21.11.

In unserer kleinen Künstlerkolonie ist Daniel im Besitz des Druckers. In den letzten Wochen waren wir uns nur noch im Austausch von Dateien gegen Papier begegnet, oftmals hatte er mir die Ausdrucke in den Briefkasten gelegt, weil keine Zeit gewesen war für eine persönliche Übergabe. Im kleinen Café gegenüber, wo wir uns zuvor beinahe täglich begegnet waren, war ich selbst schon länger als zwei Wochen nicht mehr gewesen. Ich wusste, dass auch bei ihm die Phase der Inkubation abgeschlossen und er bis zu seiner Heimkehr nach Los Angeles schwer beschäftigt war, um seine Arbeit fertigzubringen.

Ich hatte gerade die Lektüre des Politikteils beendet und wollte mich dem Aufmacher des Feuilletons widmen, in dem es um eine Ausstellung zum Begriff des Vulgären ging, da tippte er mir von unten an meinen Ellbogen (die Hocker mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz sind hoch eingestellt). Seit mir Daniel erzählt hatte, dass er aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung um bis zu zwei Inches im Jahr schrumpft, kam er mir tatsächlich bei jedem unserer Wiedersehen noch kleiner vor als jemals zuvor.

Er nahm seine Mütze ab. Ich erschrak. »My clock is ticking«, sagte Daniel. Aber das schien nicht auf seine selbst gemachte Kurzhaarfrisur bezogen, es ging da schon um seine drohende Abreise am 17. Dezember, weil dann das Semester der American Academy zu Ende ist. Abermals machte er mir den Vorwurf, ich hätte ihn im August überredet, mit der abschließenden Fotoproduktion zu seinem Ulrike-Meinhoff-Zyklus bis zum November abzuwarten, weil dann von vorn heranpeitschende Regenstürme, nackte Baumgerippe und graue Suppe ihm den deprimierendsten Hintergrund für die Aufnahmen liefern würden. Und jetzt: tja. Blauer Himmel, linde Lüftchen. Bunt waren die Wälder zwar schon, umd der Wind wehte kühler, wie es im deutschen Herbstlied heißt, aber auf seinen Fotos sähe man die Temperatur des Windes halt nicht.

Sorry, sagte ich. Und, das macht ja nicht nur Daniel so, das machen meiner Erfahrung nach sehr viele Amerikaner in einer solchen Situation: Er versicherte mir, das wäre ja nun nicht meine Schuld. Dann sprachen wir über die anstehende Feier des Thanksgiving, für das aufgrund der Bird-Flu-Situation die Truthähne für 150 Gäste der American Academy in der Diplomat’s Pouch nach Berlin eingeflogen werden würden (eingeflogene Truthähne: mise en abyme Fragezeichen), dann noch einmal über seine Frisur und von dort aus war die Rutschbahn hin zu Donald Trump schon eingeseift.

Um es abzubiegen, nahm ich die Zeitung her und zeigte ihm als comic relief das kleine Foto des Goldfasans, dessen Federschmuck ja tatsächlich aussah wie der comb-over des künftigen POTUS. »Hahaha«, machte Daniel. »That’s fantastic!« – »Ja, gell«, sagte ich. »Und hier steht, dass die Geräusche der Goldfasanenstimme von den Ornithologen verglichen werden mit dem Wetzen einer Sense.«

Daniel war der Ansicht, dass es nur eine einzige Möglichkeit gäbe, um seinen zukünftigen Landesvater zu zähmen. Ihm schwebte ein Szenario vor, in dem Donald Trump vor ein Publikum aus internationalen Politikprofis treten müsste, also beispielsweise vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und dort hätte jeder, ob Frau oder Mann, auch die Bodyguards und die Simultanübersetzer in ihren Kabinen, seine Frisur auf. Der comb-over hatte sich ja bereits auf der Canal Street von New York zu einem unheimlichen Verkaufsschlager entwickelt. Und in den Heimatländern der auf der Canal Street Handel treibenden, im asiatischen Raum, wo die Perücken hergestellt werden, ging es vermutlich noch wilder ab. »Jeder sollte diese Frisur tragen«, sagte Daniel. »Jeder Taxifahrer, jeder Kellner, jedermann auf der ganzen Welt.« Daniel hatte Andy Warhol noch persönlich kennenlernen dürfen. Am Rande einer seiner letzten Ausstellungen gab ihm Andy Warhol die Hand. In Pittsburgh, im Andy-Warhol-Museum, in dem ich leider noch nie gewesen bin, wird wohl die Dogge ausgestellt, die Andy Warhol sehr geliebt hat. Als sie gestorben war, ließ Andy Warhol seine geliebte Dogge in sitzender Position ausstopfen und auf ein Brett mit Rollen unten dran montieren. Es gibt wohl sogar kurze Filme aus den letzten Tagen der Factory, da zieht Andy Warhol seine ausgestopfte Dogge auf dem Rollbrett hinter sich her. Ich ließ mir von Daniel erklären, wo Pittsburgh liegt, weil ich davon keine Vorstellung hatte. Amerika ist einfach viel zu groß.

Draußen wurde es allmählich schon wieder düster. »I got to run«, sagte Daniel und setzte sich seine Mütze auf. Da war er schon halb aus der Tür. »Nächstes Jahr in Pittsburgh«, rief ich ihm hinterher.