2.2.

Ich war mit Würsten gekommen. Zwar von der Metzgerei Haas, aber nicht zu vergleichen mit den Kümmelknackern auf unserem Landausflug neulich. Die waren so herrlich trocken und dabei noch zart gewesen. Zumindest in meiner Erinnerung. Und irgendwas fehlte in denen von Haas. Bloß was?

Erik hatte wohl seit einigen Tagen nichts mehr gegessen und fiel dementsprechend über die Würste her. Ihm waren in den vergangenen Wochen noch einige Güsse gelungen, die nun von Strahlern angeleuchtet auf ihren Podesten standen. Pfundweise Zinnsoldaten waren zu neuem Leben erstarrt.

Um uns herum saßen kleine Lichter auf den Kränen vor den Fenstern und blinkten rot. Einst war dies Areal, das vom Hauptbahnhof bis zum Hafen am Fluss und dahinter bis zum Flughafen reicht, von seinem Bebauungszustand her tot gewesen. Verschmäht. Eine Brache, gesäumt von Lagerhäusern und vereinzelten Industriebauten. In den warmen Monaten gab es einige Jahre ein Zirkuszelt. Trauriger Zirkus natürlich. Immer wieder mal hatten Galerien hier versuchsweise den Betrieb aufgenommen, dann wieder eingestellt. Unter Klaus Wowereit hatte es noch Versprechungen gegeben für die Berliner Kunsthalle. Was nun in Wirklichkeit hier gebaut wurde, und die Kräne standen ringsum und in die Tiefe gestaffelt, überall bis hinüber zum Bundeswehrkrankenhaus, dessen mächtiger Schlot um die Mündung herum mit roten Lichtern blinkte, war egal geworden. Angeblich, so hieß es an der Tankstelle, über die es bereits eine eigene Dokumentation auf ZDFinfo gab, handelte es sich sogar um die größte Baustelle Europas. Und hier, also bei dieser Tankstelle, so hieß es dort auf Nachfrage, hatte Brad Pitt einst im Sommer sein Motorrad betankt. Eine schwarze Ducati.

Holzberger erzählte vom vanishing point. Er hatte seine Stimme den weihnachtlichen Lichtverhältnissen angepasst, er sprach gedimmt. Wir saßen um den kleinen Tisch mit den Würsten herum, Holzberger erklärte den Denkfehler der Ingenieure einer ersten Autobahn von Bonn nach Köln, der aus heutiger Sicht betrachtet ein Erfahrungsfehler gewesen war. Man hatte diese Autobahn als gerade Verbindung geplant. Wie einen Strich auf der Landkarte von B nach K. Schon bei der Einweihung kam es zu Unfällen. Aber nicht auf der Bahn selbst, sondern im Abseits. Aus mysteriösen Gründen waren immer wieder Fahrende von der Autobahn abgekommen, und waren über den Grünstreifen ins Off geschnellt. Da es zumeist schwere Unfälle waren, konnten die verunglückten Fahrer nicht mehr nach den Problemen befragt werden, von denen diese Unfälle verursacht worden waren. Auf einer zweiten Teststrecke, Holzberger sprach hier kurzzeitig so leise, dass ich beinahe schon weggenickt war, passierten diese unerklärlichen Unfälle ebenfalls. Man zweifelte an der Richtigkeit der Idee Autobahn an sich, die man mehr oder weniger von der römischen Heerstraße übernommen hatte, gedanklich. Man rief bei Thomas Pynchon an. Quentin Tarrantino schrieb bereits an der Szene einer Nachtfahrt auf der Deutschen Autobahn, die einen langen Dialog zum Inhalt hatte, in der ein Schauspieler dem anderen die Geschichte vom vanishing point erzählte, und die dann freilich ein überraschend blutiges Ende nehmen würde.

Jedenfalls stellte es sich dann heraus, dass das menschliche Gehirn vom Befahren einer strichgeraden Autobahn zwangsläufig ermüdet. Im Auge wird dann ein für die Wahrnehmung vor Windschutzscheiben verantwortlicher Botenstoff rasch aufgebraucht, das Gehirn bekommt keine neuen Informationen, es hält den scheinbar immer gleichen Bildausschnitt für ein Standbild – vergleichbar mit einem Bildschirmschoner – und schaltet sich ab, beziehungsweise geht es auf Standby. Langeweile der Zentralperspektive. Vanishing point.

Holzberger: Die Lösung fanden die Ingenieure in Fahrbahnen, die um einen Radius von zwei Kilometern gekrümmt verlaufen. Durch diese mal nach links, mal nach rechts beinahe unmerklich geschwungen angelegten Autobahnen, gibt es einen sich ständig verlagernden Fluchtpunkt fürs Auge. Die Fahrt durch die Landschaft eröffnet geschwungene Panoramen. So angelegt, wurde die deutsche Autobahn zum unterhaltsamsten Autobahnensystem der Welt.

Besonders schön geführt war die Autobahn, so Heiko Holzberger, auf der Strecke nach Erfurt, dort schwingt sie aus ästhetischen wie Sicherheitsgründen an Weimar vorbei.