15.8.

Extrem schwieriger Tagesbeginn, denn ich hatte noch vor dem zweiten Kaffee gleich Tabassom am Telefon, die mir mitteilen wollte, das Daniel tot ist. Dann weinte sie, ich weinte nicht, ich sagte: »Na ja, das war doch abzusehen.« Sie litt anscheinend um so vieles mehr, dazu kam die schlechte Leitung. Auf Twitter gab es bereits einen Nachruf von Christoph Amend und dazu eine Bildergalerie, man nennt es Rakete, mit den 52 schönsten Werken Daniel Josefsohns aus den letzten 52 Wochen seiner Arbeit für das Zeitmagazin nach dem Schlaganfall. Später noch eine ausführliche Strecke mit den Bildern von ihm in der Margiela-Pailettenhose im Rollstuhl vor der Klagemauer Jerusalems, und ich sagte zu Tabassom, die noch immer weinte: »Guck doch mal, das ist doch auch einfach so, dass die meisten unserer Freunde, und es werden ja nur noch viele mehr werden, die bald schon sterben, also, dass die doch alle was hinterlassen, an dem wir uns weiterhin und noch sehr lange werden erfreuen können. Bücher, Bilder, Kleidungsstücke – stell dir doch mal vor, du wärst mit einem Theaterschauspieler befreundet und dann stirbt der: Vielleicht oder wahrscheinlich wirst du viel zu selten in einem seiner Stücke gewesen sein und dann ist der weg und du hast noch nicht einmal mehr Videoaufnahmen von seinen Auftritten; denn Videoaufnahmen von Theaterstücken sind doch noch schlechter als irgendwas«.

Aber das half alles nichts. Und über den Vormittag hatte ich bald solch eine Menge an Anrufen und Nachrichten von ihr gesammelt, dass mir klar wurde, dass es nun zu einem Treffen kommen müsste, denn in einem Notfall geht halt doch nichts über die reale Anwesenheit. Also trafen wir uns am Nachmittag nach der Arbeit, die ja außerdem noch getan werden wollte, im Café am Boulevard, das mittlerweile gleich um die Ecke ihres neuen Studios gelegen ist, und das, seit es Stefan Landwehr und Boris Radczun in ihr Imperium Punktpunktpunkt.

Und ich sagte: »Guck« — auch oder weil ich gerade mit ganz anderen Schmerzen und Schwierigkeiten zu tun hatte, aber vor allem auch deshalb, weil ich zwar Daniels Arbeit sehr mochte, aber ihn als Menschen, im Umgang sozusagen extrem schwierig, wenn nicht sogar ärgerlich empfunden hatte: »Es gab da diesen Abend, da hatte er schon den Schlaganfall gehabt und ich war gerade aus Afrika zurück in die Choriner Straße gezogen. Da hatten wohl, das hatte ich bei einem abendlichen Spaziergang durch mein neues Viertel festgestellt, zwei Typen aus dem Breisgau in einem der letzten kaputten Häuser eine Kneipe eröffnet mit dem unmöglichen Namen Kapitalist. Ich ging damals dort rein und wollte mit denen was trinken und dabei herausfinden, worum es denen ging, konzeptuell. Aber drinnen war alles voller Blut und voller Glasscherben, denn die hatten wohl während der vorausgehenden Party derart massiv MDMA eingenommen, dass einer der beiden Geschäftsführer, ein bildender Künstler vom Schlage Jannis Kounellis‘, im Rausch durch die Schaufensterscheibe gesprungen war. Und nun saßen sie dort noch im Afterglow beisammen am Tresen und tranken badischen Wein, und sein Unterarm inklusive der Hand des Fenstertauchers war notdürftig mit Draht zusammengeflickt, aber von Blut verkrustet. Und ich fragte: ›Kennt ihr Daniel Josefsohn?‹

Nö.

Ich sagte: ›Macht nix, aber wenn es einen hier in Berlin gibt, der euer doofes Konzept, das ja eigentlich gar keines ist, außer Flaschenbier aufmachen und weiterverkaufen, vergolden kann, dann ist das er«. Und ich rief ihn von dort aus an und sagte: ›Wann könntest Du hier sein – hier sitzt ein Badenser auf MDMA mit grotesk verunstaltetem Arm. Daraus müsste man das Plakat für diese Bar machen.‹

Und Daniel sagte – nein, er schnauzte, denn das war das Unangenehme an ihm, er rief, er befahl und er bestellte und er wollte auch stets und immer viel zu viel Geld: ›Schick mir mal ein Foto, ich will sehen, w i e verunstaltet er ist‹.

