21.8.

Was dem Berliner Stadtleben seit längerem nur noch in einer aus Nostalgie und Tourismuswerbung gemischter Absicht angedichtet wird, ist in Frankfurt noch von Leben erfüllt - wenn vielleicht auch, wie am vergangenen Wochenende, für ein letztes Mal: Da fand in unserer Wohnstraße das von den Anwohnern veranstaltete Straßenfest statt, das in diesem Jahr unter einem entschiedenen, wenn auch in der Ausführung erfreulich sanftmütig formulierten Motto stand. Nämlich einem Protest gegen die sogenannte Flächenintensivierung des Viertels. Im Zuge derer war der auch von uns ab und an besuchten Müllbar der preiswerte Mietvertrag nicht mehr verlängert worden. In den nach hinten hinaus endlos verwinkelten Räumen wird vermutlich bald schon ein von längst vergessen geglaubten Handwerken, ein von Affineuren, Kleinbrauereien, Rosspflugbauern, Regionalschlachtern und Sauerteigbäckern bestückter Feinkostladen eröffnen. Was, aber das hört man hier freilich nicht gern, auch die Lebensweise der Anwohner heben könnte, denn in der Müllbar, die auch nur an wenigen Abenden im Monat geöffnet hatte, gab es nur Erdnussflips und Bier.

Am Samstagabend wurde dann aber noch einmal gefeiert, wie ich es auch nur aus den Comics von Gerhard Seyfried kannte, wenn dort vom bunten Leben der Anarchisten in Kreuzberg erzählt wurde. Vor dem Eingang zu unserem Haus war eine Hüpfburg aufgebaut, deren Gebläse nervtötend schnaufte, während die Kinder in ihrer Gummizelle herumgewirbelt wurden wie Flummis und dementsprechend quietschten. Für die Erwachsenen, die sich teilweise die Gesichter bemalt hatten, um auf Stelzen umherzugehen, manche Männer dabei als Frauen verkleidet, gab es Stände mit Apfelweinausschank, Bier natürlich, gegrillten Würsten und sogar einen mobilen Dönergrill. Am Ende der Straße war eine Kurmuschel aufgestellt, in der eine Band aus wohl legendären Figuren der Hausbesetzerszene eine interessante Parallelversion der Red Hot Chili Peppers verkörperten. Und zwar traten die ohne einen Bassisten auf, was ja, wenn man sich den Sound der Red Hot Chili Peppers vergegenwärtigt, in etwa den Guns `n Roses ohne Gitarren gleichkäme. Aber gehen tat das. Irgendwie. Den Anhängern dieser Band, die sich teilweise mit einem Kopfputz aus Rettungsfolien und in Regenbogenfarben gebatikten T-Shirts vor der Kurmuschel eingefunden hatten, schien es zu gefallen. Wobei man sich ja leichterdings über die sogenannte alternative Kultur beziehungsweise Kultur von Alternativen lustig machen kann - wenn sie dann erst mal weg ist, beseitigt oder ausgebrannt, fehlt sie halt doch. Ich zumindest fühlte mich auf wärmende Weise an die achtziger Jahre erinnert; an das schöne Lokal namens Casino in Stuttgart, einem Treffpunkt der Bunten Hilfe und an die vielen schönen Begegnungen dort mit den aufgeschlossenen Rastamädchen aus der AntiFa Stuttgart, die mir dort habhaft gemacht worden waren.

Kurz vor Sonnenuntergang entdeckte ich inmitten des Kuddelmuddels einen mit strahlendem Laken bedeckten Tisch, an dem, ich traute zunächst meinen Augen nicht, die Mume präsidierte. Sie erkannte mich gleich und machte mit ihrem vom Henna karottenhaft gefärbten Zeigefinger die international verstandene Geste come hither. Vor ihr auf dem Tisch, der Besitzerstolz war ihr anzusehen, ragte eine frabrikneue Rolle mit Küchenkrepp auf. Im Ständer. Daneben lagen auf mehreren Tellern die mit Spinatcreme gefüllten, mit goldgelben Knusperkrusten verzierten Börekschnecken aufgeschichtet, die sie offenbar selbst gebacken hatte. Zum Zwecke des Verkaufs. Kaum war ich vor ihren Tisch getreten - sie hatte sich für den Abend ein mir bislang unbekanntes Gewand samt Sonderkopftuch übergestreift - trat auch schon ihr ansonsten nichtsnutziger Enkel heran, um mich mit wenigen Worten zum Kauferlebnis zu überreden. Ich schlug klaglos zu. Wurde dann, der in einem Stück Küchenkrepp verpackte Börek war mir da bereits überreicht, von der Mume selbst mit einem bulgarischen Wechselgeldtrick der unbekanntesten Sorte herzhaft übers Ohr gehauen, wie es heißt. Der Börek allerdings schmeckte sehr gut. Beinahe unbezahlbar, von daher glich es sich fast wieder aus.

Wenige Augenblicke später eröffnete eine aus Rumänien stammende Anwohnerin, die kurz zuvor noch die Preispolitik der Mume offen und laut, dabei eine überwiegend mit Goldkronen besetzte Reihe von Vorderzähnen vorzeigend, angezweifelt hatte, auf der gegenüberliegenden Seite der Feierstraße einen Stand mit original rumänischen Grilltellern, die ebenfalls zügigen Absatz fanden. Das Fest schäumte da bereits einem ersten Höhepunkt entgegen. Die bislang vor allem durch ihren Wäscheaufhänge-Grind bekannte Enkelin der Mume schleppte Blech um Blech mit Börekschnecken aus der hinter der Hüpfburg gelegenen Küche der mumischen Wohnung. Die Mume selbst hatte derweil ein Zweitbusiness eröffnet und offerierte in klassischer Pose auf einem über dem Trottoir ausgebreiteten Laken diverse neongelbe und mit Strasseruptionen besetzte High Heels der bulgarischen High-Heel-Manufaktur Muse, sowie einen Stapel jener an den Seiten mit Druckknopfleisten konstruierten Trainingshosen, die im Milieu unter einem unapettitlichen Spitznamen bekannt sind.

So ging es dahin. Einige Spinatschnecken später, unter anderem wurde auch ein rumänischer Grillteller erstanden, an dem insbesondere die hausgemachten Hackwalzen hervorzuheben waren, fing es zu tröpfeln an. Synchron zum Umschwung im Konsumverhalten des Publikums stimmte die Kurmuschel nun die aus Jamaika importierten Reggaeklänge an. Seit uralten Zeiten ist das nun der Sound der Bewegung. Und wird es wohl immer bleiben, solange es die Bewegung noch gibt. Angenehm dumpf, dabei auf beruhigende Weise vorhersehbar und überraschungsfrei wiegte uns ein Frankfurter Peter Tosh mit seinem hessisch gefärbten »Legalize it, don’t criticize it/It’s good for asthma« in den Schlaf.