29.1.

Zwei Tage lang fast nur gelaufen. Durch den Wald, der nur noch aus Stämmen besteht, soweit mein Auge reicht. Im Sonnenschein leuchten sie grünlich golden, sind wie aus Metall gegossen, vor langer Zeit schon, mit einer schönen Patina. Ich dachte unwillkürlich an Fritz Lang mit seinem Dekowald für Die Nibelungen, der nur aus Stämmen ohne Blätterdach besteht (die Kamera schaut nie hinauf in diesem Film), so sah das aus. Die Stämme nur weniger dick oder umfangreich. Aber das Licht ganz genau so wie im Stummfilm. Dementsprechend wenige Waldbesucher. Als fehlten dem Wald momentan die Attraktionen, also meidet man ihn wie einen schlechten Zirkus mit nur einem Kamel (der Elefant ist leider erkrankt).

Für den Wannsee hat es nicht gereicht, auch im kleinen Wannsee treiben nur noch Schollen, die man von Weitem durch das Holz glitzern sehen kann bei entsprechendem Licht. Der Schlachtensee ist zugefroren. Nicht weil er schmaler ist oder weniger tief, er ist stellenweise sogar tiefer, glaube ich, aber vor allem ist es ein richtiger See, wohingegen der Wannsee bekanntlich, wie es bei Rothko (der Band) heißt: Roads Become Rivers, Rivers Become Oceans (Four Tet Remix).

Es ist seltsamerweise niemand anders auf dem Eis. Aus dem Holz ringsum dringen Spaziergangsgespräche. Ich warf einen Scheit, ziemlich dick, dicker als mein Arm, Birke: eine dumpfe Erschütterung, die kaum höher kommt als bis über meine Knöchel. Das Eis ist demnach einen Meter dick oder mehr. Vermutlich. Abdrücke von Schuhsohlen, kleine und große, die Spurrichtung nicht mehr nachzuvollziehen, ein Knäuel in mehreren Schichten übereinander. Bei Virginia Woolf bricht eine Frau mit ihrem Apfelkarren in die erstarrende Themse ein und wird dort, einen Apfel in der Hand, wie um ihn von hinter der Mattscheibe schwebend anzubieten, in dem schwarzen Eis konserviert wie in einem Tropfen Bernstein. Seltsam, dass mich die Furcht erst auf der Mitte des Eises ergreift, als das Ufer, von dem aus ich losgegangen war, genauso weit entfernt ist wie das Ufer, das ich erreichen könnte (und seltsam, dass ich auch in dieser Situation nur ungern denselben Weg zurücknehmen wollte, sondern einen in Anführungszeichen anderen. Den anderen kannte ich ja in dieser Logik gesprochen schon).

Eine Frau, sehen konnte ich sie nicht, bezichtigte mich. Ihr Mann, mindestens ebenso laut, nannte sie Gisela. Und mahnte sie dann noch mehrfach, ihn zu begleiten: Gisela!

Meine Tante heißt so. Ist aber ganz anders.

»Was machen die Enten im Winter«, fragt ein Kind. Berechtigte Frage. Im Zeitmagazin läuft jetzt ein Jahr lang eine Serie, die sich mit dem Thema Fernbeziehung beschäftigt. Eine Fotografin und ein Fotograf geben für jede Ausgabe je ein Foto ab und schreiben dazu ein paar Zeilen. Sie lebt in New York, er in London. Wahrscheinlich habe ich die erste Ausgabe verpasst, in der vielleicht erklärt wurde, wie das zu lesen ist. In meiner Ausgabe schickt er ihr ein Bild eines Frauenhalses mit Perlenohrring, sie ihm das Innere eines Papierkorbes aus gebürstetem Stahl, an dessen Wand verschiedenfarbige Klebebandreste leuchten. Er schreibt von seiner Erinnerung an ihre Schönheit. Sie lehnt seinen Vorschlag, zu ihm zu ziehen, argumentativ sauber begründet ab. Ich bin trotzdem gespannt, wie es weitergeht. Auch weil ich das Buch von Leanne Shapton so gerne mochte mit dem fiktiven Bestand von Fotos und Gegenständen einer Haushaltsauflösung. Zum ersten Mal hatte das freilich Fran Lebowitz gemacht, 1977 in I Cover the Waterfront: da bestand die ganze Seite ihrer Kolumne aus irgendwelchen Gegenständen, einer Herdplatte unter anderem, und im Text hatte sie so getan, als sei sie bereits tot und nun würden ihre Hinterlassenschaften versteigert. Dementsprechend las sich der Text wie einer aus dem Auktionskatalog. Und war, wie sämtliche ihrer Kolumnen, als Protest geplant gegen die von ihr als menschenunwürdig, zumindest schwer erträglich empfundenen Lebensbedingungen einer freischaffenden Schreiberin im Manhattan der Siebzigerjahre.

Die Zeit mit dem Zeitmagazin hatte mir der Zeitungsverkäufer verkauft, der am Donnerstag abends im Zwiebelfisch seine Runde machte. Das gibt es dort am Savignyplatz noch, dass ein Zeitungsverkäufer mit dem druckfrischen Tagesspiegel und der Zeit durch die Lokale geht. Das Wechselgeld war so gut wie gefroren. Als ich ihm Danke sagte, dass er das für uns macht, schaute er mich lange an.