So I did. Dann warteten wir. Der Verunstaltete war mittlerweise richtig nervös. Konnte sein, dass sein MDMA-Rush allmählich ein kritisches Level erreicht hatte; es konnte aber auch genau so gut möglich sein, dass er seinen möglichen Aufstieg zur Berliner Nachtlebenikone gewittert hatte und dies zu begehren begann.

Die Antwort von Daniel, so war er halt, bestand vor allem in einem Bild. Die Aufnahme zeigte ihn selbst. Zu sehen war sein Mund, bei geöffneten Lippen. Die Vorderzähne fehlten vorne oben allesamt. Dazwischen viel Blut. Darunter eine Zeile: ›Das finde ich krass, darunter mache ich es nicht‹.

Der Badenser war noch zu bedröhnt, um die Enttäuschung fühlen zu können. Ich verabschiedete mich auch im Namen Daniel Josefsohns, betrat den Laden niemals wieder und er ist, ohne dass ich da irgendwelche Querverbindungen ziehen will, mittlerweile eine der erfolgreichsten, aber auch beschissensten Kneipen in Prenzlauer Berg.«

Als ich somit am Ende einer meiner Daniel-Josefsohn-Anekdote angelangt war, ging gerade die Sonne unter. Wie teilten uns 10 Milligramm Medikinet und bestellten noch mehr Wein. Hinter der Komischen Oper zeigten sich bronzefarbene Flecken, die angeblich Wolken sein wollten, und während wir auf unseren Freund Bert aus Antwerpen warteten, verging noch einige Zeit. Aber auf angenehme Weise.

Als Bert endlich eintraf, waren wir beide längst betrunken. Bert brachte drei orangefarbene Rollkoffer aus Nylon mit und sagte: »Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin, ich habe die letzten Monate in Basel verbracht und Basel ist wirklich die langweiligste Stadt, die ich kenne.«

Und die herrliche Schwerelosigkeit des Alkoholrausches hatte nun auch die Traurigkeit über Daniels frühen Tod längst in jene universelle Melancholie verwandelt, über die man sich ja andererseits auch freuen kann (weil man etwas empfinden kann, das einen zu Tränen rührt). Bert wird jetzt drei Wochen lang in der Bless-Wohnung in der Oderberger Strasse wohnen. Das ist eine Art begehbare Tupperware-Party für den extremsten Mode-Shit, den es so gibt. Bevor ich nach Afrika gezogen bin, hatte Cyril Duval dort diesen Job. Und er hat sich von morgens bis abends alleine betrunken mit einer Mischung aus Wodka und Mineralwasser, in die er einzelne Tränen aus Grenadine fallen ließ, weil ihm sein Gemisch ansonsten zu farblos war. Nie klingelte dort jemand, nie wollte jemand sich von ihm durch die drei komplett mit Bless-Gegenständen eingerichteten Räume führen lassen. Als ich einmal sehr gelangweilt war, kaufte ich ihm die Bettwäsche ab, die, damals neuartig, digital mit einem Schwanensee bedruckt war (inklusive der Schwäne und vor allem: der Wellen). Und ich weiß noch genau, wie sehr sich Cyril gefreut hatte, dass er seine Kreditkartenrutsche zum Einsatz bringen durfte. Und als wir damit kinderpostartig 500 Euro wegrubbelten, sagte er zu mir: »Davon habe ich schon als Kleinkind geträumt.«

Ein paar Tage später schenkte er mir ein ausgeleiertes Sweatshirt in dunklem Rosa, das er von Hand mit Linoleumstempeln bedruckt hatte: Frimaire, Frimaire, Frimaire. Er war zu betrunken, um mir erklären zu können, was es mit dem Slogan auf sich hatte. Alles, was er herausgebracht hatte, war: »Französische Revolution«. Ich hab’s gegoogelt. Danach liebte ich ihn noch mehr.

Das war um die Zeit, als ich mein erstes iPad bekam. Ich weiß noch, dass ich es direkt in diese Bar getragen hatte, in der damals Hedi Slimane auflegte. Und Matthew Evans sagte: »This is the holy grail«. Danach wurde ich vierzig. Und dann, und dann, und dann.