25.5.

Die Frau mir gegenüber hatte sich in eine Ausgabe von Zeit Wissen vertieft, auf deren Titel stand »Wie komme ich voran«, was dann freilich, wir saßen uns in einem Abteil im ICE nach Frankfurt am Main gegenüber, der fullspeed, also mit mehr als 200 km/h durch die leere Landschaft flog, insgesamt ein lustiges Bild ergab. Es war kurz vor halb neun am Abend, das Fensterglas ward gefüllt mit zwei Dritteln Schlachtschiffgrau oberhalb und einer zittrigen Lache aus Blattgold über dem Grund.

Stunden später, da war es längst dunkel, stieg ich aus der klimatisierten Büchs‘ auf den Bahnsteig herunter in das leicht schwüle, vielleicht nur mich an tropische Gefilde erinnernde Lüftchen, von dem ich angeweht wurde, das Leuchten der Türme um Mitternacht und die ein ums andere Mal aufs Neue verblüffend großen Mengen Sperrmüll, die hier in den barocken Gässchen und Gassen der Frankfurter Innenstadt ihrer Abholung harrend vor den Haustüren liegen. Der Spätverkauf hat schon geschlossen, vor der Tür stehen dort zahlreich die letzten Kunden im Dunkeln, ich kann nicht einmal mehr ihre Augen erkennen, es sind Silhouetten, sie unterhalten sich leis‘. Und all dies wird gerahmt oder gefasst von dieser Kulisse aus glitzernden Türmen, die nicht einfach bloß schweigsam sind, sondern majestätisch wirken. Das nächtliche Frankfurt: ein majestätisches Bild.

Am nächsten Morgen sitzt die Mume auf dem Balkon, mitsamt ihren Röcken, im Gesicht eine Sonnenbrille, darüber drei Kopftücher in Smaragdgrün, in Saphir, Quartz und artverwandt kostbaren Farben, sie sieht aus wie Sun Ra. Dem Licht der aufgehenden Sonne hält sie ihre flachen Hände entgegen. Sie betet in der unverständlichen Sprache. Die Mume hat sich den Zoroastern unterworfen. Vermute ich.

Bald wird es noch viel wärmer. Die Fahrt führt im Auto an Wiesbaden vorbei (Henkell trocken) nach Eltville, was sich eleganter liest als spricht (weil man es genauso spricht wie man es liest, also halt nicht français): Mariannenaue, die mythische Insel im Rhein, der sie vor 10.000 Jahren auf einem Bett aus Kalkfelsen geformt hat (aus von den Alpen angeschwemmtem Sand sowie Kies).

Der Kies scheint wichtig, aber auch das Mikroklima inmitten des Flusses. Die Weine werden auf nur 24 Hektar angebaut. Es stimmt übrigens nicht, dass der Jahrgang 2017 gefährdet war oder noch immer ist durch die ungewöhnlichen Fröste früher im Jahr. Der Kastellan des am Ufer errichteten Schloß Reinhartshausen kann darüber bloß noch lachen. Da wurden, so rückt er die Situation zurecht, von den Fernsehjournalisten zumeist einige Mikrogerüchte aufgebauscht und zu Katastrophenszenarien montiert. Doch die Weine des angeblich zur Gänze bedrohten Jahrgangs waren zumindest hier im schönen Rheingau in keiner einzigen der frostigen Frühjahrswochen in ernsthafter Gefahr. Die Natur war hier einfach schon viel weiter als beispielsweise in Berlin: Im Innenhof des Schloßgartens blühten die Pfingstrosen. Das Akaziengrün flirrte digital.

Gern ließen wir uns dort unter dem Sonnensegel nieder und tranken eins der uns empfohlenen Winzerbiere, die mit dem ebenfalls auf der mythischen Insel angebauten Klipphopfen gebraut wurden. Dazu passte eine Fleischwurst im Brotmantel, also mit Brotkrustenkrümeln paniert und in Butter ausgebacken. Dazu Kartoffelsalat. Später noch Tempura aus Holunderblüten. Vollkommener Stillstand am Himmel. Die Wolken lagen aufgereiht nebeneinander wie Zeppeline im Regal.