23.7.

Vom späten, vielleicht war es auch der mittlere Georges Bernanos, gibt es die Anekdote, dass er, wenn er sich dann mal von seinem Schreibtisch weg in das kleine Café gegenüber geschlichen hatte, nach einem halb ausgetrunkenen Milchkaffee schon eine seiner Töchter zu ihm hinlaufend sah. Die war gekommen, um ihn zu ermahnen: »Vater, denken Sie doch bitte an ihr Pensum«.

Dieses kleine Mädchen kam seit dem vergangenen Sonntag an jedem Tag zu jeder Zeit zu mir gelaufen. Und ich saß doch nie in einem der Cafés. Ich war tief eingesunken in die sogenannte Produktion der Septemberausgabe. Ich las und schrieb. Dann las ich das Geschriebene wieder. Schrieb etwas dazu, oder löschte von den geschriebenen Sätzen gerade so viel, dass ein ausgeglichenes Zeilenbild entstehen konnte. Dann dachte ich über eine sinnvolle Bildunterschrift nach. Oder über eine appetitliche Überschrift. Ab und an sprach ich mit anderen am Telefon. Und stets stand dabei vor mir das Mädchen. Die Tochter von Georges Bernanos, die mich an mein Pensum erinnern sollte. Das Mädchen war natürlich ich selbst.

Nachts, wenn ich träumte, dann träumte ich von formlosen Formen, die so gewaltig waren, dass sie den Raum, in dem ich mich mit ihnen befand, gleichwohl bilden konnten. Ich träumte die Träume von Anish Kapoor.

Tagsüber fühlte ich mich schlecht. Nicht direkt übel, aber so, wie einer der ausblutet. Hilflos schaute der sich dabei zu, ohne auch nur das Geringste dagegen tun zu können. Ich hätte dem Mädchen gegenüber sehr gern etwas entgegengehalten, aber ich hatte doch nichts. Ich dachte an mein Pensum. Aber um es erfüllen zu können, fehlte mir nun endlich wohl die Kraft.

Ich saß oft, oder stand, und wartete auf eine seelische Regung, aber das Feld lag niedergedrückt wie nach einem heftigen Regen. Violette Farben ballten sich dahinter am Horizont.

Nach den Tagen im Wald, wo ich mich von Beeren und Pilzen ernährt hatte (zu Trinken gab es Morgentau und das Wasser aus einem Trog auf der Weide) wurde die Situation aber leider nicht besser. Vor mir lag zwar der Text des Gespräches mit Roehler, aber nun war ich von dem Verdacht wie infiziert, dass er es war, Roehler, der mich mit seiner Schwächung angesteckt hatte, weil auf dem Band ja andauernd von der Hinfälligkeit und der Erschöpftheit die Rede gewesen war. Vor allem waren es aber wohl seine schonungslosen Worte gewesen, die in mir eine Art von psychotischem Erdrutsch ausgelöst hatten, der mir nun das nichtmechanische Schreiben für immer unmöglich gemacht hatte. Das Schreibtier, ein weißer Hase, lag verschüttet unter diesem Haufen. Er war vollends verdeckt worden und atmete nicht mehr.

In der Frühe, längst überwunden geglaubte Sätze tauchten in mir wieder auf und hatten die alte Bedeutung zurückerobert. Vor allem jener aus Faserland, das Buch selbst besaß ich schon seit Jahren nicht mehr, worin sinngemäß stand, dass eines Tages alles aufhören würde, ohne jeglichen Hinweis darauf, warum; ohne einen Grund. Aber auch Thomas Melle, dessen Bild ich in der Zeitung fand, weil er in Bergen-Enkheim zum Stadtschreiber ernannt worden war. Und seine Erzählungen aus dem Reich von Selbsttherapie und Verausgabung, insbesondere seine Zeilen aus einer E-Mail, in der er mir von den Verstopfungen der Kanäle schrieb, durch die der Schreibfluss geleitet werden kann, verfolgten mich jetzt bis in den Schlaf.

Ich machte mir Notizen. Einmal sah ich einen in Stücke gesägten Baum. Die Stücke lagen aufeinandergestapelt am Rand einer Kreuzung. Ein anderes Mal regnete es blitzartig stark, sodass ich gerade noch meine Hand vor den Augen erkennen konnte, aber der Rest von der Welt war wie weggewaschen von einem einzigen Schleier aus Grau. Dann trat ich hinaus vor die Tür und überall waren Menschen, die von einem Festival im Olympistadion in die Innenstadt gespült worden waren. Jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, war über und über mit rosafarbenem und hellblauem Pigmentstaub – wie überbacken. Das Festival war des Regnens wegen abgebrochen worden und nun irrten sie, das MDMA noch im Blut, über die Bahnsteige. Ich hatte ein weißes Hemd zu weißen Hosen an und musste sehr darauf achten, dass mir keine dieser schwankenden Gestalten zu nahe kam. So landete ich bald in einem wie verlassen wirkenden Zug aus Waggons, dem im Depot durch den Regen die Kippfenster aufgedrückt worden waren, dergestalt, dass dort auf dem Boden eine dünne Schicht Wasser schwappte, während die Sitzbänke sich vollgesogen hatten mit den Regentropfen wie Schwämme. Aber keine dieser Beobachtungen löste bei mir die ersehnte Folge von Sätzen aus. Das Feld lag weiterhin wie niedergedrückt. Der Hase hielt still.

Ich dachte, dass ich mich von der Literatur fernhalten müsste. Das war dann ein Gedanke von La Rochefoucauld, den ich mit einem Mal als verinnerlicht erkannt hatte. Kracht Roehler Melle: egal wie ich diese Worte auch hintereinander gestellt vor mich hindachte, sie ergaben doch stets einen auf fürchterliche Weise mich behexen wollenden Spruch. Und dann war da ja noch Rainald Goetz, der einst in der Münchner Schellingstraße 48 zu mir gesagt hatte: »Du darfst auf gar keinen Fall jemals herausfinden, wer Du bist! Sonst ist es mit dem Schreiben vorbei.« Das fiel mir ein in meiner Not und ich dachte: Ist es jetzt soweit? Weiß ich nun endlich wer ich bin, um den scheußlichen Preis, alles, alles andere verloren zu haben?

Gebraucht zu werden ist eine schöne Idee für den Menschen. Wenn man selbst unbrauchbar geworden ist, freilich ganz und gar nicht.