeit und die Kette aus bunten Glühbirnen über allem und die Kritik an der blinden und stumpfen Maschinenhaftigkeit des Geschlechtsverkehrs nicht meine Szene war, allein weil ich etwas jünger, was dann? Ich dachte nach und nach und kam auf kein konkurrierendes Konzept. Wie es aussah, hing meine Szene ohne Chance auf Nobelpreis und ohne Establishment in der sogenannten Luft. Viele waren schon tot, die übrigen sind entweder vergessen, verblasst oder wie Dave Gahan und Robert Smith und Morrissey und Paul Weller und New Order in einer Art Programm für die Rente mit 3000 eingespannt. In derlei Gedanken ging ich auf Rogers Geburtstag, wo ich dann halt auch etwas deplaziert in der Gegend herumstand, was mir aber nichts ausmachte, weil Rogers Wohnung eine schöne, eine der schönsten Gegenden in Berlin ist: Lauter Räume beinahe ohne Möbel, in denen es weihnachtlich roch, weil es Wildschwein gab, das eine feine Orangennote hatte. Ich aß viele Austern und führte drei kurze Gespräche zum Thema, ob es das überhaupt geben kann: zu viele Austern. Dann ging es noch um meinen Milchkonsum. Satt, aber guten Gewissens nach Hause.