15.11.

Es herrschte Feinstaubalarm in Stuttgart. Für die Einwohner hat diese Durchsage auch etwas Gutes, denn während des Feinstaubalarmes darf jeder Erwachsene für den Preis einer Kinderfahrkarte mit der Straßenbahn fahren, bis Entwarnung gegeben wird. Eine von vielen, wie meine Mutter meinte, sehr sehr vielen guten Ideen, mit deren Hilfe Wilfried Kretschmann, der Landesvater Baden-Württembergs aus dem eh schon schönsten Bundesland von allen ein noch schöneres geformt hat. Weswegen es, meinte meine Mutter, auf gar keinen Fall passieren dürfe, dass Wilfried Kretschmann nach dem Schloss Bellevue abberufen wird, um Bundespräsident zu werden. Er wird, sagte meine Mutter, hier nämlich noch gebraucht.

Da saßen wir bereits in der Straßenbahn von Feuerbach zum Fernsehturm hinauf, einer, wie mein Vater es angekündigt hatte: Panoramastrecke, deren Attraktivität uns durch den Feinstaubalarmdiscount nur noch deutlicher vor Augen geführt wurde (aber eigentlich ist die Schönheit Stuttgarts von der Halbhöhenperspektive aus betrachtet schon für sich legendär und bedarf zusätzlicher Booster nicht). Gleich nach dem Bubenbad lichtete sich der Nebel und renovierte Schlösschen aus dem Jugendstil zeigten sich apart und so begehrenswert, wie Häuser halt sein können. Die Wälder ringsum und die Bäume in den steilen Gärten hatten allesamt noch sehr viel mehr an buntem Laub zu bieten, als die Bäume zuhause in Berlin. Als wir an der Endhaltestelle ausgestiegen waren, machte ich meine Eltern auf ein neu errichtetes Haltestellengebilde aus hellem Holz, viel Glas und in türkis lackierten Schrauben aufmerksam und meinte, das sähe selbst mir zu evangelisch aus. Sie nickten, mehr aber auch nicht.

Auf der Aussichtsplattform des Turmes herrschten extreme Temperaturen. Ich beklagte mich, meine Mutter fand es ebenfalls kalt, mein Vater gab mir die Schuld daran, weil ich mich nicht warm genug angezogen hätte. Das rings um die Aussichtsplattform montierte Relief aus Kupfer zeigte sämtliche Sehenswürdigkeiten Baden-Würrtembergs. Geradeaus wies es in Richtung Horb, einem Ort, in dem ich noch nie im Leben war, aber dessen Name bei mir angenehme Empfindungen weckte, weil Friederike dort einmal zu Recherchezwecken hingefahren war, um über das Hotpantsverbot schreiben zu können (im vorvergangenen Nachsommer).

Wir lösten drei weitere Kinderfahrkarten, fuhren in die Stadt hinunter und setzten uns in ein Restaurant.

»Wenn du Eintöpfe magst, kann ich dir den Gaisburger Marsch hier empfehlen«, sagte mein Vater. Seine Verstimmtheit ob meiner zu dünnen Kleidung war längst verraucht. So war das schon immer gewesen. Ich hielt mich an seine Empfehlung und bestellte den Gaisburger Marsch in der von meinem Vater empfohlenen Größe »mittel«. Was der Kellner mit »Ein Seniorenteller, alles klar« quittierte. Dann nahm er die Bestellungen meiner Eltern entgegen und verschwand.

»Was sagt ihr dazu«, fragte ich meine Eltern, also eher meine Mutter, da sich mein Vater leis‘ pfeifend in die Weinkarte vertieft hatte. »Seniorenteller! Also mit 45 finde ich das schon ein starkes Stück.«

»Ärger‘ dich nicht«, sagte meine Mutter. »Der hat es doch gut gemeint.« Um weiterhin völlig unironisch laut nachzudenken »Ich weiß gar nicht mehr genau, wann ich meinen ersten Seniorenteller…«

Beim Essen ging es dann wieder um Wilfried Kretschmann. Beziehungsweise um Schorsch Kamerun, der seit seinem Gespräch mit Wilfried Kretschmann im SZ-Magazin (meine Eltern sind Abonnenten der Süddeutschen) ähnlich hoch im Kurs steht bei meiner Mutter wie der Landesvater. Vor allem seiner kritischen Einlassungen zum Reizthema Stuttgart 21 wegen. Es lag mir sozusagen auf der Zunge, meine Mutter daran zu erinnern, dass ich ihr seinerzeit noch in Hamburg diesen Herrn Kamerun persönlich hatte vorstellen wollen usw., unterließ dies aber ebenso, wie ihr meine Meinung kundzutun, dass ich die Aussagen Kameruns im Gegensatz zu ihr mitnichten als erfrischend empfunden hatte, sondern als geradezu verblüffend deckungsgleich mit denen Botho Straußens oder Erwin Teufels, die sich ja ebenfalls in vergangenen Jahrzehnten zu den Seniorentellerthemen Bundesbahn und Windradstrom kritisch geäußert hatten. Das unterließ ich freilich tunlichst, da es sich in der Wahrnehmung meiner Mutter bei Schorsch Kamerun mittlerweile nicht mehr um einen Prankster oder Punker handelte, sondern um einen ihrer Gunst dem Landesvater Baden-Württembergs Ebenbürtigen; und somit wie gesagt um ein Reizthema.

Der Gaisburger Marsch aber schmeckte ganz wunderbar, da hatte mein Vater schon recht.